Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Spion – Kapitel 7

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 7

Die Geschwister

Was in den Zügen der beiden jungen Männer sich offenbarte, das tönte nicht minder deutlich aus der Stimme des Älteren hervor, als er auf die in englischer Sprache gestellte Frage nach ihrem Begehr mit schlecht verhehltem Widerstreben in gutem Deutsch antwortete: »Haben wir die Ehre, den Herrn Martin Findegern zu begrüßen?«

»Ob das eine Ehre ist, weiß ich nicht«, versetzte Martin, ohne seine Stellung zu verändern. »Wenn ihr aber eurer Mutter Bruder, den Tischlermeister und Sargfabrikanten Martin Findegern sucht, so steht der allerdings vor euch.« Er kniff das eine Auge zu, was am wenigsten zur Verschönerung seines Gesichtes beitrug, und prüfte mit dem anderen blinzelnd die jungen Leute vom Kopf bis zu den Füßen. Deren von verheimlichtem Unwillen getragene Verlegenheit gewahrend, fügte er herablassend hinzu: »Ich wiederhole es, euer eigener Onkel ist es, der vor euch steht, und ich kalkuliere, dass, wenn ihr es für der Mühe wert hieltet, ihn in seiner Werkstatt aufzusuchen, ich meinerseits verpflichtet bin, euch als Neffen und Nichte willkommen zu heißen.« Damit drückte er ihnen der Reihe nach die Hand.

»Sie können uns unmöglich erwartet haben«, verlieh der Älteste der Geschwister, ein vielleicht sechsundzwanzigjähriger, schlank gewachsener Mann mit wohlgebildeten offenen Zügen, seiner ersten Überraschung Ausdruck, als Martin lebhaft einfiel: »Bless you, angemeldet wurdet ihr durch keinen anderen, als vor einer Minute durch meinen Hobel. Das ist nämlich der Hund hier, nebenbei ein Tier von solch vorzüglichen Eigenschaften, dass mancher Mensch von ihm lernen könnte. Aber ich müsste blind sein, wie die Astaugen in einem frisch gehobelten Brett, entdeckte ich nicht an jedem von euch eine Kleinigkeit, die mich an eure Mutter, meine brave Schwester, verehelichte Geheimrat Durlach gemahnte. Doch hier draußen ist kein rechter Ort, nahe Verwandte zu empfangen. Kommt zur Veranda hinauf, da stehen Tisch und Stühle. Nachher mögt ihr mir in aller Gemächlichkeit euer Anliegen anvertrauen. Denn ein Anliegen habt ihr oder ihr hättet euren Weg nicht hierher genommen.« Dann rief er über die Schulter in die Werkstatt hinein: »Herr Doktor, Sie sind wohl so gefällig, der Kleopatra zu sagen, sie möchte Bier und Gläser zur Veranda herausbringen, wozu auch Sie uns allen herzlich willkommen sind.« Wieder verschmitzt blinzelnd zu den Geschwistern: »Eigentlich heißt unsere schwarze Aufwärterin Susann, aber der Doktor meinte, der Name Kleopatra passe besser zu dem schwarzen Gesicht, da tauften wir sie um.« Seinen Gästen voraus der Veranda zuschreitend, fuhr er bissig redselig fort. »In dem Herrn Doktor Arminius Krehle werdet ihr nicht nur einen getreuen, verträglichen und liebenswürdigen Freund kennenlernen, vor dem ich keine Geheimnisse habe, sondern auch ein furchtbar gelehrtes Haus. Das ist nichts im Vergleich mit seinem Malertalent, wie ihr überall hier sehen könnt.« Er schwang die Hand im Kreis. »Bless you! Wenn der den Pinsel in Bewegung setzt, ist es, als ob alles lebendig unter demselben hervorglitte.«

Er war vor der Veranda eingetroffen.

