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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 16


Unter den Marktträgern

»Zum Boulevard Rochechouart«, sagte Berthe, die junge Anstaltskrankenschwester, den Fahrzeugführer, als sie in die eben losfahrende Tram hüpfte.

Es war ein Septembernachmittag, einer der letzten schönen Tage des nun schnell dahinschwindenden Sommers, und die junge Frau hatte gerade ihre vierzehntägliche Zweitagefreizeit angetreten. Am Mittag hatte sie ihren Arbeitsplatz verlassen und nun bis zum nächsten Mittag Zeit, sich ihrer Persönlichkeit bewusst zu werden und die Beklemmungen abzuschütteln, mit welchen jeder behaftet ist, der mit der konstanten Pflege von Verrückten betraut ist, die verstörendste Sorte von Patienten, die es gibt.

Üblicherweise verbrachte Berthe ihren vierzehntäglichen Urlaub bei ihren alten Großeltern in deren Häuschen außerhalb von Paris, aber dieses Mal hatte sie sich entschieden, in Paris zu bleiben, beeinflusst von ihrer langen Unterhaltung mit der ihr anvertrauten Patientin No. 25, Madame Rambert. Seit diesem ersten Gespräch mit ihr, am Tage des Besuches von Professor Swelding in der Anstalt, folgten weitere. Berthe hatte nun einen Plan ausgearbeitet, die Flucht der vorgeblich Irren zu ermöglichen, und wollte nun ihren kurzen Urlaub dazu nutzen, diesen Plan voranzutreiben.

Am Boulevard Rochechouart stieg Berthe aus der Tram, sah zur Orientierung in dieser ungewohnten Umgebung um sich, wandte sich dann in die Rue Clignancourt, um sich auf der linken Seite der Straße wiederzufinden, wo sie die Läden betrachtete. Der Dritte war ein Weinladen, der Erste von so vielen in dieser Straße.

Berthe schob die Tür dieses Etablissement ein wenig auf und schaute auf die ziemlich rauflustige Gesellschaft, die sich um die zinkene Theke lümmelte, allesamt mit erröteten Gesichtern und laut diskutierend.

Sie ging nicht weiter hinein, sondern fragte mit klarer Stimme: »Ist Monsieur Geoffroy hier?«

Niemand fühlte sich direkt angesprochen, aber die Kerle drehten sich zu ihr um. Als sie ihre hübsche Erscheinung bemerkten, fingen sie an, sich gegenseitig zu stoßen, zu scherzen und rau zu lachen.

»Kommen Sie doch rein, Mademoiselle«, sagte einer, doch Berthe hatte die Türe bereits schnell geschlossen und ging leichtfüßig weiter.

Wenige Meter weiter befand sich schon die nächste Bar, und wieder schaute Berthe hinein und fragte: »Ist M. Geoffroy hier?« Wie zur weiteren Erklärung ergänzte sie noch: »Hogshead Geoffroy, meine ich«.

Dieses Mal folgte ein tosendes Gelächter, und die junge Frau floh mit Schamesröte im Gesicht.

Dennoch gab sie ihre seltsame Suche nicht auf, und schließlich, im sechsten Laden, wurde ihre Frage von einer tiefen Stimme aus der hintersten Ecke der rauchgeschwängerten Bude beantwortet.

»Hogshead Geoffroy? Hier bin ich!«

Mit einem erleichterten Seufzen ging Berthe hinein.

 

***

 

Willst du Monsieur Hogshead Geoffroy treffen, so ist dein Vorgehen so einfach wie sonst irgendetwas. Da er keine bekannte Adresse besitzt, besteht deine ganze Aufgabe darin, auf der linken Seite der Rue Clignancourt zu beginnen und in jedes Weingeschäft zu sehen und laut genug zu rufen, um das übliche Getöse zu übertönen, ob Hogshead Geoffroy anwesend ist. Es wäre wirklich Pech, wenn nicht aus irgendeiner dieser Bars die Antwort käme: »Hogshead Geoffroy? Hier bin ich!«, gefolgt von einer umgehenden Bestellung des Herrn an die Patronne: »Ein kleines Bier, bitte! Der Herr zahlt!«

Es ist eine sichere Bestellung. Die Patronne weiß aus alter Erfahrung, dass sie das kleine Bier ohne Zögern servieren kann. Hogshead Geoffroy trinkt es in einem Zug aus, streckt dem Besucher dann seine riesige und haarige Hand entgegen, um zu fragen: »Nun, was gibt es?«

