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Die Gespenster – Erster Teil – Zwanzigste Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Zwanzigste Erzählung

Von dem Rübezahl, einem äußerst gutmütigen Gespenst des Riesengebirges

Das wegen seiner Gutmütigkeit mehr berühmte als berüchtigte Gespenst Rübezahl, welches im Riesengebirge wohnen und in Böhmen vielfältig gesehen worden sein soll, ist wegen seiner ganz eigenen Natur besonders merkwürdig.

Balbinus hat uns folgende Charakteristik von demselben entworfen:

»Das gute Gespenst Rübezahl nimmt alle Gestalten an. Bald ist es in eine Mönchskutte, bald in einem Bergmannshabit gekleidet. Dann stellt es wieder einen Jäger, dann ein altes, kaum zwei Fuß hohes Männchen vor, dessen herabhängender Bart bis zur Erde reicht. Ein anderes Mal begegnet es den Reisenden in Gestalt eines wilden Pferdes oder einer Kröte oder eines Haushahns oder eines Raben. Und dies soll es besonders dann tun, wenn man es beleidigt oder wenn es ausgelacht und darüber böse geworden ist. Sonst lässt es sich in Menschengestalt sehen, spricht gerne mit Leuten, weist ihnen freundlich den Weg, lehrt sie die Seltenheiten der Natur, die sich im Riesengebirge finden, kennen, macht ihnen auch öfters Wurzeln und andere dergleichen Kräuter zum Geschenk und tut dem, der sich weder mit Worten noch durch Werke an ihn vergriffen hat, auch nicht das Geringste zuleide. Hat man es aber durch Hohngelächter oder Schmähreden aufgebracht, so nimmt es gleich eine scheußliche Gestalt an, setzt es jeden in Schrecken, schwärzt den Himmel und macht augenblicklich, dass es blitzt, donnert, regnet, und mitten im Sommer bei der unerträglichsten Hitze friert und schneit. Die ganze Nachbarschaft des Gebirges hat oft dergleichen erfahren, doch hat man noch nie sagen können, dass dieses Gespenst je einen Menschen verwundet oder getötet hätte. Es rächt sich nie weiter, als dadurch, dass es die Beleidiger erschreckt oder verspottet, ist von Natur gutherzig oder wird von einer höheren Macht zurückgehalten, dass es nicht so wie andere böse Geister wüten und toben kann.«

Da dieses Gespenst vorzüglich in den finsteren böhmischen Gegenden, welche das Riesengebirge begrenzen, hausen soll und aus den frühesten Jahrhunderten des Mönchswesens hergeleitet wird, so könnte mancher Ungläubige auf die Vermutung geraten, dass die nämlichen müßigen Mönchsköpfe, aus welchen das Märchen von der Gräfin Perchta (an protestantischen Höfen die weiße Frau genannt) floss, auch diesen Rübezahl ausgeheckt, gehegt und gepflegt haben mochten. Allein folgende erst vor Kurzem gemachte Erfahrung, die ich einem durchaus zuverlässigen Freund verdanke, beweiset hinlänglich, dass dieses gutmütige Gespenst, unter dem Namen Rübezahl den Reisenden wirklich noch heute zuweilen erscheint.

Herr Gebauer, Gouverneur auf der Ritterschule zu Liegnitz, machte einige Zeit vor der im Jahre 1790 erfolgten Annäherung der preußischen Truppen gegen die böhmische Grenze eine Reise durch das Riesengebirge. An einem Vormittag, wie er in einer der Gebirgsbauden von dem bereits zurückgelegten Wege ausruhte, erblickte er schon in einiger Entfernung einen Bettelmönch, der mit ungewöhnlich eilfertigen Schritten der nämlichen Gebirgshütte zueilte. Der Mönch näherte sich, schnappte nach Luft, warf wilde Blicke hinter sich zurück, und der Angstschweiß tröpfelte ihm von der Stirn.

