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Der goldene Fels – Kapitel 12

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Zwölftes Kapitel

Martha hatte hinter der verschlossenen Tür ihres kleinen Salons das Gehen und Reden der Herren vom Gericht undeutlich gehört. Angst und Entsetzen waren in ihr durch diese Töne nur noch gesteigert worden. Sie malte sich aus, was drüben im Zimmer ihres Vaters verhandelt wurde, meinte, die Worte zu hören, die Karl Georg zu Burkhardts Verderben sprach. Und bei diesen Gedanken ging jedes andere Gefühl in einer vernichtendem tödlichen Angst um den Geliebten unter. Aus der Angst aber entstand der Entschluss, ihn um jeden Preis zu warnen.

Leise ging sie hinaus auf den Flur, nahm wieder ihren dunklen Abendmantel um und schlich sich in lautloser Eile aus dem Haus fort, durch den Garten auf die Straße. Sie ging hastig an der Fabrik vorüber, sah mit einem raschen Blick durch das Tor, dass die Wohnung Burkhardts noch nicht erleuchtet war, und hemmte den Schritt erst an der Stelle, wo der Anlagenweg sich rechts von der Hauptstraße trennte. Weiter durfte sie nicht gehen, wenn sie Burkhardt sicher bei seiner Heimkehr begegnen wollte. Sie wusste ja nicht, welchen von den beiden Wegen er wählen würde. So kehrte sie hier wieder um und ging in zweckloser Hast, von ihrer Angst vorwärtsgetrieben, wohl eine halbe Stunde lang zwischen Wegteilung und Fabrikeingang auf und nieder. Diese Strecke der Hauptstraße musste Burkhardt notwendig passieren, wenn er nach Hause kam. Auch konnte Martha hier die hell beleuchteten Trambahnwagen für den Fall im Auge behalten, dass er einen von ihnen benutzte.

Bei jedem donnernden Heranrollen solch eines Wagens, bei jedem leisen Schritt auf der einsamen Straße, bei jedem Nahen einer einzelnen dunklen Gestalt zog sich ihr Herz in erneuter Angst zusammen. Als hätte sie selbst ein Verbrechen begangen, so zitterte sie beim Anblick der Herren von der Gerichtskommission, die während ihrer eiligen Wanderung von der Villa herkamen, beim Eingang zum Fabrikhof haltmachten, ein paar Worte zum Torwärter sagten, dann in den Hof hineingingen, zu Burkhardts Wohnung hinüber. Sie sah das von der anderen Straßenseite her, wohin sie sich vor den schwarzen Gestalten geflüchtet hatte. Hier stand sie, sich mit beiden Händen an einen der Bäume geklammert, von denen die Straße beschattet wurde. Sie sah durch das offene Tor hindurch, wie die Fenster in des Geliebten Zimmer sich erhellten, wie hin und her gehende Schatten daran vorüber glitten. Sie wusste, was dort geschah. Sie meinte zuzuschauen mit leiblichen Augen, wie die Mappe dort auf dem Tisch geöffnet, wie der Brief gefunden wurde, den sie selbst vor Kurzem in den Händen gehalten hatte.

»Oh, wenn ich ihn doch vernichtet hätte!« Sie fuhr zusammen. Hatte sie die Worte laut gerufen? Oder war es nur das Brausen des Blutes in ihren Ohren gewesen, das ihr wie die eigene Stimme geklungen hatte?

Aber nun kam ein Augenblick der Befreiung. Die Herren kehrten zurück, schritten zur Trambahn hinüber. Martha stand im Schatten, konnte sie deutlich erkennen. Keiner war zurückgeblieben, um Burkhardts Heimkehr zu erwarten. Wenn sie jetzt fortfahren! Und sie taten es wirklich. Ein Wagen kam, hielt einen Augenblick. Die Herren stiegen ein, er setzte sich wieder in Bewegung, rollte davon.

»Ich danke dir, Gott«, murmelten Marthas bebende Lippen, und ihre Blicke suchten im nächtlichen Himmel den, zu dem sie rief.