Jetzt erst, als er sich zu den Geschwistern umkehrte, nahm der jüngere Bruder, ein ungewöhnlich kräftig gebauter und trotzig dreinschauender blonder Bursche mit blauen Augen und rötlichem Vollbart, Gelegenheit, kalt zu bemerken: »Bemühen Sie Ihre Leute nicht. Wir bedürfen keiner Erfrischung.«

»Nicht?«, fragte Martin, dem jungen Mann einen wunderlich bösen Seitenblick zuwerfend, worauf er die acht Stufen zu ersteigen begann, »bless you, das Bier ist bestellt, und wer nicht trinken mag, lässt es einfach stehen. Im Haus eures Vaters, des Geheimrats, wurde mir einst ebenfalls eine Flasche Bier angeboten, und ihr mögt euch vergegenwärtigen, dass ich am ersten Schluck beinahe erstickte vor Verlegenheit. Da erschiene es ja unchristlich, wollte ich seinen Kindern gegenüber geringer handeln. So, da wären wir, da ist auch der Doktor Krehle. Vorstellen ist wohl überflüssig, geht mir auch nicht recht von Händen.« Er wartete, bis die entsprechenden höflichen Verneigungen erfolgt waren, und sprach ziemlich ausdruckslos weiter: »Lasst euch nieder und macht es euch bequem oder vielmehr at home, wie der Amerikaner sagt, und dann fallt ohne viele Umschweife mit der Tür ins Haus. Zunächst erzählt mir, was in aller Welt euch in diese gesegnete Republik führte, und zwar zu einer Zeit, in welcher sie in Scherben zu gehen droht.«

Dem jüngeren Bruder schwebte offenbar eine seiner verletzten Eitelkeit entsprechende übereilte Antwort auf den Lippen, als der ältere, der es entdeckte, ihm mit der Erklärung zuvorkam.

»Unser Vater starb vor Jahresfrist. Da aber ein vermögensloser Beamter in der Heimat nie in der Lage ist, irgendwelche Ersparnisse zurückzulegen, so blieb uns Geschwistern, nach dem der Hausstand aufgelöst worden war, wenig mehr, als gerade erforderlich, um nach Amerika auszuwandern …«

»Mit anderen Worten«, unterbrach ihn Martin, und auf seinen harten Zügen spiegelte sich nichts weniger, als sanfte Regungen, »ihr gedachtet des Bruders eurer Mutter, des früheren armseligen Tischlergesellen, und meintet, der sei vielleicht ein reicher Mann geworden. Da lohne es wohl der Mühe, sich mal ein wenig näher nach ihm umzusehen.«

Aus dem Lachen, welches auf dem fröhlichen Mädchenantlitz schwebte, entnahm er scharfsinnig, dass derartige Erörterungen zwischen den Geschwistern tatsächlich stattgefunden haben mussten. Zugleich gewahrte er, dass den Brüdern das Blut in die frischen Gesichter stieg. Er gab sich das Ansehen, beides nicht zu bemerken. Die Hände würdevoll hinter die Schürze schiebend, fuhr er anscheinend treuherzig fort: »Und als reich verschrien bin ich ja. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass einiger Wert in meinem Grund und Boden steckt. Dagegen wissen wenige, dass ich von meinen Gläubigern nur gehalten werde, weil sie nicht alles verlieren wollen. Ich vermute, gleich beim ersten Anblick meines Besitztums habt ihr annähernd einen Begriff von meiner Lage erhalten. Denn wäre ich nicht ein Lump, der von der Hand in den Mund lebt – bless you! Da möchte ich längst, wie die schlaueren Nachbarn, mein Land in einen schattigen Garten umgewandelt haben. Statt dieses elenden Blockhauses stände hier ein stolzes Schlösschen. Mit eurer Hoffnung, den reichen Onkel zu beerben, ist es also nichts.«

Wie seine Blitze, deren Ziel und Bedeutung man nicht kennt, schoss es aus den freundlich blinzelnden Augen von einem zum anderen, auch aus Krehle, der in vollkommener Gemütsruhe die Rolle eines stummen Beobachters durchführte.

