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Allerhand Geister – Die harte Kur – Kapitel II

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Die harte Kur

II.

Er öffnete vorsichtig die Tür und schaute, in der Nische stehen bleibend, durch das Gemach und gegen das Fenster. Es war alles genau wie immer. Die große Stube lag in ihrer steten Ruhe und Sauberkeit vor ihm, die Möbel standen an ihren Plätzen, im zweiten Fenster hing ein blanker Vogelkäsig, aber es war bezeichnend ohne Bewohner. Am ersten ruhte in ihrem kleinen Lehnstuhl Agnes’ Gestalt, die Hände lässig im Schoß, das Haupt leicht geneigt, die Augen auf den Boden gerichtet. Es zeigte sich in dieser Er scheinung etwas, das sie von jedem anderen ruhenden Menschenkind augenblicklich unterschied: die Regungslosigkeit, meinen wir, die auch nicht ein Zeichen des Lebens sichtbar werden ließ. So totenhaft, müssen wir sagen, war freilich auch der Eindruck des ganzenZimmers. Es regte sich kein Laut in ihm. Es summte nicht einmal eine Fliege.

Sie schien die Annäherung einer anderen Person gar nicht bemerkt zu haben. Die Thür öffnete sich freilich in einer gewissen Übereinstimmung mit der Stille des Gemachs, ohne irgendein Geräusch. Er schritt, nach einer Pause des schweigenden Beobachtens, die Tür hinter sich ins Schloss ziehend, vorwärts und durch den Raum mit einem, man möchte sagen ruhigen Schritt, als scheue er, die Träumende durch eine rasche und leb hafte Annäherung aufzuschrecken, allein das geschah auch nicht, als er hart neben ihr stand und sie mit einem langen, forschenden und mitleidsvollen Blick musterte.

Er legte seine Hand auf ihren Kopf, den nur das feine und reiche, noch immer dunkle Haar schmückte. Indem in sein Auge plötzlich etwas wie eine ernstliche Besorgnis trat, fragte er nicht laut, mit großer Herzlichkeit: »Bist du unwohl, Agnes?«

Da erst wandten sich ihm die Augen der Ruhenden zu, aber nur, um schon in der nächsten Sekunde sich wieder der früheren Richtung zuzuwenden. Und mit erschreckender Gleichgültigkeit oder vielmehr Tonlosigkeit versetzte sie: »Nicht doch. Lieber. Ich bin nur still und ruhig – es tut mir so gut.«

»Und doch«, sagte er mit der gleichen Herzlichkeit des Tons, »wenn du es nur einmal wieder mit ein wenig Bewegung versuchen wolltest! Sieh, es ist eine so wundervolle Zeit! Alles ist draußen voll Licht und Glanz, alles ist im Grünen und Erblühen, alles voll Sang und Klang. Hier in der räucherigen Straße freilich merkst du nichts davon. Aber draußen, liebes Herz, draußen, in Feld und Wald …«

»Quäle mich nicht«, unterbrach sie ihn, ohne aufzublicken. Auch ihre Stimme klang genau wie vorhin. »Du weißt ja, ich habe keine Freude mehr. Lasse mich ruhig hierbleiben.«

»Ich habe vorhin einen Brief von deiner Mutter erhalten«, redete er mit einem betrübten Blick und einem kaum merkbaren Kopfschütteln von Neuem. »Auch dein Vater hat ein paar Worte hinzugefügt.«

Da sie langsam die Augen erhebend, mit einer Art von Teilnahme sagte: » Es steht doch gut?«, fuhr er in einer Weise fort, die seine volle Befriedigung über die Wirkung seiner Mitteilung verriet.

»Ja, Agnes, das tut es wohl. Allein des lieben Alten Kräfte scheinen doch bedenklich nachzulassen. Die Mutter äußert sich nicht ohne Besorgnis. Sie schlägt uns vor, jetzt in der schönen Zeit auf ein paar Tage hinauszukommen, damit man sich doch noch einmal sehe, Agnes.«

Sie sah den Gatten nachdenklich an, schüttelte aber gleich darauf mit einem Ausdruck von Müdigkeit und Resignation den Kopf, ohne etwas zu erwidern.