Herr Gebauer: »Warum so verstört und so schüchtern, lieber Pater?«

Der Mönch: »Gottlob, dass ich wieder unter Menschen bin.«

Herr Gebauer: »Nun, waren Sie bisher unter reißenden Tieren?«

Der Mönch: »Das wohl nicht, aber in Gesellschaft des Rübezahl.«

Herr Gebauer (laut auflachend): »Also unter Gespenstern! Aber fürchteten Sie den? Der ist ja das gutmütigste Gespenst von der Welt!«

Der Mönch: »Schon recht, er hat mir auch eben nichts Leides getan – aber wer ist gerne bei Geistern?«

Herr Gebauer. Wie kamen Sie denn um des Himmels willen zum Rübezahl?«

Der Mönch: »Ei, er kam zu mir! Ich würde mich wohl hüten, ein Gespenst aufzusuchen. Dies ist schon das dritte Mal, dass es mich hier im Gebirge beim jährlichen Almosensammeln für unser Kloster ängstigt!«

Herr Gebauer: »So ist ja Rübezahl bereits ein alter Freund und Bekannter von Ihnen, vor welchem Sie sich doch nun nicht mehr fürchten werden?«

Der Mönch: »Ja, wenn es immer die nämliche Gestalt wäre, aber so ein veränderliches Gespenst, wer kennt das immer gleich wieder? Das erste Mal erschien er mir in der Gestalt eines gewaltig großen Raben. Ich habe mein Lebtag einen so scheußlichen Raben nicht gesehen. Es fehlte nicht viel, er hätte mich irregeleitet. Er flog vor mir hin und her, und da ich fast ununterbrochen nach ihm hinsah und die Augen nach dem Himmel hatte, so war ich ganz vom Wege abgekommen.«

Herr Gebauer: »Sehr begreiflich! Und wie sah Rübezahl das zweite Mal aus?«

Der Mönch: »Wie ein leibhafter Garnhändler. Er war außerordentlich klein, grüßte mich und wiederholte eine Anrede, die ich in der Angst nicht verstand. Mich dünkt, er sagte etwas von einem Gewitter. Ich dankte ihm zwar höflich, stand ihm aber weiter keine Rede. Da ging er brummend von mir, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und schickte mir Donner und Blitz über den Hals.«

Herr Gebauer: Das war also wohl ein schwüler Tag?«

Der Mönch: Für mich? Ei ja wohl, es war mir nicht wohl dabei zumute, und gar sehr warm war es auch.

Herr Gebauer (lächelnd über das Missverständnis): Nun, und das heutige Gespenst?«

Der Mönch: »War ein Jäger, wie er leibt und lebt. Eine grüne Jacke und Schärpe, gelbe Beinkleider und Stiefeletten, an der Seite ein Waidmesser, über den Schultern Jagdtasche und Flinte; alles hatte Rübezahl nachgeäfft, wie man es an einem wirklichen Jäger findet. Sogar einige Vogelfedern zum Säubern des Zündloches hatte er an den Hut gesteckt. Aber sein Angesicht war blass wie das Angesicht einer Leiche. Ich sah ihn schon von Ferne und nahm Reißaus, aber er kam mir zuvor und redete mich lächelnd an. Ich hielt das für einen Umstand von guter Vordeutung, fasste daher ein Herz und antwortete ihm. Aber nun war ich verloren, das Schwatzen hatte kein Ende. So stark ich auch ging, so hielt er doch lange Schritt mit mir. Ich wagte es einige Male, ihn verstohlen anzusehen, aber ich konnte den fürchterlichen Blick des Gespenstes nicht ertragen, denn es sah mich immer starr und forschend an. Es wollte von mir den Weg nach Schreibersaue erfahren. Ich wusste jedoch, dass Rübezahl im ganzen Gebirge Bescheid weiß, und selbst jeden Verirrten, der ihn nicht beleidigt, wieder zurechtweist. Er wollte mich nur ängstigen, das merkte ich wohl.«

Herr Gebauer: »Aber war es denn auch wirklich ein Gespenst?«

Der Mönch: »Ei ja wohl! Warum hätte ich mich denn sonst so schrecklich vor ihm gefürchtet?