»Sie irren«, hob der ältere Bruder mit zurückweisendem Ernst an, sobald der gefühllose alte Tischler ihn zu Wort kommen ließ. Es wurde ihm sichtbar schwer, eine gewisse vornehm kalte Ruhe zu bewahren, anstatt sich mit seinen Geschwistern zu entfernen. »Wir kamen nicht, um zu betteln oder irgendeines Menschen günstigere Lebenslage auszunutzen, sondern um von Ihnen, der Sie mit den hiesigen Verhältnissen notgedrungen vertraut sein müssen, freundlichen Rat zu erbitten. Auch dazu hätten wir uns schwerlich verstanden, wäre uns von der verstorbenen Mutter nicht wiederholt ans Herz gelegt worden, seiner Zeit gerade bei Ihnen vorzusprechen. Überschritten wir damit ahnungslos die Ihnen angemessen erscheinende Grenze, so können wir nur für uns und die Mutter um Verzeihung bitten und fernerhin auf die eigenen Kräfte allein bauen.«

Martin betrachtete den erregten jungen Mann nachdenklich und bemerkte in einem Ton, als ob er gegen den in der vernommenen Erklärung enthaltenen Vorwurf völlig unempfindlich gewesen wäre.

»Also das meinte die gute Seele? Nun ja, mag Gott ihr den ewigen Frieden schenken, wie sie es verdient. Aber nochmals, um alles Guten willen, weshalb bliebt ihr nicht da, wo sicher eine Menge Freunde euch mit gediegenerem Rat unterstützt hätte, als es von einem alten verkommenen Tischlergesellen zu erwarten wäre? Bless you! Wenn drüben einer so fleißig arbeitet, wie hier zu schaffen er gezwungen ist, so kommt er schneller zu Brot als in diesem verhenkerten Land, wo jeder fünfjährige Straßenbengel schon Politik treibt.«

Der junge Mann, als hätte das, jedes zarteren Anklanges entbehrende raue Wesen des wunderlichen Verwandten bereits etwas von dem bitteren Beigeschmack für ihn verloren gehabt, antwortete ruhig: »Die Berufe, für welche mein Bruder und ich uns entschieden haben, boten freilich günstige Aussichten, solange der Vater lebte. Mit dessen Tod brachen sie zusammen. Denn um noch sechs, acht Jahre umsonst zu dienen, fehlten uns die Mittel. Außerdem besaßen wir eine Schwester, die auf uns allein angewiesen war. Um aber alle die Freunde aufzusuchen, die einst so lebhaft in dem gastlichen Haus der Eltern verkehrten, die nebenbei als wohlhabend gelten – ich gestehe es offen – waren wir zu stolz.«

Martin Findegern wiegte das Haupt billigend. Das eine Auge schließend, sandte er mit dem anderen Krehle einen bezeichnenden Blick zu. Dieser, der jede kleinste Bewegung des langjährigen Freundes stets verstand, richtete sich ein wenig höher auf und offenbarte seine Meinung mit unnachahmlicher Würde in den Worten: »Ich pflichte dem Herrn vollkommen bei und berufe mich dabei auf meine eigenen Erfahrungen. Auch mich zwang der Mangel am Notwendigsten, allen ehrgeizigen Plänen zu entsagen, meine Studien abzubrechen und mein Heil auf dieser Seite des Ozeans zu suchen. Das ist mir bis auf den heutigen Tag nicht leid geworden. In der Fremde erst bricht das wahre Talent sich Bahn.« Sich noch stolzer in die Brust werfend, blickte er zur Decke der Veranda empor, wo ein mit unsäglicher Mühe den rohen Brettern aufgetragener rostroter Engel mit bunten Papageiflügeln sich oben anschickte, ihm einen Lorbeerkranz aufs Lockenhaupt zu werfen.

Die beiden Brüder betrachteten ihn befremdet. Auf dem holden Kinderantlitz spielte inniges Ergötzen, während Martin Findegern sich jenen wieder zukehrte.

»Was habt ihr denn gelernt?«, fragte er boshaft spöttisch grinsend.