»Ich sage dir, liebes Herz, es ist draußen wunderschön. Schon die Luft macht einen gesund und heiter«, redete er wieder. »Ich kann mich gerade jetzt leicht auf acht oder vierzehn Tage freimachen. Der lieben Alten Wunsch nach einem Wiedersehen ist ein so sehr natürlicher. Wir sahen uns lange nicht, und bei des Vaters Jahren sollten wir wirklich nicht zu lange säumen. Versuch es, Agnes!«, sprach er herzlich weiter. »Wir machen ihnen eine große Freude …«

»Ich?«, unterbrach sie ihn mit jenem Ausdruck von einer, jetzt fast finsteren Resignation. »Ich mache niemand mehr Freude.«

»Agnes!«, sagte er vorwurfsvoll.

»Ja du, du hast Nachsicht mit mir und Geduld«, sprach sie. Zum ersten Mal zeigte sich in ihren Zügen etwas wie eine leise Bewegung und etwas Gleiches zitterte auch aus ihrer Stimme. »Du kennst mich in meiner Armut und hast mich doch immer lieb, du bist auch ein goldenes Herz. Aber die anderen …«

»Schäme dich, Agnes, schäme dich!«, fiel er ein. Wie wenig Gutes auch ihre Worte im Grunde enthielten, dennoch machten sie ihn beinahe froh. Denn seit Wochen hatte die Arme nicht so viel und so eingehend gesprochen. »Deine Eltern haben dein Misstrauen am wenigsten verdient, ihre Liebe hat dir niemals gefehlt. Also noch einmal, gib mir nach! Es tut dir sicher gut. Der Doktor, der vorhin eine Minute bei mir einsah und davon erfuhr, denkt wie ich. Er kommt nachher noch zu dir und wird es dir selbst sagen. Und denke daran, wie schön es jetzt bei euch sein muss: Die Buchen sind grün, der Waldmeister duftet und die Maiblumen blühen. Dein Lieblingsplätzchen unter der Eiche am lustigen Bach, weißt du noch, Agnes, ist sicher niemals reizender gewesen! Lockt es dich nicht?«

Sie hatte die blasse Wange in die Hand gelegt und auf seine Worte, wie man wohl hoffen durfte, wirklich gelauscht. Die Starrheit hatte sich aus ihren Zügen verloren, ja ihre Augen glänzten feucht. Und dennoch murmelte sie nach einer Weile nur: »Wenn ich mich nur noch freuen könnte, Fritz!«

Er trat rasch vollends zu ihr und beugte sich über sie. »Und das kannst du mir noch sagen?«, rief er voll Innigkeit aus. »Jetzt, wo meine schlichten Worte schon dich so bewegt haben und die Erinnerung dich so tief ergreift? Komm, Agnes, komm! Versuche es nur einmal, wieder ein wenig froh und glücklich zu sein! Du wirst schon sehen, wie du dich noch freuen, wie glücklich du die deinen machen kannst.«

Nach einem langen und tiefen, wehmutsvollen Blick zu ihm empor, hatte sie den Kopf an seine Brust gelegt und saß, von seinem Arm leicht umfasst, stumm und horchte auf seine herzlichen, ermutigenden Worte. Die Tränen kamen nun wirklich, sie füllten ihre Augen und glitten leise unter den langen Wimpern hervor.

»Du bist so gut, so gut gegen mich, Fritz«, flüsterte sie endlich mit von tiefer Bewegung durchzitterter Stimme. »O, dass ich es dir so wenig zu lohnen vermag! O, dass ich es so wenig verdiene! Wenn ich nur die Angst …« Es flog ein Zittern durch ihren Körper. »Die schreckliche Angst …«