Sie nahm ihre Wanderung etwas beruhigter wieder auf, aber sie schrak doch heftig zusammen, als eine Stimme neben ihr im Ton der Überraschung »Sieh da, Martha!« sagte. Sich hastig zur Seite wendend, erkannte sie den Professor de la Motte, der, von der Stadt herkommend, sie eingeholt hatte.

Sie versuchte ruhig zu sprechen, aber ihre Stimme war doch unsicher und rau bei dem »Guten Abend, Vater«, womit sie de la Motte begrüßte.

»Dass du noch hier draußen bist, ich bin ganz überrascht.«

»Ich hatte Sehnsucht nach frischer Luft. Wir haben einen schweren, aufregenden Tag hinter uns.«

»Ich weiß es, war ja vorhin schon bei deinem Vater. Und auch für mich war es ein schwerer Tag.«

»Für dich?«

»Karl hat es dir vielleicht noch nicht gesagt. Er war bei mir, hat mir seine Not geklagt. Er muss eine Zahlung leisten, wofür das Geld ihm fehlt, und hat mich dringend, herzbewegend gebeten, ihm zu helfen. Trotzdem habe ich es ihm abgeschlagen.«

»Du hast recht getan.«

»Nein, Martha, mir ist nachträglich klar geworden, dass ich nicht recht getan habe. Die Menschen müssen einander helfen. Ich habe mich immer bemüht, nach Goethes großer Lehre zu leben, hilfreich zu sein und gut. Aber diesmal habe ich versagt, und noch dazu meinem einzigen Sohn gegenüber. Ich habe heute den ganzen Tag über mit mir gekämpft, es ist mein letztes Geld, mein letztes kleines Kapital, womit ich ihm helfen soll. Aber mein Sohn braucht es, ich will es ihm geben.«

»Vater, tue es nicht! Ich kenne meinen Mann, was du auch geben kannst, es ist nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Es verdampft und verschwindet.«

»Mag es drum sein. Dann ist es eben ein Tropfen Herzblut von mir, woran er sieht, wie lieb ich ihn habe. Mein Leben ist nur noch kurz, ich bin einfach gewöhnt, kann mich einrichten mit meiner Pension. Er ist jung, und vielleicht kann ich ihn retten. Du solltest mir nicht abraten, Martha, du zu allerletzt. Mann und Frau sollen ein Leib und eine Seele sein. Denke daran: Die wahre Liebe trägt alles, duldet alles.«

»Die wahre Liebe«, murmelte Martha vor sich hin. Es war ihr, als ob bei seinen Worten ein Messerstich ihr durchs Herz führe. Das Elend ihrer unglücklichen Ehe zerschnitt ihr die Seele.

»Ja, Martha, das ist ein großes, heiliges Ding, diese wahre Liebe. Das Größte, was wir armen Menschenkinder haben. Und wenn ich dich durch mein Beispiel zu diesem Gefühl hinführen könnte, dann wäre dieser schwere Tag ein Tag des Segens.«

In tiefem Schweigen gingen sie für einen Augenblick nebeneinander dahin. Dann begann de la Motte in einem veränderten, alltäglichen Ton wieder zu sprechen. »Ich möchte dich übrigens bitten, Karl Georg noch nichts von dem zu sagen, was ich dir mitgeteilt habe. Die Sache hat nämlich noch einige praktische Schwierigkeiten. Mein kleines Kapital ist in unkündbaren Hypotheken angelegt, und ich war in der Stadt beim Bankier, um zu versuchen, ob ich die Hypotheken zedieren und eine gleichwertige Summe darauf geliehen bekommen kann. Er denkt, es möglich zu machen, aber ich möchte keine verfrühten Hoffnungen in meinem Sohn erwecken. Darum sei so gut, ihm gegenüber noch zu schweigen.«