Wenn, wie so oft, sich Hogshead einem Fremden gegenüber befindet, so ist er nicht überrascht. Er weiß sehr wohl um seine Bekanntheit, und ist dabei eine bescheidene Seele, so nennt er seinen Besucher gleich bei seinem Taufnamen, klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter, bezeichnet ihn als »alten Kumpel« und lädt ihn auf einen Drink ein. Hogshead ist ein Künstler in seiner Liga. Er lässt sich selbst mit seiner kraftvollen Stimme, verstärkt von einem Sprachrohr, in öffentlichen Hallen mieten, wo er die verschiedenen Programmpunkte oder Ergebnisse von Darbietungen ankündigt. Auch hält er die Mengen für Schausteller in Schach oder schüchtert begeisterte Demonstranten mit geknurrten Drohungen bei öffentlichen Demonstrationen ein. In der Zwischenzeit rollt er Bierfässer hinunter in die Keller, füllt Weinflaschen ab und trinkt unter Freunden, wenn diese dafür zahlen können.

 

***

 

Beim Anblick von Berthe jedoch sparte sich Hogshead Geoffroy seine Gewohnheit, ein Bier bei der Patronne zu bestellen. Stattdessen erhob er sich, ging der jungen Frau entgegen und umarmte sie ungezwungen.

»Ah-ha, kleine Schwester, da bist du ja! Wie kommt es, gerade habe ich an dich gedacht!« Er zog sie nach hinten in den Laden, in Richtung einiger stämmiger, breitschultriger Kumpane, die dort tranken, und stellte sie ihnen vor.

»Also, Jungs, bitte benehmt euch. Ich stelle euch eine charmante junge Dame vor, meine Schwester Berte, die kleine Bob – Bobinette, wie wir sie genannt haben, als wir noch zu Hause lebten.«

Die junge Frau errötete, da sie sich etwas unwohl in dieser gemischten Gesellschaft fühlte, aber Hogshead Geoffroy beruhigte jeden. Er nahm ihr Kinn in die Hand und hob ihren Kopf an. »Ist sie nicht hübsch, meine kleine Schwester? Sie gleicht aufs i-Tüpfelchen ihrem Bruder!«

Dies führte zu allgemeinem Gelächter. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gestalten war so groß, dass es nahezu unmöglich schien, irgendeine Verwandtschaft zwischen ihnen zu erkennen: die grazile, zierliche, petite Parisienne, die neben diesem Koloss von einem Zwei-Meter-Mann, mit der Brust eines Bullen und den Schultern eines Athleten noch winziger wirkte.

»Wir sehen vielleicht nicht so aus wie aus einem Guss«, gab M. Geoffroy zu, »aber doch ist da die Familienähnlichkeit!«

Die Kerle machten der jungen Frau Platz. Nachdem sie sich in ihrer allgemeinen Ablehnung erweichen lassen und ein Glas Wein angenommen hatte, beugte sich Geoffroy vor und sprach in gedämpftem Ton: »Nun, was willst du von mir?«

»Ich will mit dir über etwas sprechen, das dich ganz bestimmt interessieren wird«, antwortete Berthe.

»Ist da was zu holen?«, war die nächste Frage des Riesen.

Berthe lächelte. »Davon gehe ich aus, sonst hätte ich dich nicht gestört.«

»Wo immer Geld zu machen ist, Hogshead ist dabei«, erwiderte er. »Insbesondere gerade jetzt, wo es nicht so rosig läuft, obwohl ich dir sagen kann, dass sich in dieser Hinsicht etwas bessern könnte.«

»Hast du eine Stelle gefunden?«, fragte Berthe in einiger Überraschung.

Hogshead Geoffroy legte seinen Finger auf die Lippen.

»Es ist noch ein Geheimnis«, sagte er dann, »aber es macht nichts, davon zu reden. Jeder hier weiß alles darüber.« In epischer Breite und mit reichlich Trinkpausen erklärte er ihr, dass er einer der Kandidaten für den Posten als Marktträger sei. In den vergangenen 14 Tagen hatte er sich so vollgestopft, dass er aus der üblichen Sichtung, der die Kandidaten immer unterworfen waren, triumphierend hervorgegangen war, und an eben diesem Morgen hatte er im Rathaus mit einem mathematischen Problem gerungen.

Zum Beweis zog er ein verknülltes, fettiges und weinbeflecktes Stück Papier aus seiner Tasche, das mit seiner kindlichen Handschrift und Zahlen übersät war, und zeigte es seiner Schwester, enorm Stolz darauf, welchen Effekt er damit auf diese ausübte.