Er drückte, wie um sie zu schützen, ihren Kopf fest an seine Brust. »Sei verständig, Kind!«, sprach er dabei in beschwichtigendem Ton. »Erkenne nur einmal deine sogenannte Angst als ein leeres Phantom, das beim festen Anschauen verschwindet! Fasse nur einmal wieder Mut! Habe nur einmal den festen Willen, wieder gesund und ein wenig froh zu sein! Es geht sicher, mein armes Kind, sicher! Gerade deine heutige Bewegung bürgt mir dafür, dass wir noch schöne, glückliche Tage erleben sollen. Komm!« Und indem er ihren Kopf anhob und mit seinen Lippen leicht die tränenvollen Augen streifte, fügte er ermutigend hinzu: »Tritt einmal wieder mit frischem Schritt in die Gegenwart. Ich will dir die Karoline schicken, dass du mit ihr das Packen beredest. Richte es für dich und mich recht voll ständig ein, denn, wie ich schon sagte, vierzehn Tage habe ich frei. Morgen ganz früh geht es fort. Wenn wir von L. aus die Bahn benutzen, können wir abends bei den deinen sein. Denke an die Überraschung und Freude der Eltern, deiner Schwester …«

»Will denn Sophie auch kommen?«, fragte sie fast mit Lebhaftigkeit. Sie war während seiner Worte aufgestanden und hatte den Kopf erhoben. Es war wirklich Leben in ihrem Gesicht, ja es ging bei ihrer Frage etwas wie ein helles Aufleuchten durch ihre Züge.

»Ja, natürlich kommt sie!«, sagte er ganz froh, denn wie es gewöhnlich mit der armen Frau zu stehen pflegte, durfte ihn, was er eben sah und hörte, wohl beglücken.

»Und siehst du wohl, dass du dich noch freuen kannst? Also frisch, frisch, meine Alte, und ein wenig Courage! Ich muss jetzt hinunter, dass die Post fertig wird. Aber ich werde so früh, wie mir möglich, wieder heraufkommen. Lasse mich dich so gut wiederfinden!«

Sie bot ihm die Hand und in ihrem Auge zeigte sich ein leises, weiches Lächeln. »Ach, Fritz, wenn ich nur einmal recht Mut fassen, recht vertrauen könnte! Es ist so schön, gesund und mit dir glücklich zu sein!«, sprach sie. Aber in den letzten Worten zitterte schon von Neuem die alte Wehmut.

»Es wird, es wird, meine liebe Alte! Mache dich nur nicht wieder weich«, sagte er herzlich, indem er den Arm um sie legte und seine Lippen zum warmen Kuss auf die ihren heftete. Und sich abwendend, nickte er ihr heiter zu und ging zur Tür.

Aber er hatte dieselbe noch nicht erreicht, als Agnes wilder Aufschrei sein Herz stocken ließ und ihn so schnell wie möglich zu ihr zurücktrieb. Sie stand noch auf dem alten Platz, aber gegen das Fenster gekehrt und die ausgestreckte Hand auf dieses gerichtet.

»Agnes!«, rief er und war neben ihr. Und da wandte sie sich um, warf die Arme um ihn und presste ihr Gesicht an seine Brust. Alles an ihr bebte und zitterte.

Kaum verständlich stammelte sie: »Kein Phantom! Wahrheit, Wahrheit! Rette mich, Fritz! Rette mich!« Damit vergingen ihr die Sinne und sie hing schwer und leblos in seinen Armen.

Sein erster Blick war ihrer Hand nach, auf die Häuser gegenüber, auf die Straße hinab geflogen, als müsse er dort finden, was diesen schrecklichen Zufall hervorgerufen haben könne. Aber er bemerkte nichts, was ihm aufgefallen wäre. Und nun war all seine Aufmerksamkeit und Sorge auch schon durch die Ohnmächtige in Anspruch genommen. Er ließ sie auf ihren Stuhl niedergleiten und eilte zum Klingelzug, um Hilfe herbeizurufen. Er war wieder neben Agnes und trug sie mit dem hereinstürzenden, jammernden Mädchen in das angrenzende Schlafzimmer und auf ihr Bett. Er eilte ins untere Haus hinab, um nach dem Arzt zu schicken, war von Neuem droben und beobachtete mit tödlicher Angst die noch immer Bewusstlose und harrte mit qualvoller Ungeduld auf den Helfer.