»Gewiss, Vater, gewiss. Du bist so gut.«

»Lange nicht gut genug. Wir sind alle nur schwache Menschen, und bei meiner Bitte spricht auch eine kleine Schwäche mit. Ich möchte nämlich, wenn ich das Geld wirklich flüssig machen kann, siehst du, dann möchte ich auch gern der Erste sein, von dem Karl es erfährt.«

Statt einer Antwort kam nur ein plötzlicher, undeutlicher Laut von Marthas Lippen. Sie klammerte sich mit ihrer einen Hand an de la Mottes Arm und hob die andere, hineinweisend in die Nacht: »Oh, sieh doch, Vater, sieh doch hin!«

Der Professor wendete sich zur Seite, folgte mit seinen Blicken der weisenden Hand. »Wahrhaftig«, rief er aus, »der Fels leuchtet wieder!«

An einer Stelle zwischen Fabrik und Villa war der Blick zu den Bergen hin frei geworden, und in geheimnisvoller Glut glänzten dort oben die schroffen Abstürze des goldenen Felsens genau wie in der Nacht, als der Professor das merkwürdige Schauspiel zum ersten Mal von seinem Zimmer aus erblickt hatte. Schweigend betrachteten beide ein paar Augenblicke lang den unheimlichen Glanz, der im Dunkel der Nacht aus verborgenen Erdentiefen hervorzubrechen schien.

»Bei Gott, ich bin sonst nicht abergläubisch«, sagte de la Motte nach diesem Schweigen leise. »Dies packt mich aber doch. Eines Menschen Tod soll der Schein dort bedeuten, so behauptet der Volksmund, und heute habt ihr den Tod im Hause gehabt.«

Martha vermochte nicht gleich zu antworten. Der geheimnisvolle goldene Glanz an den Felswänden, das noch in ihrer Seele hastende schreckliche Schauspiel des Morgens, die jäh wieder auf zuckende Angst um Burkhardt vereinigten sich in ihr, um sie verstummen zu lassen in heißer Qual. Der Professor hatte nun aber seine Ruhe schon wieder gefunden und sagte: »Komm, lass uns die Sache doch einmal ein wenig näher anschauen.«

Sie zauderte noch einen Moment in dem Gedanken, dass der Geliebte gerade jetzt heimkommen könne. Dann aber sagte sie rasch: »Ja, Vater, komm.«

Sie gingen am Park der Villa hin zur Eschenallee, deren Bäume schwarz vor den dunklen Bergen standen. Eine kurze Zeit hemmten die Bäume den Blick auf die Felsen oben, und als er wieder frei wurde, war die leuchtende Nachterscheinung schon verschwunden.

»Eine sonderbare Sache!«, murmelte de la Motte. »Lass uns wenigstens einmal bis an die Brücke gehen, um zu wissen, ob die Türen verschlossen sind oder nicht?«

Sie schritten eilig unter den Bäumen hin, bis an die Stelle, wo die Gittertür am Fuß der Brückentreppe sich ihnen in den Weg stellte. Sie war fest verschlossen und gestattete kein Weitergehen.

»Eine sonderbare Sache!«, sagte der Professor noch einmal. »Wer kann sich dort oben um diese Stunde herumtreiben? Von irgendeiner Menschenhand muss ja doch der Schein erzeugt worden sein.«

»Soll ich ums Haus herumgehen und uns den Schlüssel zur Gittertür holen? Wollen wir auf dem Burghügel oben nachschauen?«

»Ich glaube, wir bleiben besser davon weg. Wer weiß, wer auf dem Berg herumgeistert? Und nächtliche Begegnungen mit Geistern von Fleisch und Bein können unangenehm werden. Wir haben es hier ja so still und friedlich. Lass uns noch ein wenig auf und ab gehen und uns an dem schönen Abend nach dem aufregenden Tag freuen.«

Martha nahm den von de la Motte freundlich dargebotenen Arm, und sie schritten langsam ein paarmal unter den Bäumen auf und nieder. Die von oben herabströmende weißliche Helle wurde stärker, die Wolken zerteilten sich, der schon späte Mond kam herauf und füllte mit seinem stillen Silberlicht das Tal.