Die Brüder verbissen ihren Unwillen, worauf der Ältere antwortete: »Wir studierten. Ich selber brachte es bis zum Regierungsassessor.«

»Ein schöner Titel«, erklärte Martin, die struppigen Brauen so weit wie möglich zur Stirn hinaufschiebend, »gilt aber nichts hier zu Lande, wo sich jeder nach Belieben General, Gouverneur oder gar Geheimrat nennen kann. Und du?«, fragte er, wie um ihn zu durchbohren, mit dem ausgestreckten Finger auf die Herzgrube des jüngeren Bruders weisend.

Dieser fuhr ergrimmt auf, besänftigte sich aber bald wieder auf einen leichten Stoß, mit welchem die neben ihm sitzende Schwester ihn unterhalb des Tisches vor Übereilung warnte, und erklärte mit stolzem Selbstbewusstsein: »Forstkandidat.«

»Klingt ebenfalls nicht übel«, entschied Martin Findegern mit erheuchelter Ehrerbietung, »hat nichts auf sich, weil es hier so viele Forstkandidaten gibt, wie es Männer hat, die eine gute Axt zu schwingen und einen hundertjährigen Hickorybaum binnen zehn Minuten auf die Seite zu legen verstehen. Doch immerhin: Helfen die Titel nicht, so hindern sie auch nicht euer weiteres Fortkommen. Hättet ihr, anstatt zu studieren, zu Säge, Hobel und Winkelmaß gegriffen oder, wie der Herr Doktor Krehle hier, zu Pinsel und Ölfarben, so wäret ihr besser daran, zumal in diesem gesegneten Land, wo eine Exzellenz nicht höher gilt als ein einfacher ehrlicher Tischlergeselle, der sein Metier von Grund auf versteht. Doch das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Zu verzagen braucht ihr derohalben nicht, denn mit gutem Willen und Ehrlichkeit kann man es hier sehr weit bringen. Es muss nur erst die feine Politur herunter; hernach macht sich alles von selbst. Was meinen Sie dazu, Herr Doktor?«

»Ich kann Herrn Martin Findegern nur beipflichten«, versetzte Krehle zu den Geschwistern gewendet, indem er sich anstandsvoll verneigte, »das wahre Talent muss sich in einem Land Bahn brechen, wo dem freien Flug des Denkens, Handelns und künstlerischer Fantasien keine hemmenden Fesseln angelegt werden.«

»Da hört ihr es«, hob Martin an, wurde aber durch Kleopatra, eine vierschrötige, gutmütig grinsende und zähnefletschende Negride unterbrochen, die auf der Veranda mit Bierflaschen und Gläsern erschien und dieselben auf dem Tisch ordnete. Nachdem sie sich wieder entfernt hatte, begann Martin die Flaschen zu entkorken und die Gläser zu füllen. Die Unterhaltung geriet dadurch ins Stocken, doch nur auf kurze Zeit. Dann ergriffen er und Krehle ihre Gläser. Sie mit einem kräftigen Willkommen an die anderen noch auf dem Tisch stehenden klirrend, taten sie einen langen Zug aus denselben. Martin schien nicht zu bemerken, dass seine Gäste nur zögernd ihre Lippen netzten, wogegen diese das über seine harten Züge hineilende spöttische Lächeln unmöglich übersehen konnten. Mit einem Ausdruck unsäglichen Behagens die Hände wieder hinter der Schürze in Sicherheit bringend, kehrte er sich abermals dem älteren Bruder mit der Frage zu: »Wie heißt du denn eigentlich mit Vornamen?«

»Maurus«, antwortete dieser, der bereits wie auf Kohlen saß und sich weit fort wünschte, nur aus Rücksicht für seine Schwester das peinliche Verhör geduldig über sich ergehen ließ.

