Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Diane Teil 1 – Kapitel 12

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Zwölftes Kapitel

Ein Brief, der mehr andeutet, als er ausspricht und Dokumente, die diesem Brief gleichkommen

Der Auftrag, den Judith ihrem früheren Gefährten erteilte, sollte ein Bedürfnis befriedigen, das die leidenschaftliche Seele des Mädchens schon lange erfüllte. So ungewohnt die Verhältnisse waren, in die sie sich versetzt sah, so konnten sie die Wachsamkeit und Schärfe ihres Urteils doch nicht täuschen. Sie erkannte in allem, dass man ein verdecktes Spiel mit ihr spielte, dass man sie beobachtete und prüfte, und dass ihre Zukunft, trotz dessen, was geschehen war, noch sehr im Dunkeln lag. Schon waren mehrere Wochen seit ihres Hierseins verstrichen, noch hatte keine Andeutung, kein sicherer Wink sie belehrt, was man eigentlich mit ihr vorhabe. Dieser Zustand hatte etwas grenzenlos Peinvolles. Von ihrer Kindheit an gewöhnt, der Gefahr ins Auge zu sehen, wäre sie einem offenbaren feindlichen Angriff mutvoll entgegengetreten. Allein diesem diplomatischen und hartnäckigen Schweigen gegenüber wusste sie sich nicht zu benehmen. Die alte Dame mit ihren Phrasen, der Neffe mit seinen Artigkeiten blieben immer dieselben, und jeder Versuch, ihnen etwas abzugewinnen, zeigte sich fruchtlos. Zugleich war aber ein sorgsam versteckter Verkehr bemerkbar. Briefe wurden empfangen und abgesendet. Unterredungen fanden mit Personen statt, die ankamen und das Schloss wieder verließen, ohne dass Judith sie zu sehen bekam. So sehr der Baron diesen Umständen den Schein von Zufälligkeiten zu geben wusste, so war die Aufmerksamkeit des Mädchens doch zu sehr gespannt, um diese Täuschung zu begünstigen. Sie wusste, dass sie der Gegenstand dieses verdeckten Treibens war. Jedes Mittel, sich Aufklärung in ihrer eignen Sache zu verschaffen, schien ihr willkommen. Lange Zeit suchte sie nach einem solchen vergebens. Endlich schien ihr in Simeons Erscheinen ein deutlicher Wink gegeben, den sie nicht unbeachtet lassen durfte. Sie kannte die Haupteigenschaften ihres früheren Gefährten. Er war frech, kühn und oft bis zum Erstaunen glücklich in seinen Unternehmungen. Durch ihn war es allein möglich, sich die Korrespondenzen zu verschaffen, die, wie sie wusste, durch die Hände des Barons gingen und von ihm besorgt wurden. Der Plan gelang. Der angebliche Rittmeister kam mit dem Baron aufs Schloss, die Jagdpartie wurde veranstaltet. Als am Morgen die Gesellschaft aufbrach, fand Judith in ihrem Handschuh ein Zettelchen versteckt, auf dem mit Bleistift die hingekritzelten Worte standen: »Auf der Konsole des Kamins im Gang gegenüber der Haupttür an der Wandseite hin findest du das Bewusste, das du wiederum an die bezeichnete Stelle zurücklegen musst, wenn du es gebraucht hast. Simeon.«

Mit klopfendem Herzen und brennenden Wangen trug Judith ihren Raub in ihr Zimmer, das sie sorgfältig hinter sich verschloss. Sie öffnete das Portefeuille mit dem beigelegten Schlüssel und schüttete dessen Inhalt vor sich aus. Es waren Briefe, die wenig Interesse für Florentins Tochter hatten, zum Teil Mahnbriefe von Gläubigern, kaum leserliche Schreiben von früheren Regimentskameraden, hier und da die Abschrift eines Gedichts, sehr sentimentale Billette von einer weiblichen Feder mit dem Namen Melanie bezeichnet. Alle diese Dokumente eines leichtfertigen Junggesellenlebens schob Judith unwillig beiseite. Sie suchte eifrig weiter und fürchtete schon, vergeblich den Raub begangen zu haben, als ihr ein unvollendeter Brief in die Hände fiel, der gleich auf den ersten Zeilen ihren Namen zeigte. Augenblicklich war sie mit dem Inhalt dieses Papiers beschäftigt. Der Brief war an einen jungen Mann gerichtet, den sie öfters als einen Verwandten des Hauses hatte nennen hören, an den Grafen von Waldeck, und lautete folgendermaßen:

»Der Grund meines langen Stillschweigens, mon cher Ernest, ist nicht etwa verminderte Teilnahme an dir und deinen diplomatischen Triumphen, sondern ganz einfach der, weil wir jetzt selbst alle Hände voll zu tun haben. Diane ist jetzt bei uns. Mit diesem Geständnis ist alles gesagt, unser Anteil und tätiges Einwirken in dieser unglücklichen Geschichte ist hiermit deklariert. Uns stehen die unangenehmsten Szenen und die empörendsten Prozesse bevor. Allein es ließ sich nicht anders machen. Dieser alte Familiengräuel musste endlich einmal ans Licht kommen, und die, welche bei diesen Grausamkeiten und Schändlichkeiten kompromittiert werden, mögen ihren Teil dahin nehmen. Es ist entsetzlich, wenn man denkt, was das Schicksal dieses armen Geschöpfes hätte werden sollen und gewiss geworden wäre, wenn nicht eine Kette von Zufälligkeiten die vergifteten Pfeile von der Brust der Unschuld hinweggeleitet hätten. Du solltest sie sehen, dieses arme Mädchen! Sie ist schön und trägt in ihrem Wesen, das stolz und unabhängig ist, ganz den Charakter des altaristokratischen Stammes, von dem man sie mit Gewalt hat lösen wollen. Wenn sie erst im Besitz ihrer Reichtümer und ihrer Titel sein wird, so kann es nicht fehlen, sie muss ein anbetungswürdiges Geschöpf sein. So weit sind wir indessen noch nicht, und du kannst dir denken, dass meine Tante und ich sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen …«

Hier brach der Brief zu Judiths nicht geringem Verdruss ab. Sie war den Tränen nahe, als sie das Papier hinlegte. Was es enthielt, war geeignet, ihr Verlangen nur noch höher zu spannen, ohne ihr jedoch zugleich den geringsten Aufschluss zu geben. Leidenschaftlich blätterte sie in den noch übrigen Papieren und entfaltete einen halben Bogen, auf dem, von einer anderen Hand als der des Barons, einige, wie es schien, flüchtige Notizen hingeworfen waren. Sie lauteten:

… Die Beschlüsse der Landesregierung über streitige Fälle des Erbschaftsrechts, Nachrichten über ähnliche Fälle im Preußischen Landerecht, Vergleich mit dem Codex Justinian, Code Napoleon, nicht anwendbar auf diesen Fall. Kurze Zusammenstellung der Tatsachen: (die hier befindlichen Worte waren später wieder ausgestrichen worden, und mit blasser Tinte und anderer Handschrift stand darunter: ›unrichtig.‹)

… Das ausgesetzte Kind wurde am einundzwanzigsten März 183. gefunden. Der Name des Mannes, der es aufnahm: Herr Rusbruck. Dieser ehrenwerte und rechtliche Mann ist als Mitglied der Freimaurerloge zu den drei Weltkugeln mit dem Benjamin Laubenheimer, der das Kind aussetzte und ihm einen Brief mitgab, befreundet. In diesem Brief stand mit freimaurerischen Zeichen, an denen Rusbruck den Benjamin Laubenheimer erkannte, er möchte sich des Kindes annehmen. Das Geld für dessen Erziehung würde von sicherer Hand ausgezahlt werden. Daraufhin gibt Rusbruck das Mädchen in die Pensionsanstalt der Madame Adelaide Dufont. Besagte Adelaide Dufont quittiert seit acht Jahren über regelmäßig empfangene Zahlungen, die ihr Rusbruck leistet. Von wem Rusbruck die Zahlungen entgegennimmt, will er, da es ein freimaurerisches Geheimnis ist, nicht offenbaren …

Stand der Sachen am 20. August 184. – Durch den Tod der N. N. wird nachgewiesen, dass jenes Kind der R. ein Mädchen, nicht, wie das Gerücht verbreitet, tot, sondern noch am Leben sei. Die Umstände, die mit Auffindung des Kindes zusammenhängen, haben eine auffallende Ähnlichkeit mit den obigen Aussagen. Es ist wahrscheinlich, dass die N. N. dieses Kind, das zum Untergang bestimmt war, gerettet und es durch den Benjamin Laubenheimer dem Kaufmann Rusbruck hatte überantworten lassen. Die Bekenntnisse der N. N. auf dem Sterbebett wären also vor Gericht zu berücksichtigen. Zusatz von anderer Hand: Ist geschehen.