Sie waren in leisem Gespräch eben wieder in die Nähe der Brücke mit ihrer Gittertür gekommen, als Martha mit einer abermaligen Bewegung des Erschreckens den Arm des Professors fester umklammerte und stehen blieb.

»Was mag das bedeuten, da drüben?«, flüsterte sie. Zugleich wies ihre Hand auf das jetzt heller beleuchtete gegenüberliegende Ufer, wo sich tatsächlich etwas Merkwürdiges ereignete. Das hohe Farnkraut, von dem der Burghügel unter der Tannenschonung umkleidet war, bewegte sich auf sonderbare Weise. Mitunter hob sich auch eine dunkle Masse daraus hervor, um gleich wieder darin zu versinken. Es war, als ob ein großes Tier sich einen Weg durch das Dickicht bahnte.

Jetzt war es dort angelangt, wo die Brücke das jenseitige Ufer berührte, kroch aus dem dichten Grün hervor auf den Weg, richtete sich auf und schaute rings umher. Es war ein Mensch, der dort stand. Sein Gesicht war unerkennbar in dem fahlen Licht, aber die schwarze menschliche Figur war deutlich zu unterscheiden.

»Bleib ruhig stehen«, flüsterte de la Motte, »ganz ruhig.«

Martha nickte nur. Ihr versagte die Stimme. So standen sie schweigend und wartend, schauten stumm aus dem tiefen Schatten der Bäume hinaus in das hellere Licht. Und nun sahen sie, wie die dunkle Gestalt sich in Bewegung setzte, rasch über die Brücke dahinglitt, einen Moment an der niedrigen Gittertür stehen blieb, sie mit beiden Händen oben ergriff und sich dann mit einer geschickten Turnerbewegung hinüberschwang. Jetzt kam sie näher zu den beiden heran, jetzt war sie dicht an der Stelle, wo sie warteten.

»Wer da?«, rief der Professor ihr entgegen.

»Gut Freund«, antwortete der Unbekannte. »Wenn andere Freunde hier zu treffen sind.«

»Ich meine, die Stimme sollte ich kennen«, sagte de la Motte.

Und Martha fügte hinzu: »Sind Sie nicht Herr von Hofen?«

»Ach Sie, gnädige Frau! Welch erfreuliche Begegnung! Guten Abend, Herr Professor, jetzt weiß ich auch, wer Sie sind. Sie haben mich aber eben fast erschreckt. Ich fühlte mich sowieso schon etwas als Einbrecher. Vorhin war ich nämlich bei Ihrem Herrn Vater, gnädige Frau, dann verlockte mich der schöne Herbstabend, noch ein wenig auf den Burgberg hinaufzusteigen. Die Tür an der Brücke dort war offen, als ich fortging, eben fand ich sie geschlossen. Ich habe mit Aufbietung meiner besten Turnerkünste hinüber voltigieren müssen.«

»Wir haben es gesehen«, sagte de la Motte ein wenig kühl. Was Hofen erzählte, klärte sein wunderbares Erscheinen aus der Tannenschonung hervor nicht auf. »Aber wenn Sie droben waren auf dem Burgberg, haben Sie dann den goldenen Fels nicht auch leuchten sehen?«

»Keine Spur! Hat er wieder geleuchtet?«

»Vor kaum zehn Minuten. Wir haben es beide gesehen.«

»Das tut mir leid. Ich hätte so etwas gern einmal erlebt.«

Er plauderte noch weiter in seiner leichten Art und ging mit ihnen unter die Bäumen zurück. Alle drei wandten sich dann der Landstraße zu, traten hinaus in das immer stärker gewordene Mondlicht. Hier war es, wo de la Motte sich plötzlich zu Hofen wandte: »Verzeihen Sie, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, Sie haben sich den Rock zerrissen und beschmutzt.«