Herr Gebauer (lächelnd über die Einfalt): »Die Schlussfolgerung ist freilich richtig. Aber wo haben Sie den lästigen Reisegefährten nun endlich gelassen?«

Der Mönch: »Ich verdoppelte aus allen Kräften meine Schritte. ›Gemach! Gemach, Herr Pater!‹, sagte er einige Male. Da ich aber dennoch fortfuhr, mehr zu rennen als zu gehen, brummte er ›Lauf Teufel lauf!‹ und verschwand.«

Herr Gebauer, der ohnehin schon gleich nach eingenommener Erfrischung im Begriff gewesen war, gerade in die Spukgegend hin seinen Wanderstab fortzusetzen, brach nun sogleich auf und äußerte den sehnlichen Wunsch, dass er doch auch einmal so glücklich sein möchte, Rübezahls Bekanntschaft zu machen.

Der Klostertropf schüttelte bedenklich den Kopf zu diesem Wunsch und gab ihm manche gut gemeinte Warnung mit auf den Weg. Unglück und Geister, meinte er, kämen wohl ungerufen.

Wirklich war Herr Gebauer kaum eine halbe Stunde tiefer ins Gebirge hinein, so hatte der Rübezahl ihn oder er den Rübezahl erwischt. Das Gespenst war – ungeachtet es seine Gestalt nach Willkür oft und vielfach verändern kann -noch ganz so, wie es dem Mönch vor einer Stunde erschien: blassen Angesichts, übrigens ganz wie ein Jäger gekleidet, und mit Schießgewehr versehen.

Herr Gebauer: »Guten Morgen, mein lieber Rübezahl!«

Rübezahl (mit forschendem Blick und lächelnd): Guten Morgen, mein Herr!«

Herr Gebauer: »Gute Jagd gemacht?«

Rübezahl: »Ja, wenn Mönche Wildbret wären.«

Herr Gebauer: »Wieso? Er war es also, der den feisten Mann in der Mönchskutte dort unten so unbarmherzig jagte?«

Rübezahl: »Ja wohl jagte; aber ich verlor die Fährte. Ein feister Damhirsch an der Stelle des Tropfes hätte indessen mich nicht auslaufen oder mir wenigstens nicht entwischen sollen.«

Herr Gebauer: »Ahndet Er wohl, wofür Ihn der geängstigte Klosterbruder gehalten hat?«

Rübezahl: Sein schüchternes Wesen und Ihre Anrede sagten es mir deutlich genug. Auch ist es nicht das erste Mal, dass man mich, zumal in dieser Entfernung vom Wohnort, für den Rübezahl hält.«

Herr Gebauer: Darf ich fragen, wie Sein Wohnort heißt?«

Rübezahl, d. h. der Jäger: »Schreibersaue; ich diene dem Herrn Grafen von Schafgotsch.«

Herr Gebauer: »Aber wie ist es möglich, Ihn, lieber Freund, mit dem berühmten Gebirgsgespenst zu verwechseln?«

Jäger: »Der Einfalt, mein Herr! Dem Furchtsamen sind wohl noch ärgere Dinge möglich. Meine von Natur blasse Gesichtsfarbe mag auch das Ihre dazu beitragen, die Einbildungen der Abergläubigen vollends irrezuleiten.«

Ein aufspringendes Wild trennte bald darauf die Schwatzenden.

Der vermeinte Rübezahl – ein Mensch wie alle Menschen – folgte seinem Jägerberuf, und mein Freund, hoch erfreut über die gemachte Bekanntschaft, ging seinen Weg in Frieden.