Bemerkungen eines Unparteiischen bei Lesung des Obigen. Lässt sich denken, dass die Grausamkeit und die Habgier eines gewissenlosen Weibes so weit gehen werde, eine solche Tat, von der das menschliche Gefühl sich mit Empörung abwendet, zu begehen? Kennt man von der P. noch andere Handlungen, die diesen Stempel tragen? Weiß man nicht, ob sie im Augenblick des Todes Reue zeigte?

Antwort auf die Bemerkungen eines Unparteiischen. Der Charakter der P. war anerkannt ein böswilliger und schwarzer. Die N. N. pflegte Josters zu sagen: ›Um Gotteswillen, lasst das arme Kind nicht bei ihr!‹ Sie hat Versuche gemacht, das Testament B.’s umzustoßen, welches ihr aber nicht gelungen sei. Sie liebte ihren Sohn grenzenlos und konnte es nicht ertragen, ihn von den reichen Besitzungen der Familie ausgeschlossen zu sehen. Von dem Tod der P. ist dem Schreiber dieses nichts bekannt. Sie starb in Bad Ems, und so viel zur Kenntnis gelangt, war niemand von ihren Angehörigen bei ihr. Doch mag ihr Ende leicht oder schwer gewesen sein, dieser Umstand ändert nur wenig, der Glaube, dass sie die Tat begangen hat, steht fest.«

… Steht es fest, dass das aufgefundene Kind, das einstweilen den Namen Diane Belmont führt, tatsächlich die Tochter B.’s und der R. ist, so wird sofort ein Prozessverfahren gegen den Sohn der P. einzuleiten sein. Zusatz einer anderen Feder: Das wird nicht nötig sein, denn der junge P., benachrichtigt von dem widerrechtlichen und empörenden Verfahren seiner Mutter, wird nicht anstehen, die Verstoßene ohne Prozessführung in ihre Rechte einzusetzen. Die Familie hegt wenigstens diesen Glauben. Denn P. wusste eben sowohl wie die Familie, dass ein Prozess den Namen kompromittieren würde, der glorreich und ruhmgekrönt Jahrhunderte hindurch bis jetzt geherrscht hat …

Randbemerkung des Unparteiischen: Tut nichts zur Sache. Berühmt oder nicht berühmt, glorreich oder nicht glorreich – die schlechte Tat muss ans Licht. Die Zeiten sind nicht mehr, wo dergleichen versteckt werden durften. Die Aristokratie, wenn sie sich halten will, muss sich dem herrschenden Geist der Öffentlichkeit anschließen …!

… M., der Bruder der verstorbenen P., wird sich, wie man aus guter Quelle weiß, jedem Ansinnen, die Rechte seines Neffen zu schmälern, widersetzen …

… Zwei rechtsständische Gutachten, die man unter der Hand eingezogen hat, lauten zugunsten des R.’schen Kindes. Zusatz von anderer Hand: Bis auf einen gewissen Punkt hin sind die Beweise zu führen, dann aber fehlen wichtige Zeugenaussagen. Deshalb sehe man sich wohl vor, ehe entscheidende Schritte geschehen.

Randbemerkung des Unparteiischen: Mut! – die Sache muss glücken! Sind nicht die gerichtlich bestätigten Aussagen der N. N. da? Lebt nicht der Bankier Rusbruck? Kann das Mädchen nicht selbst über ihre früheste Kindheit befragt werden? Man muss dem Trotz der Bösen den Trotz der Gerechten entgegensetzen. Zusatz von anderer Hand: Mit dem Enthusiasmus ist noch nichts bewirkt!