»Ein Problem«, wiederholte er, »schau: Aus zwei Hähnen füllt sich der Tank zu je 20 Liter pro Minute, aus einem dritten Hahn entleert sich der Tank mit 1500 Liter je Stunde. Wie lange benötigt der Tank für eine Füllung?«

Einer von Geoffroys Freunden kam dazwischen. Es war der bleiche Benoît, sein ärgster Mitbewerber um diese Stelle.

»Und wie lange benötigst du, um voll zu sein?«, warf er unter großem Gelächter ein.

Hogshead Geoffroy schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das hier ist eine ernste Unterredung«, sprach er und wandte sich wieder seiner Schwester zu, die wissen wollte, ob er erfolgreich die Lösung des Problems gefunden hatte. »Ich hab es über den Daumen gepeilt. Wie du weißt, sind Mathematik und all diese höllischen Späße nicht mein Ding. Eine Stunde lang dazusitzen, an einem Tisch im Rathaus genauso wenig! Das hat mich mehr zum Schwitzen gebracht, als vier Zentner zu schleppen!«

Die Gesellschaft war dabei, sich wieder auf den Weg zu machen. Die Zeit verging. Um achtzehn Uhr sollte der zweite Teil der Prüfung, der Stärketest, auf dem Fischmarkt stattfinden. Der bleiche Benoît hatte seine Zeche schon gezahlt und Hogshead Geoffroys hinaustreibende Bande von Freunden wurde unruhig. Berthe gewann neues Ansehen in den Augen ihres Bruders, als sie ihre Getränke mit einem Zehnfranc-Stück zahlte und das Wechselgeld für ihn als Kredit anschreiben ließ. Danach verließ sie mit ihm das Weingeschäft.

 

***

 

Der jährliche Wettbewerb, um als Marktträger auserkoren zu werden, wird Ende September ausgetragen. Es ist ein großes Fest. Üblicherweise gibt es einige Kandidaten, aber nur zwei oder drei der Besten, manchmal auch weniger, werden ausgewählt. Die Stellen sind nur wenige und gut, denn die Zahl der Träger ist begrenzt. Die Prüfung findet in zwei Teilen statt: einer rein intellektueller Natur, aus ein paar einfachen Fragestellungen und etwas Diktat bestehend. Der andere ist der Kraft gewidmet, dabei müssen die Kandidaten einen drei Zentner schweren Sack mit Schrotmehl über eine Strecke von gut 182 Metern in kürzester Zeit schleppen.

Pünktlich um achtzehn Uhr waren die Marktfrauen an ihren Plätzen bei den zugehörigen Buden entlang dem Gehsteig. Die Halle war mit Flaggen geschmückt. Die Geschäftsleute und Ladenbesitzer bekamen Stühle zugewiesen, ihre Assistenten standen hinter ihnen, mit den Fegern und Anfeuerern. Dahinter standen drei oder vier Reihen Schaulustiger, allesamt eifrig dabei, dieses eindrucksvolle Spektakel nicht zu versäumen.

Die Strecke war sorgfältig gereinigt, jedes kleinste Hindernis war vom Asphalt gefegt worden, insbesondere Reste von Orangenpelle, Salatblätter und Stücke von glitschigem Gemüse, welche einen der Wettbewerber zum Ausrutschen bringen könnten, während der versuchte, den Rekord beim Sacktragen zu brechen.

Ein hoher Angestellter des Rathauses und drei der erfahrenen Marktträger bildeten die Jury, außerdem gab es zwei Offizielle des Radfahrerverbandes als Experten für die Zeitnahme, ausgerüstet mit geeichten Zeitmessern und beauftragt, die exakte Zeit bei jeder Darbietung zu stoppen.

Die Menge der Schaulustigen war bunt gemischt und sehr leidenschaftlich, wie man sich sicherlich vorstellen kann. Berthe, die wusste, dass falsche Bescheidenheit bei solchen öffentlichen Zusammenkünften fehl am Platz ist, mischte sich in die allgemeine Unterhaltung. Unter anderen merkwürdigen Gestalten hatte sie ein besonders schräges Individuum ausgemacht, das, obwohl er in der hintersten Reihe stand, den Rest der Menge mit der Hälfte seines Körpers überragte, denn er hockte auf einem antiquierten Dreirad, das die Fröhlichkeit des Mobs noch anstachelte.

»Oh, he, Bouzille!«, rief jemand laut, denn der Mann war eine sehr bekannte und öffentliche Person. Jeder kannte seinen Namen. »Ist das Methusalems Dreirad, das du da hast mitgehen lassen?«

Auf einige spaßige Fragen antwortete der Mann mit einem Lachen, das sich nahezu in seinem wirren Bart verlor und wieder anderen entgegnete er mit einem Scherz, hervorgebracht im reinsten Dialekt der Auvergne.