»Wahrhaftig! Das kommt von meinem jugendlichen Leichtsinn. Weshalb muss ich auch bei nachtschlafender Zeit in den Bergen herumklettern? Der Weg dort hinauf ist glatt und steinig, und an einer Biegung bin ich gestolpert und gefallen. Der Stacheldraht um die Schonung hat mich gütigst aufgefangen und mir dies Andenken hinterlassen. Ich danke sehr, Herr Professor, für den freundlichen Hinweis.«

Er begann, seinen mit Nadeln und Erde beschmutzten Rock abzuklopfen, und zagte dann, als er sich notdürftig gereinigt hatte: »Jetzt will ich mich aber den Herrschaften empfehlen. Wir alle haben hoffentlich eine gute Nacht. Wer weiß, wofür wir morgen unsere Kräfte gebrauchen werden?«

Er sprach in einem plötzlich veränderten, ernsthaften, beinahe feierlichen Ton, drückte beiden die Hand mit kräftiger Herzlichkeit und ging eilig davon.

»Irgendetwas ist bei der Sache nicht in Ordnung«, sagte der Professor nachdenklich. »Aber ich halte diesen Herrn von Hofen für einen Ehrenmann.«

»Ich auch«, bestätigte Martha, doch zeigte der Ton, in dem sie sprach, dass ihre Gedanken weit ab waren von ihren Worten.

Sie ging mit ihrem Schwiegervater bis an die Gartentür der Villa, wo sie von ihm Abschied nahm. Sie trat auch in die Tür, drinnen aber blieb sie bald wieder im Baumschatten stehen, horchte noch ein paar Minuten hinaus in die Nacht und öffnete dann leise wieder die Tür zur Straße. Sie konnte nicht schlafen gehen, ohne Burkhardt gesprochen zu haben. Er musste ja kommen! Um ein Gespräch am Abend hatte sie gebeten. Es war unmöglich, dass er sie vergebens warten ließ.

Durch den Anblick des leuchtenden Felsens, durch das Gespräch mit ihrem Schwiegervater, durch Hofens unvermutetes unheimliches Erscheinen war die Qual der Angst in ihrer Seele nur noch verstärkt worden. Sie hatte das Gefühl, als ob finstere Mächte sie ringsum lauerten, aus der Dunkelheit nach ihr griffen. Und auch in ihr selbst waren diese verderblichen Mächte still am Werk. Das lange Warten, das vergebliche Hoffen auf Burkhardts Erscheinen ließen den Glauben an seine Schuld größer und größer werden. Und andere, bittere Gefühle mischten sich hinein. Dass er nicht ebenso sich danach sehnte, mit ihr zu sprechen, dass er sie nicht nötig zu haben schien in solch grausamer Not und Sorge, das trieb ihr Tränen misstrauender Liebe heiß in die Augen.

Das Tor der Fabrik war jetzt geschlossen. Sie konnte nicht hineinschauen, um zu sehen, ob Burkhardts Fenster hell geworden waren. Sie wusste nicht mehr, sich zu helfen, schluchzte laut auf in einsamer Qual. Da, sie hörte plötzlich auf zu weinen. Von der Stadt her kam das Rollen eines Wagens, wurde stärker, verstummte vor der Fabrik. Als ob jemand es ihr zugerufen hätte, wusste Martha jetzt: Er kommt! Er war es wirklich, stieg aus, der Wagen wendete, rollte davon. Und an der Fabrikmauer her kam Burkhardt ihr nun wirklich entgegen.

Aber in diesem Augenblick verwandelte sich Marthas Gefühl auf seltsame Weise. Sie schrak zurück vor dem, was ihr Herz ersehnt hatte. Die Schwere des Verdachtes, der in ihr war, legte sich erdrückend auf ihre Seele. Wie sollte sie Worte finden für solch ein Gespräch?

Sie blieb stehen, ließ ihn stumm herankommen, fasste an die Mauer, um sich zu stützen. Sie sah, wie seine Hände sich nach ihr ausstreckten, hörte seine Stimme, die sagte: »Da bin ich, endlich!« Aber sie konnte die Hände nicht fassen, konnte kein Wort hervorbringen.