Es folgten noch einige Bemerkungen, aber sie enthielten teils nichts Merkwürdiges, teils waren sie so unleserlich hingeworfen, dass es unmöglich war, sie zu enträtseln. Judith legte das Papier beiseite. Der Vorrat von Papieren war zu Ende, und eben war die Leserin im Begriff, das Päckchen wieder in die Mappe zu schieben, als ihr in derselben noch ein zurückgelassenes Blatt auffiel. Sie zog es hervor und erkannte mit Freude, dass es von des Barons Hand war, und offenbar einen Zusatz zum obigen Brief enthielt. Die Tinte war noch frisch, und alle Umstände bewiesen, dass es noch heute Morgen vor dem Abgang zur Jagd geschrieben worden. Es enthielt die wenigen Worte:

Kannst du nicht, teurer Ernest, durch ein kleines Kapital, das du opferst, den Wiener Wucherer beschwichtigen, der mir droht, durch die Zeitung seine Forderung laut werden zu lassen. Da sieht man, wohin die Öffentlichkeit der Presse führt! Solche Schufte, die sonst mäuschenstill waren, wagen es jetzt Lärm zu schlagen. Gestern Abend bei meiner Rückkehr von einer Landpartie empfing ich den Brief des Elenden. Ich bitte dich, mache die Sache ab. Wahrscheinlich bin ich bald bei besseren Finanzen. Mein und auch dein Schicksal, guter Junge, gehen rasch einer Änderung entgegen. Mit dem Brief des Juden lief gestern zugleich ein anderer ein, der die Nachricht vom Tod des jüngsten Sohnes des Generals enthielt. Das gibt unserer Sache die Entscheidung. Ich reise in diesen Tagen nach Schloss Windeck ab und nehme Dokumente und Papiere mit. Gib acht, du traust mir kein Talent für Geschäfte zu, allein gib acht, hier, wo es sich gleichsam um meine eigene Existenz handelt, werde ich schon tätig zu sein verstehen. Wie gut, dass ich meine Tante in ihrem Entschluss bestärkte, das Mädchen kommen zu lassen. Nun werden wir goldene Früchte ernten. Leb wohl! Du schreibst nichts mehr von deiner Vicomtesse de Sanneterre? Ist diese Liäson schon wieder aufgelöst? Ich will nicht hoffen.

Adieu!
Franz von Brisson.

Dieses letzte Papier wurde von Judith mit beklemmter Brust und stockendem Atem beiseitegelegt. Sie stützte ihr Haupt, denn der Strom der wild durcheinanderwirbelnden Gedanken und Vorstellungen, die auf sie eindrangen, hatten sie aufs Äußerste erschöpft. Sie brauchte Zeit, um auch nur eines dieser düsteren und verworrenen Bilder zu ordnen und in helles Licht zu setzen. Unglücklicherweise gelang ihr dies nicht, so sehr sie sich auch mühte. So viel sah sie deutlich, dass eine schreckliche Tat vollführt worden war, dass diese Tat der Mittelpunkt war, um den sich die Verwicklungen und Unklarheiten drehten. Wer aber die Tat begangen hatte, auf welche Weise sie vollführt worden waren, welche Personen feindlich und welche rettend und wohlwollend hierbei gewirkt hatten und noch zu wirken willens waren, dies ließ sich beim angestrengtesten Grübeln und Forschen des bei diesem allen so beteiligten Mädchens nicht entdecken. Es war ein Chaos von Namen und Verhältnissen, was so plötzlich auf sie eindrang. Es waren Verwicklungen, deren Lösung außerhalb ihrer Lage und ihres Lebenskreises lag. Es betraf Andeutungen, die sie nicht verstand, nicht verstehen konnte.

So lag denn die geraubte Mappe mit ihren Schätzen vor ihr. Es war kein Gold, das sie aus der Tiefe hervorgezogen hatte. Ein Gemenge von blitzenden Dolchen und blitzenden Diamanten, seidenen Gewändern und Bettlerlumpen. Die Verbannung und die Landstraße standen ihr immer noch nah. Wollten ihre Beschützer sie aufgeben, so konnten sie es, wie es schien, ungestraft. Ja sie waren sogar mit diesem Vorhaben umgegangen. Jetzt aber hatten sie ihren Entschluss geändert. Ihr eigenes Interesse schien damit verknüpft, die Verstoßene in ihre Rechte wieder einzusetzen. Allein welche Sicherheit gewährte ein solcher Entschluss? Eine kranke, eitle, schwachköpfige Frau und ein leichtfertiger junger Mensch hatten ihn gefasst. In ihren Händen lag das Schicksal der Tochter des Verbrechers.