Dennoch war es nicht bloß ihr gegenwärtiger Zustand, der ihn folterte. Nein, was er eben gesehen, gehört, erlebt hatte, erfüllte ihm Herz und Kopf mit nie gekannter Qual und Sorge, mit den peinlichsten Fragen. Es erhob sich vor ihm wie ein gespenstiges Etwas – so hatte ihre Angst dennoch einen Gegenstand? So war das Phantom dennoch kein Phantom, sondern wie sie selber klagte, schreckliche Wahrheit? Ihr Leben hatte bisher so klar vor aller Augen zu liegen geschienen, so völlig offen, wo ihr Verkehr, ihre Verbindungen und Beziehungen mit und zu den übrigen Menschen in Frage kamen. Und nun mit einem Mal wurde dennoch ein Geheimnis bemerklich. Mit einem Mal dämmerten Beziehungen, ja vielleicht ein Konflikt auf, die leider nicht bloß innerliche geblieben zu sein schienen, sondern auch ihr ganzes äußeres Leben, ihre gesamte Existenz erschüttert hatten oder erst zu erschüttern drohten.

War etwa während jenes Aufenthalts bei der Freundin dennoch etwas geschehen? War dem Ausbruch jener furchtbaren Krankheit dennoch etwas vorausgegangen, von dem niemand jemals außer der zunächst Beteiligten etwas erfahren hatte? Und hatte dieses Etwas, trotz der schrecklichen Wirkungen auf die Ärmste, so viele Jahre lang völlig verborgen bleiben können, wie es hier der Fall zu sein schien? Weder die Eltern noch Willmann, weder die Freunde und Verwandten noch die Ärzte hatten jemals die leiseste Andeutung von dem Vorhandensein solcher Beziehungen und Einflüsse erhalten. Nie hatte Agnes durch irgendeine Äußerung, eine Bewegung, durch irgendein Zeichen verraten, dass die Anfälle von Angst und Entsetzen, welche sie in den kranken Tagen von Zeit zu Zeit überwältigten, mehr seien als Ausgeburten eben der Krankheit.

Der Arzt kam, die Ohnmacht machte dem wiederkehrenden Bewusstsein Platz. Aber eine Erklärung desGeschehenen erhielt man von Agnes trotzdem nicht. Sie war nicht bloß klarer, sondern alsbald auch kräftiger, als man es irgendwie hatte hoffen können, während ähnliche, doch bei Weitem schwächere Anfälle bisher stets die tiefste Abspannung und Versunkenheit zur Folge gehabt hatten.

Von irgendeiner äußeren Veranlassung des Zufalls wollte sie nichts wissen. Es habe sie eben ein Etwas übermannt, für das sie keine Bezeichnung, keine Erklärung kenne, gab sie an. Nur das eine wisse sie, dass es sie gewaltsamer und erbarmungsloser gepackt habe als je zuvor. Sie habe geglaubt, vor Entsetzen sterben zu müssen.

Sie kam bei diesen Angaben aber schon von Neuem in einen Zustand der Aufregung, der den Arzt rasch von dem unglücklichen Thema abbrechen und ihrer Umgebung die äußerste Schonung anempfehlen ließ. Gegen die beabsichtigte Reise, nach der Agnes mit ungewohnter, krankhafter Lebhaftigkeit verlangte, schon der leise Versuch des Gatten, die Fahrt bis zu ihrer größeren Kräftigung zu verschieben, brachte Tränen in ihre Augen und zeigte sie von Neuem von einer Art peinvoller Angst erfasst. Gegen diese Reise sagen wir, hatte der Arzt nichts einzuwenden. Im Gegenteil, er hoffte von ihr die günstigste Wirkung auf die Leidende.

Die Nachforschungen, welche Willmann für sich trotzdem anstellte, blieben erfolglos. Von seinem Kontorpersonal, unter dem doch wohl mehr als einer zu finden war, der seine Augen nicht bloß zur Arbeit, sondern auch zu einem gelegentlichen Blick auf die Straße gebrauchte, wollte niemand dort zu dieser Zeit etwas Besonderes bemerkt, unter den Vorübergehenden eine fremdartige Erscheinung wahrgenommen haben. Nichts anderes konnte der Hausknecht angeben, der grade auf dem Hausflur beschäftigt gewesen war, ja unmittelbar, bevor sein Herr die Treppe herabkam und ihn zum Arzt schickte, an der offenen Haustür mit einem Bekannten geplaudert hatte.