Er sah sie verwundert an. »Du hast auf mich gewartet, sei nicht böse, dass ich nicht eher kam. Ich sage dir nachher, was mich abgehalten hat. Lass uns hinübergehen unter die Bäume.«

Mechanisch, wortlos ging sie neben ihm dahin. Es war ihr auf einmal, als ob er ihr ein Fremder geworden wäre. »Dieser Mann hat einen Menschen getötet.« Jedes andere Gefühl ging unter in dem einen, von ihrem überreizten Empfinden ins Unangemessen gesteigert.

In der Allee blieb sie vor ihm stehen, hier fand sie das erste Wort. »Sag mir, von heute Morgen.«

Er nickte. »Ja, davon muss ich sprechen. Das war ein schwerer Tag!«

»Ein schwerer Tag!« Mit einem Aufschluchzen wiederholte sie die Worte.

»Du musst vor allen Dingen das eine wissen: Ich habe vor seinem Tod mit Ebisberg gesprochen. Ich habe mit ihm einen Streit gehabt.«

»Ich weiß es.«

»Woher?«

»Einerlei, woher.«

»Gut, es ist einerlei. Du weißt auch, was für eine Wut ich auf diesen Menschen hatte. Mit Recht! Ich habe die ganze Nacht mit meiner Erbitterung gekämpft. Heute Morgen fing ich einen Brief an dich an, um dir zu sagen, dass ich nicht für mich einstehen könnte, wenn ich ihm begegnete.«

Martha nickte wieder stumm. Sie kannte den Brief.

»Dann bin ich ihm wirklich begegnet. Ich wollte zu deinem Vater, um ihm die Listen zu bringen. Ich ging in sein Arbeitszimmer unten. Er hatte mich dorthin bestellt. Als ich eintrat, stand Ebisberg vor mir.«

Er stockte, schwieg für einen Augenblick. Martha trat einen Schritt von ihm zurück.

Aber schon begann er von Neuem: »In dem Augenblick habe ich an mich halten müssen, dass ich mich nicht auf ihn stürzte. Das ist mir nicht leicht geworden. Ich habe dann zu sprechen angefangen, habe ihm gesagt, worüber ich mit ihm Abrechnung zu halten hätte. Mit kalten, spöttischen Worten hat er mich gereizt, hat mir die geforderte Genugtuung verweigert. Noch einmal hat mich da die Wut gepackt.«

»Wie damals, nicht wahr?«, fragte sie schnell.

»Damals, wann?«

»In Amerika. Du hast ihn ja schon einmal niedergeschlagen, und aus weit geringerem Anlass.«

»Damals, ja.« Burkhardt schwieg. Sie meinte zu fühlen, dass er sein Bekenntnis vergeblich in Worte zu fassen suchte. Dann aber sprach er plötzlich ganz rasch und auffallend laut, wie sie meinte. »Nein, ich habe es nicht getan. Ich habe den Menschen nicht niedergeschlagen, habe ihn lebend verlassen.«

»Max!« Es war kein Freudenruf, der von ihren Lippen kam. Hatte sie sich getäuscht, oder war wirklich ein fremder, unwahrer Ton in seinen Worten gewesen? Ihr Ohr meinte, solchen Ton vernommen zu haben, und mehr noch als der Verdacht einer leidenschaftlichen, raschen Tat, schmerzte sie der Zweifel an seiner Aufrichtigkeit.