»Maurus?«, wiederholte Martin munter blinzend, »bless you! Das klingt französisch, aber immerhin besser, als gar kein Name.« Er betrachtete das junge Mädchen, bis die Röte der Verlegenheit sich von den glühenden Wangen aus über das ganze fröhliche Antlitz verbreitete, und weiter forschte er: »Neugierig bin ich, welcher Name dir in der Taufe beigelegt wurde.«

»Margaretha«, floss es mit herziger Bereitwilligkeit von den zum Lachen geneigten frischen Lippen, »nach meiner Mutter wurde ich so genannt.«

»Richtig, Kind, deine Mutter hieß Grethe. Wenn nur der zehnte Teil ihrer Herzensgüte in deinem jungen Gemüt Platz fand, so bist du immer noch doppelt so viel wert, wie deine beiden Brüder zusammengenommen. Also Grethe? Bless you! Das freut mich.« Und nicht beachtend, dass Margarete ihren verdrossen schauenden Brüdern einen lustig schadenfrohen Blick zuwarf, wendete er sich an den Jüngeren. »Und du?«, fragte er. Der Zeigefinger drohte abermals, ihn aufzuspießen.

»Markolf«, antwortete der junge Forstmann scharf, und gleichsam herausfordernd strich er den noch mäßigen Schnurrbart empor. »Markolf Durlach«, wiederholte er mit erhöhtem Nachdruck, »und als solcher kann ich den Ausspruch meines Bruders nur bekräftigen. Wir kamen nicht als Bettler, die sich einem hochnotpeinlichen Verhör unterwerfen müssen, sondern als unabhängige Männer in Erfüllung eines Lieblingswunsches unserer verstorbenen Mutter. Doch ich begreife: Wir sind unwillkommene Gäste. Verzeihen Sie daher unsere Unbesonnenheit. Fern lag es uns, Sie belästigen zu wollen.« Mit dem letzten Wort sich ungestüm erhebend, schickte er sich zum Gehen an.

Solange Markolf sprach, betrachtete Martin ihn in seiner eigentümlich harmlos neugierigen Weise. Nicht mit der leisesten Miene verriet er Missfallen oder Gereiztheit. Sobald er aber endete, hob er mitleidig zurechtweisend an: »Bless you, du hast wenigstens Haare auf den Zähnen, mein Jüngelchen, und das gefällt mir. Befände sich aber die Grethe hier, nämlich deine verstorbene Mutter, die würde sagen: ›Markolf‹, würde sie sagen, ›wenn du dem leiblichen einzigen Bruder deiner Mutter je begegnest und du findest ihn nicht nach deinem Geschmack und in ärmlichen Verhältnissen, so vergiss nicht, dass er mehr als doppelt so alt ist wie du. Mag er als einfacher Tischler angefangen haben, so verstand er es doch, einen Mann aus sich zu machen, der sich vor keinem anderen zu beugen braucht.‹ Doch setz dich, mein Jüngelchen. Trink lieber einmal; das spült dir die Raupen aus dem Kopf.«

Markolf zitterte vor Zorn und Beschämung. »Ich bedaure, dass Sie sich unsertwegen in Unbequemlichkeiten und Kosten stürzten«, begann er.

Martin unterbrach ihn mit den Worten: »Gastfreundschaft ist in diesem Land eine große Tugend, sie dagegen zu verschmähen, eine Beleidigung. Doch ich nehme es mit dir nicht so genau. Wirst dir überhaupt die heißen Hörner noch abstoßen müssen, bevor du den ersten Cent mit rechtschaffener Arbeit verdienst. Also nochmals: Setz dich, trinke oder lasse es bleiben. Eins zusammen plaudern können wir trotzdem.«

Markolf wechselte einen Blick mit dem überlegenderen Maurus, sah beinah scheu in die strafenden Augen Margarethas. Von dieser am Rockzipfel heimlich gezogen, ließ er sich neben ihr nieder.

Martin aber sprach weiter, als habe überhaupt keine Störung stattgefunden. »Jetzt haben wir uns erst ordentlich kennengelernt. Da ihr von mir, einem armen Teufel, nicht mehr erwartet, als einen guten Rat, so soll euch der nicht vorenthalten werden.« Einige Sekunden weidete er sich an der auf den Zügen der Geschwister sich ausprägenden Spannung, ebenso lange an der gleichsam billigenden Gemütsruhe Krehles, worauf er fortfuhr: »Zunächst gefallt ihr beiden Jungens mir ausnehmend. Ihr seid kräftig gewachsen, habt eure gesunden Glieder und offenen Köpfe. Das ist die Hauptgrundlage, auf welcher man es in diesem Land zu etwas bringt. Mit euren Geldmitteln sieht es wohl nicht sonderlich aus?«