Der alte Pensionär endlich, der in einem der gegenüberliegenden Häuser wohnte und, wenn er daheim weilte, stets am Fenster saß und das Straßenleben beobachtete – er war ein langjähriger, genauer Bekannter der Willmann’schen Familie – wollte zwar zwei ihm unbekannte »Herren« bemerkt haben, welche vom Tor heraufkommend, mit anscheinendem Interesse das Haus des Handelsherrn betrachtet und auch zu Agnes’ Fenster hinaufgeschaut hätten, an dem die Dame eben stand. Allein der alte Herr legte selber keinen Wert auf diese Beobachtung. Fremde gab es in der Stadt immer in ziemlicher Anzahl, der Verkehr in der Fährgasse war bekanntlich stets ein lebhafter, und die stille, schöne Frau an dem überrankten Fenster war, wie wir erfuhren, eine Art Wahrzeichen der Stadt, von dem selbst Fremde gelegentlich einmal erfahren mochten. Abgesehen von diesem allem waren die beiden »Herren« aber auch in keiner Weise, wenn nicht eben als unbekannte Erscheinungen, auffällig gewesen. Der Alte glaubte nicht, dass er sie wiedererkennen würde.

Trotz alledem vermochte sich Willmann nicht zu überreden, dass das bestürzende Ereignis nach dem Glauben des Arztes und nach Agnes’ eigener Behauptung, bloß als eine, nur heftiger als gewöhnlich auftretende Krankheitserscheinung aufzufassen sei. Dagegen sprach in ihm, ohne dass er freilich diese Empfindung recht zu begründen vermochte, selbst die anscheinend ungewöhnlich günstige Änderung in dem Befinden der Gattin, die verhältnismäßige Kraft und Frische, mit der sie sich an den Reisevorbereitungen beteiligte, die Teilnahme oder vielmehr wirkliche Freude, welche sie über das Wiedersehen der ihren äußerte. Das schien ihm viel zu gut zu sein, um es für natürlich halten zu dürfen. Er fand vielmehr darin etwas Fieberhaftes, etwas wie eine mühsam verhehlte neue Angst, fast, als denke und treibe sie fort, nur fort von der Stätte, aus der Umgebung, wo ihr ein so tödlicher Schrecken geworden war!

In solchen Gedanken und Empfindungen, oder richtiger gesagt, voll solchen Misstrauens, wo er unter anderen Umständen sicher nur mit frohem Vertrauen einer besseren Zukunft entgegen geschaut hätte, verließ er sie, häufig ab- und zugehend, gegen Abend endlich für längere Zeit, um nach den eingegangenen Briefen und den Zeitungen zu sehen, die seit dem Morgen noch unberührt auf seinem Schreibtisch lagen. Sie entließ ihn sichtbar ungern und nur gegen das Versprechen, sobald wie ihm möglich zu ihr zurückzukehren.

»Wir sind mit dem Koffer gleich fertig«, sagte sie mit einer Innigkeit, wie er es seit Jahren nicht vernommen zu haben meinte. »Dann bin ich frei und will dich bei mir haben. Mir ist, als hätten wir uns seit langer, langer, trauriger Zeit nicht gesehen und unendlich viel nachzuholen!«

Er nickte ihr, so freundlich er es vermochte, zu und ging mit vermehrtem Misstrauen. Wollte sie ihn nicht etwa nur zum Schutz, zur Hilfe in ihrer Nähe haben gegen jene geheimnisvolle Gefahr? Hatte sie doch auch in jenem ersten Moment des Entsetzens so nach ihm gerufen! Und sie hatte dennoch keine Erklärung?

Zerstreut nahm er seine Lektüre vor und setzte sie ohne Aufmerksamkeit fort, bis sein Auge zufällig – denn für gewöhnlich las er diesen Abschnitt niemals – unter den »Vermischten Nachrichten« auf einen Artikel fiel, wo ihn die angegebenen Ortsnamen überraschten und zum eifrigen Weiterlesen veranlassten.