Sie wich noch ein wenig weiter von ihm zurück und sagte ganz langsam, als ob ihr die Lippen von ihren Worten verbrannt würden: »Das kann ich dir nicht glauben.«

Er verteidigte sich nicht, wurde nicht heftig oder leidenschaftlich. Er sah sie nur lange schweigend an, obwohl er ihr Gesicht in der tiefen Dämmerung nicht erkennen konnte, und sagte leise: »Das ist sehr traurig für mich.«

Plötzlich trat sie wieder ganz nahe vor ihn hin: »Ist es etwa nicht auch traurig für mich? Ich könnte schreien vor Schmerz, dass ich an dir zweifeln muss! An deinem Vertrauen zu mir, an deiner Wahrhaftigkeit. Ich hatte gedacht für zwei Menschen wie wir, die sich nach so langer, furchtbarer, grausamer Trennung eben wieder zusammengefunden haben, müsste nun auf immer alles gemeinsam sein. Zwischen ihnen könnte, dürfte kein Schatten einer Unwahrheit sein. Was ist mit Ebisberg? Ich gestehe es, ich habe vorhin vor dir geschaudert, weil ich mir dachte: Seine Hand hat einen Menschen getötet. Aber jetzt weiß ich’s, das hätte ich  dir verziehen. Hundert Mal, tausend Mal, wenn du mir offen gesagt hättest: »Ich hab’ es getan, hab’ es tun müssen.« Aber dass du mich belügen kannst in solchem Augenblick …«

»Warum zweifelst du an meinem Wort?«

»Weil ich dich kenne. Weil du heftig und jähzornig warst von jeher, auch gegen ihn. Und weil ich dein eigenes Zeugnis habe gegen dich. Vorhin war ich in deiner Wohnung, ich suchte dich. Dort fand ich den angefangenen Brief, ich hab’ ihn gelesen. Du selbst hast mir darin geschrieben, dass ich von dir verlangt habe, was über deine Kraft war. Und ich weiß auch, warum du mir die Wahrheit jetzt verschweigst. Weil du mich schonen willst. Aber ich will keine Schonung. Ich gehöre zu dir. Ich will meinen Anteil haben an dem Furchtbarem, das auf dir liegt. Ich muss es ja glauben, dass du schuldig bist an dem Tod, wie die anderen es tun.«

»Die anderen?« Er fragte zerstreut, scheinbar teilnahmslos.

»Ja, sie alle glauben es. Mein Mann hat euren Wortwechsel vom Zimmer nebenan gehört, er hat es vor den Herren vom Gericht ausgesagt. Sie waren in deiner Wohnung, haben alles durchsucht, müssen auch den Brief gefunden haben. Das wollte ich dir sagen, darum habe ich hier auf dich gewartet. Ich wollte dich warnen, dir helfen bei deiner Flucht. Ich wäre bei dir geblieben, hätte nicht mehr gefragt nach Welt und Menschen, hätte sogar mein Kind verlassen um deinetwillen. Aber ich konnte Wahrheit von dir fordern, du hast sie mir nicht gegeben.«

Burkhardt richtete sich auf, sprach aber nicht gleich. Für ein paar Sekunden klang das Rauschen des Wassers in der Tiefe neben ihnen ganz allein und seltsam laut in der Stille. Dann sprach er wieder, undeutlich, mit schwerer Zunge. Martha hörte, wie die Leidenschaft ihn packte. »Das ist mir das Ärgste, dass du mir nicht glaubst. Ich habe das nicht erwartet und nicht um dich verdient. Es hat keinen Zweck mehr, weiter mit dir zu sprechen. Lebe wohl.«

Er wandte sich von ihr ab und ging mit schweren Schritten hinweg, aus dem Dunkel hinaus in die schimmernde Helle, die seine schwarze, tief gebeugte Gestalt umfloss.

Martha hatte nun doch unwillkürlich die Hände nach ihm ausgestreckt, um ihn zu halten. Dann, als er weiter und weiter von ihr fortging, als in der Entfernung seine Gestalt kleiner und kleiner wurde, schrie sie plötzlich laut auf, rief zweimal in fassungsloser Verzweiflung seinen Namen. Und als er nicht umkehrte, nicht einmal den Kopf zurückwandte zu ihr, da sank sie nieder auf die Knie, schluchzte laut auf und presste die Stirn gegen den rauen Stamm eines Baumes.