Judith erhob sich und tat einige unruhige Schritte durchs Gemach. Sie fühlte die heftigste Erbitterung gegen diese Menschen, die so vorsichtig gingen und so egoistisch an ihre eigne Sicherheit dachten. Es drängte sie, die Zügel ihres Schicksals selbst in die Hand zu nehmen, aber die Klugheit flüsterte ihr zu, dass hierzu der rechte Zeitpunkt noch nicht gekommen sei.

»Nur noch wenige Zeit Geduld!«, rief sie und zwang ihr ungestümes Herz zur Gelassenheit. »Es muss, es wird sich bald entscheiden.«

Sie setzte sich wieder an den Tisch, nahm die Papiere, machte einen flüchtigen Auszug und schloss sie dann wieder vorsichtig in die Mappe.

Als sie den Gang betrat, ersah sie die Gelegenheit, da niemand in der Nähe war, und brachte dann den Schatz an die bezeichnete Stelle.

Gegen Abend traf die Jagdgesellschaft wieder ein. Der Baron war ungewöhnlich heiter und rühmte sein Jagdglück. Simeon heftete beobachtende Blicke auf Judith. Sie wich ihm aus. Da er in die Abendgesellschaft der Fürstin keinen Zutritt hatte, machte er Anstalten, das Schloss zu verlassen. Es fand sich durchaus keine Gelegenheit zu unbemerktem Gespräch. Als Judith in ihr Zimmer zurückgekehrt war, öffnete sie ein Papier, das ihr der Rittmeister zugesteckt hatte.

Ma belle, lautete es, wenn du keine guten Nachrichten gefunden hast, so soll es mir leidtun. Indessen, fasse Mut. Ich denke, es bleibt dabei, ma foi, dass ich der Alten eine Pistole auf die Brust setze. Das ist zugleich eine hübsche Art, mich bei ihr einzuführen. Sieh nur zu, dass sie dich nicht um dein Geld prellen, denn Geld ist der Gott der Welt. Apropos, Geld – Judy, ich habe gestern die Dummheit begangen, sehr hoch zu spielen und habe verloren. Wenn du kein bares Geld hast, und ich zweifle, dass man dir welches in die Hand gegeben hat, so schicke mir den Ring, den du am kleinen Finger trägst. Es ist ein Diamant von gutem Wasser, wie ich bemerkte, als du vor einigen Tagen die Variationen aus Ein Thema aus Robert der Teufel spieltest, haha! Du siehst, ich bin Musikkenner. Den Ring verstecke nur in meine Jagdtasche, die ich absichtlich dazu auf dem bewussten Kamin habe liegen lassen, und die mein Diener heute abholt.

Judith zog den Ring mit Unwillen vom Finger. Er war ihr als Geschenk von unbekannten Händen durch Herrn Rusbruck zugekommen. Sie hüllte ihn sorgfältig in ein Papier und trug ihn an die bezeichnete Stelle. Das Billett, um den Ring geschlagen, enthielt die Worte: Ich danke dir für den Dienst, den du mir geleistet hast, fürder bedarf ich keinen mehr. Entferne dich aus meiner Nähe. Dies ist alles, um was ich dich bitte, und welches, im Fall du diese Bitte missachtest, ich dir anbefehle. Unsere Wege können nicht weiter zusammengehen.«

Sie blieb so lange lauschend im Gang, bis sie den Diener sah, der die Tasche nahm und forttrug.