»In dem, zu der nahen Herrschaft Wolfertshausen gehörenden Wald«, schrieb man von einer kleinen hessischen Stadt aus, »haben Arbeiter bei Anlegung eines neuen Grabens eine, vielleicht folgenschwere Entdeckung gemacht. Unter einer ganz oberflächlichen Moos- und Rasendecke stießen sie auf wohlerhaltene menschliche Gebeine, neben denen sich sogar noch Bruchstücke der Kleidung fanden. Sie gehören zu einem Anzug, wie ihn die weibliche Landbevölkerung unserer Gegend trägt, und die Ärzte erklären den Körper wirklich für einen weiblichen und zwar jugendlichen, der seit fünfzehn bis sechzehn Ihren an dieser Stelle verborgen gewesen sein möge. Dies alles stimmt auf das Genaueste zu einem Vorfall, der zur angedeuteten Zeit, d. h. im Jahre 1826, die Umgegend in Aufregung versetzte. Die durch ihre Schönheit bekannte Tochter des Müllers Volkmann auf der sogenannten Vogelsmühle ging an einem Herbsttag jenes Jahres von Zuhause fort, um eine Verwandte im nächsten Ort zu besuchen, stellte sich jedoch bei dieser nicht ein und blieb spurlos verschwunden. Man riet damals allerdings auf einen Selbstmord oder ein Verbrechen. Da man aber weder für den einen noch für das andere den geringsten Anhalt fand, wurde die Untersuchung endlich ohne Resultat geschlossen, um erst jetzt von Neuem, und wir hoffen, mit größerem Ernst aufgenommen zu werden, als es damals der Fall gewesen zu sein scheint. Leider hat sich in unserer Gegend durch Epidemien und Auswanderung vieles verändert. Von den Angehörigen des Mädchens lebt nur noch ein Bruder, der damals obendrein gar nicht in der Heimat war. Vielleicht ruft aber unsere Mitteilung in Ihrer weitverbreiteten Zeitung bei dem einen oder anderen früheren Bewohner der Umgegend Erinnerungen wach, welche selbst jetzt noch von Wert sein könnten. Man hat sich damals merkwürdig wenig um Zeugen bemüht, und freiwillig geht unser Volk bekanntlich nicht vors Gericht.«

Der Handelsherr hatte den Artikel mit einer, sich stets mehr verfinsternden Miene gelesen und sich damit anscheinend dennoch nicht genug getan. Denn nachdem er das Blatt für einen Augenblick hatte sinken lassen, hob er es alsbald wieder auf und las von Neuem, die sonst fast immer heitere Stirn in schweren Falten, mit womöglich noch gesteigerter Aufmerksamkeit, und blickte fast zürnend auf, da plötzlich an die Tür geklopft und diese auch schon geöffnet wurde. Der Anblick des eintretenden Arztes verscheuchte indessen das Zürnen und ließ Willmann sich rasch erheben.

»Wie steht’s mit der Frau Gemahlin?«, fragte der Arzt.

»So gut, wie irgend denkbar, glaube ich«, versetzte der Handelsherr. »Sie werden das jedoch selber beurteilen. Zuvor aber, Doktor, Sie kommen wie gerufen!«, fuhr er mit bemerkbarer Hast fort und hob die Zeitung hoch. »Ich habe hier eben etwas gelesen, das vielleicht im Zusammenhange mit Agnes’ Zustand steht, ja uns möglicherweise den Schlüssel zu diesem ganzen unglückseligen Geheimnis liefert! Lesen Sie, lesen Sie aufmerksam! Dieses hier!«

Der Arzt schüttelte den Kopf. Die Aufregung des sonst so gleichmäßigen und freundlichen Mannes musste ihn kaum weniger überraschen, als diese angebliche Entdeckung. Er nahm indessen ohne Bemerkung das Blatt und las, zum Fenster tretend. Denn es dämmerte schon. Mehr als einmal erhob er während seiner Lektüre das Auge mit fragendem Blick zum Hausherrn.