»Ob viel oder wenig«, antwortete Maurus kurz, »sie werden vorhalten, bis wir Gelegenheit gefunden haben, unsere Fähigkeiten zu verwerten.«

»Ein stolzes Wort, bless you!«, billigte Martin. Sein Antlitz wurde wieder ausschließlich von unschuldiger Neugierde beherrscht. »Aber mit Worten allein ist nichts getan, wenn die Groschen fehlen, um ihnen ein wenig Nachdruck zu geben. Da ihr die Söhne meiner eigenen Schwester Grethe seid, so will ich selber euch, und zwar schon Morgen, die Gelegenheit bieten, euer Brot zu verdienen.«

Wiederum weidete er sich flüchtig an der Erwartung, mit welcher die Geschwister seinen ferneren Eröffnungen entgegensahen. Zugleich entzündete es sich in den seltsam verkniffenen Augen wie heimliches Frohlocken. Weiter hieß es: »Mein Geschäft hat sich nämlich in einer Weise vergrößert, dass einige neue Arbeiter mir willkommen wären. Da könntet ihr als Lehrlinge bei mir eintreten. Ich will nicht mit Ehren Martin Findegern heißen, wenn ihr binnen sechs Monaten Säge, Hobel und Winkelmaß nicht in einer Weise handhabt, als ob sie als Patengeschenk euch in die Wiege gelegt worden wären. Auf dem Boden richte ich euch eine Kammer ein. Für die Beköstigung sorge ich ebenfalls, was mir dadurch erleichtert wird, dass Grethe der schwarzen Kleopatra in der Küche etwas zur Hand geht, wofür sie, gleich euch, ein bestimmtes Monatsgehalt bezieht. Sie als eine Lady erhält ihr Zimmer hier unten, sogar zwei, und die möblieren wir allmählich mit unserer Hände Arbeit. Seid ihr dann fleißig und sparsam, und habt ihr es bis zur Meisterschaft gebracht, so macht es sich vielleicht, dass ihr in Partnerschaft mit mir tretet. Der Herr Doktor übernimmt es dann wohl, das Schild überm Torweg umzuändern und mit schönen grünen, gelben und roten Frakturbuchstaben darauf zu malen Erstes Sargmagazin und Möbelgeschäft von Martin Findegern und Gebrüdern Durlach. Bless you! Wie das vornehm klingt. Sogar eurem Vater Geheimrat würde das schmeicheln.« Die blinzelnden Augen funkelten förmlich, ob in Begeisterung, Schadenfreude oder versteckter Bosheit, hätte höchstens Krehle zu entscheiden vermocht. Der aber saß da äußerlich eitel Würde, während er innerlich vollen Herzens sich an dem berechneten Verfahren seines pfiffigen Freundes ergötzte.

Während dieser langen Auseinandersetzung hatten die Brüder, wie ihren Sinnen nicht trauend, dagesessen. In Markolf war wieder das Blut der Entrüstung lebendig geworden, wogegen Margaretha nur mit Mühe einen Ausbruch ihrer nimmer rastenden Heiterkeit zurückhielt, und um Maurus‘ Lippen ein feines Lächeln schwebte. Seinen zur Nachsicht mit dem vermeintlich beschränkten Onkel ratenden Blicken war es auch zu danken, dass Markolf sich beherrschte und nicht vorgriff, als er höflich antwortete: »Gewiss ist Ihr wohlgemeinter Vorschlag anerkennenswert, allein …«

»Allein für die Herren Söhne eines Geheimrats nicht recht geeignet«, schaltete Martin munter ein. Wie nach einer anstrengenden Arbeit, den Zylinder lüftend, fuhr er mit dem hinter der Schürze hervo fliegenden rot und gelb geblümten Tuch über seine Stirn hin.