»Ich muss meinen Gang allein tun!«, rief sie sich zu. »Ich darf die Gemeinschaft dieses Menschen nicht dulden. Unfähig zu begreifen, um was es sich handelt, würde seine stete Geldgier, seine plumpe Zutunlichkeit, seine niedere Lebensansicht mich unendlich hindern und endlich all meine Pläne zerstören. Was er leisten konnte, hat er getan.«

Ein lautes Klingeln und Rufen aus dem Gang störte die Tochter Florentins in ihren Betrachtungen. Sie hörte die Stimme des Barons, der seinen Diener ausfragte und ihn laut schalt. Zu gleicher Zeit brachte man ihr die Aufforderung der Fürstin, sich zu ihr zu bemühen. Sie ging hinab in den Salon und fand diese Dame allein und in großer Aufregung. Sie hatte Toilette gemacht und war in Trauer. Ein schwarzer Spitzenschleier lag auf den Locken der blonden Perücke. Schon von Weitem streckte sie der Ankommenden die Hand entgegen, indem sie rief: »Ah, mein Engel, ich bin entzückt, Sie zu sehen. Ich fürchte, wir werden nicht lange mehr beisammenbleiben. Es haben sich Ereignisse zugetragen. Ich hoffe, François hat Sie in Kenntnis gesetzt …«

»Noch nicht, Ihro Durchlaucht.«

»Ach, meine Gute, mein leichtsinniger Neffe wusste es schon gestern, aber er fand erst jetzt Gelegenheit, es mir zu sagen. Fräulein Blummont, heißen Sie nicht so?«

»Belmont, Ihro Durchlaucht.«

»C’est ça, Belmont, diese bürgerlichen Namen klingen alle einer dem anderen gleich. Nun, so erfahren Sie, dass ein sehr merkwürdiger Todesfall, ein für Sie doppelt merkwürdiger Todesfall sich ereignet hat. Der jüngste Sohn eines Vetters ist gestorben. Es setzt Sie in Erstaunen, dass ich sage, dieses Unglück gehe Sie näher an. Allein nur Geduld, Sie werden sehen, mon enfant, Sie werden schon sehen. Ich versichere Ihnen, meine gute Blummers, bald werde ich mich Ihnen in meiner wahren Gestalt zeigen.«

Judith erschrak über den Entschluss der Fürstin, sich ihr in ihrer wahren Gestalt zeigen zu wollen. Indessen erwiderte sie nichts und bückte sich nur herab, um die Hand der Dame zu küssen.

»Sie sind dankbar, mein gutes Kind«, rief diese, »ich freue mich, dass ich dies bemerke. Schrieb ich Ihnen nicht, wir würden uns einst sehr nahe stehen? Aber was willst du, Betty? Warum kommst du immer gerade in diesen feierlichen Momenten, uns zu stören?«

»Madame, ein Polizeikommissar ist im Schloss.«

Judith fuhr zitternd in die Höhe.

»Ein Polizeikommissar, Betty? Und was will er?«

»Es ist eine etwas seltsame Geschichte«, erwiderte die Kammerfrau. »Ihro Durchlaucht besinnen sich doch auf die Frau von Traubenstein?«

»Hat sie gestohlen?«

»Nein, aber sie ist in voriger Nacht bestohlen worden. Ein Schmuck aus Brillanten, wie man sagt, von großem Wert, wurde ihr entwendet worden. Der Verdacht fällt auf einen Menschen, der sich einen vornehmen Namen gegeben hat, von der Polizei aber als verdächtig bezeichnet worden ist.«

»Nun, warum kommt denn der Polizeikommissar hierher?«

»Er hat den Baron gefragt, ob er nichts vermisst, denn der verdächtige Mensch …«

»Dieu! Ist doch nicht in meinem Schloss gewesen.«

»Er hat den Baron besucht, und das Fräulein kennt ihn auch.« Hierbei warf die boshafte Frau einen spottenden Blick auf Judith.

»Aber Betty, Sie ist von einer grenzenlosen Unverschämteit!«, rief die Fürstin blass vor Aufregung. »Geh Sie mir aus den Augen. C’est atroce!«, setzte sie hinzu und wickelte sich in ihren Spitzenschleier, als die Kammerfrau fort war. »Haben Sie wirklich diesen Nichtswürdigen irgenwo erblickt, mein Kind?«

Judith, die ihre Fassung vollkommen wiedergewonnen, erwiderte, dass sie im Salon der Frau von Traubenstein viele Herren gesehen habe, die sich ihr hätten vorstellen lassen.

»C’est ma faute!«, sagte die Dame seufzend, »ich hätte Sie nicht dahin gehen lassen sollen. Was konnte man in so gemischter Gesellschaft anders erwarten. Künftig erscheinen Sie nur da, wo ich selbst hingehe oder wo ich wenigstens meine Karte hinschicke.«