Aber erst als er fertig war und das Blatt sinken ließ, sagte er hörbar ungläubig: » Da muss ich Sie doch um nähere Erklärung bitten. Mir wenigstens ist der Zusammenhang zwischen dem Leiden Ihrer Frau und diesem angeblichen Verbrechen durchaus nicht verständlich.«

»Auch ich sehe diesen Zusammenhang nicht, Doktor«, versetzte Willmann noch immer erregt, »sondern ich ahne ihn nur, ich wittre ihn, wenn Sie so wollen! Geben Sie acht; zu Wolfertshausen weilte Agnes im Sommer und Herbst 1826 bei ihrer Jugendfreundin, der Frau von Rehbeck. Aus dem Wald, in dem man jetzt das Grab gefunden hatte, kehrte sie an jenem Herbstabend in der Betäubung zurück, mit welcher ihre schwere Krankheit begann. Trotz mehrfacher zärtlicher Einladungen wollte sie niemals wieder etwas von einem neuen Besuch bei der Freundin wissen. Die lehnte es stets mit einer Art von Heftigkeit ab, wie sie sich denn auch jedem Gespräch über das Damals so kurz wie möglich entzog. Halten Sie dies alles zusammen, wäre es so ganz undenkbar, dass …«

»Lassen Sie, lassen Sie! Ich verstehe Sie jetzt«, unterbrach ihn der Arzt beschwichtigend. »Es wäre ja allerdings denkbar, wenn auch kaum glaublich, dass sie, eine zufällige Zeugin der vorausgesetzten blutigen Tat, durch dieselbe bis zum Unterliegen erschüttert wurde und bis heute unter den Nachwirkungen litt. Denkbar, wiederhole ich, aber nicht glaublich! Zumal nicht in Ansehung ihres völligen Schweigens über eine solche Begebenheit. Sie war doch lange Zeit gesund und klar genug, um zu begreifen, dass die Mitteilung an die ihren nicht nur ihre Pflicht sei, sondern sie auch erleichtern werde. Und endlich, wie erklären Sie einen Zufall wie den heutigen …«

»Was meinen Sie, Doktor«, schob Willmann finster blickend ein, »wenn sie nun plötzlich durch irgendetwas oder durch irgendjemand an jene schreckliche Stunde ihres Lebens erinnert worden wäre …«

»Willmann, Willmann!«, rief der Arzt ernst mahnend aus, »hüten Sie sich vor solchen ganz widersinnigen Kombinationen! Sie können selbst dem gesundesten Kopf gefährlich werden!« Und auf des Hausherrn gepresstes Sie haben gut reden! Agnes leidet allzu schwer, als dass ich nicht mit Leidenschaft nach irgendeiner Erleichterung ihres Zustandes suchen sollte!, fuhr er mit unvermindertem Ernst fort: »Wenn Sie meinem Rat folgen wollen, müssen Sie vor allen Dingen erst selbst wieder ruhiger werden und die Sache mit kaltem Blut betrachten. Ich wette, Ihr Zusammenhang verschwindet dann.«

Willmann ging auf und ab. »Ich habe daran gedacht, dieses Blatt von ihr gleichsam zufällig finden und lesen zu lassen und dann die Wirkung zu beobachten«, sagte er wieder stehen bleibend und indem er fragend zum Arzt aufblickte.

»Mit meinem Willen auf keinen Fall!«, sprach der Doktor bestimmt.

»So muss ich zumindest nach dem Tag forschen, an dem Agnes krank wurde, und ob er mit demjenigen des mutmaßlichen Verbrechens zusammentrifft.«

»In Gottes Namen«, meinte der Arzt mit halbem Lächeln. »Einem Kranken, wie Sie mir beinahe einer zu sein scheinen, muss man ein wenig freien Willen lassen. Er kommt dann am schnellsten wieder – nichts für ungut, Willmann! – zur Besinnung. Nur Ihre Frau bleibt fürs Erste völlig aus dem Spiel. Und nun lassen Sie uns hinaufgehen und geben Sie die Grillen auf.«