»Das wollte ich nicht sagen«, lenkte Maurus unbeirrt ein, »es schwebte mir nur vor, dass wir für andere Berufe erzogen wurden, jetzt aber mit einem neuen zu beginnen – ich gebe ja gern zu, dass jedes Handwerk einen goldenen Boden hat – uns die Befähigung mangeln würde.«

»Bless you!«, nahm Martin Findegern schnell wieder das Wort, den Hut beinahe zu schief auf sein Haupt drückend. »Ich kann es mir denken, der Vorschlag kommt euch überraschend. Ihr bedürft der Zeit, um ihn von allen Seiten zu beleuchten. Ratsam ist es sogar, ihr bemüht euch zuvor vergeblich um andere Stellungen, da werdet ihr schon mürbe werden. Was ich aber einmal sagte, das gilt für alle Zeiten. Vergesst das nicht, wenn ihr jämmerliche Erfahrungen macht. Zwei Hobelbänke sind bald aufgestellt, und für gutes Handwerkszeug sorge ich ebenfalls. Doch jetzt eine andere Frage: Ihr könnt unmöglich von der Grethe verlangen, dass sie euch bei eurem Umherlaufen nach Brot überall hin begleitet, und sie allein in irgend einem Kosthaus sitzen zu lassen, wäre noch unziemlicher. Da stelle ich ihr frei, mich täglich zu besuchen und sich bekannter hier zu machen. Hörst du, Grethe? Gefällt es dir dann bei mir, und du hast Lust, dir dein Brot selber zu verdienen, so bist du für die Zukunft beim leiblichen Bruder deiner Mutter ebenso gut aufgehoben, wie an jedem anderen Ort. Nebenbei hinderst du deine Herren Brüder nicht in ihren freien Bewegungen.«

Trotz des grimmig warnenden Zeichens, welches Markolf ihr verstohlen gab, antwortete Margaretha bereitwillig: »Ich komme gern, ich komme schon morgen. Die Aussicht, vereinsamt in einem fremden Haus unter fremden Menschen zu sitzen, erfüllte mich schon längst mit Besorgnis …«

»Bless you!«, fiel Martin ihr ein wenig milder ins Wort, denn es mochte ihm sein, als hätte die eigene tote Schwester ihn durch die schönen, zutraulich lachenden blauen Augen angeblickt. »Besorgnis ist nichts für solch junges frisches Ding. Muntere dich also auf. Und werden wir einig miteinander, so bleiben Einsamkeit, Furcht und Sorge dir fern, dafür bürge ich, solange ein Martin Findegern und ein Doktor Krehle unter diesem gesegneten Dach ihre gesunden Glieder zu rühren vermögen.«

»Mir aus der Seele gesprochen«, fügte Krehle erhaben schnarrend hinzu, »und besitzen Sie nur die geringste Anlage zum Malen, so werden Sie hier Ihre doppelte Befriedigung finden.«

Diese Wendung des Gesprächs betrachteten die Brüder als eine günstige Gelegenheit, die Zusammenkunft, die ihnen schon viel zulange dauerte, zum Abschluss zu bringen. Sie erhoben sich. Margaretha folgte ihrem Beispiel. Begleitet von Martin, der weder durch Blick noch durch Wort zu längerem Verweilen einlud, schritten sie zum Torweg hinüber, wogegen Krehle, nachdem er sich mit einer anmutigen Verneigung empfohlen hatte, ihnen von der Veranda aus mit der unerschütterlichen Gemütsruhe der von ihm den Wänden aufgetragenen Heldengestalten aller Jahrhunderte nachsah.

Vor der Pforte trennte man sich voneinander, auf der einen Seite mit steifer Höflichkeit, auf der anderen wunderlich herablassend. Die Tür fiel hinter den Scheidenden ins Schloss. Die Hände hinter der Schürze gesichert, wanderte Martin Findegern gemächlich zur Werkstatt hinüber. Während er die Blicke nach allen Richtungen über den wüsten Platz hinschweifen ließ, thronte Selbstzufriedenheit auf seinen harten Zügen. Schadenfreude lugte verstohlen aus seinen beweglichen Augen, Spott webte um die schmalen Lippen.