Jemand flüsterte leise in Berthes Ohr. Als sie sich umdrehte, sah sie einen stämmigen Kerl von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, gekleidet in ein blaues Hemd, mit einem roten Taschentuch um den Hals. Auf dem Kopf trug er die Mütze eines Viehtreibers. Er war ein gut gebauter, kräftiger Mann, und trotz seiner bescheidenen Kleidung hatte er ein intelligentes Gesicht und beinahe angenehme Manieren. Berthe antwortete ihm liebenswürdig, und es folgte noch ein wenig Geplauder.

»Falls es Sie interessiert, mein Name ist Julot«, stellte der Mann sich vor.

Berthe antwortete offen, ohne zu viel preiszugeben. »Und ich bin Bob, oder auch Bobinette, wie Sie mögen. Ich bin die Schwester von Hogshead Geoffroy«, fügte sie noch mit etwas Stolz hinzu.

Ein Gemurmel ging durch die Menge. Der Bleiche Benoît absolvierte gerade seine Prüfung. Der große Kerl kam in großen, rhythmischen Schritten daher, mit gelenkigen Gliedern und vorgebeugtem Oberkörper. Auf seinen breiten Schultern und dem Nacken balancierte er sicher einen riesigen Sack mit Schrotmehl, genau auf drei Zentner abgemessen. Ohne geringstes Zögern oder Verlangsamen des Schritts brachte er die fast zweihundert Meter hinter sich und erreichte das Ziel ohne Anstrengung gesund und munter. Für ein, zwei Momente stand er vor den Jurymitgliedern, stellte seine mächtigen Muskeln der nackten Brust zur Schau und machte seiner ehrlichen Freude Luft, dass er sich nicht schnellstmöglich der schweren Last entledigt hatte. Der Applaus war begeistert und unmittelbar, aber schnell wurde es wieder ruhig und alle Augen richteten sich auf den Startpunkt. Hogshead Geoffroy war an der Reihe.

Der Riese war wahrhaftig ein großartiger Anblick. Statt einfach zu gehen, wie sein Mitbewerber, bewegte er sich wie ein Turner und die Menge schrie erfreut. Es schien, als würde er die Zeit seines Gegners einfach einholen, aber plötzlich sah man den großen Sack auf seinen Schultern schwanken, und Geoffroy blieb beinahe stehen. Dabei stieß er ein heftiges Stöhnen aus, bevor er den Weg fortsetzte.

Die Menge war überrascht. wo er gerade gestanden hatte, war eine nasse Stelle im Asphalt zu sehen. Geoffroy war auf einem Stück Orangenpelle ausgeschliddert. Aber es gelang ihm, das Gleichgewicht des Sacks wiederherzustellen und, nun von dem Risiko vorgewarnt, zu laufen. Er beendete seine Strecke verhaltenen Schrittes.

 

***

 

Zwei Stunden später wurden die Ergebnisse des Wettbewerbs bekanntgegeben. Hogshead Geoffroy und der Bleiche Benoît waren gleichauf gewertet worden, mit exakt der gleichen Zeit, die Strecke zu bewältigen. Nun würde das Endergebnis von der schriftlichen Prüfung abhängen, und diese war um so wichtiger, da es in diesem Jahr nur eine freie Stelle für einen Marktträger gab.

Berthe, oder Bobinette, diskutierte mit ihren Nachbarn aufgeregt das Missgeschick, das Geoffroy während seiner Prüfung widerfahren war. Ein Mann, gehüllt in einen schäbigen schwarzen Überzieher, der bis unter das Kinn zugeknöpft war und mit einer Art Jockeymütze über seinem fettigen Haar, beobachtete sie dabei sehr genau, schien sie in allem zu bestätigen, was sie sagte, wobei er doch an ganz anderem interessiert war. Berthe, die sehr fixiert auf die Angelegenheit war, fiel das Verhalten dieses Menschen gar nicht weiter auf. Erst Julot, ihr anhänglicher Begleiter der letzten zwei Stunden, zog sie fort.

»Komm«, zog er sie am Ärmel, »dein Bruder erwartet dich doch.« Als sie sich entweichen wollte, flüsterte er ihr ins Ohr: »Dieser Typ ist ein niederträchtig aussehender Halunke. Ich halte nicht viel von ihm!«

»Er ist ganz gewiss ungewöhnlich hässlich«, gab die junge Frau zu. Aber dann, ganz die geübte Krankenschwester, die sie war, ergänzte sie: »Hast du seine Gesichtsfarbe gesehen? Der Mann muss krank sein. Er ist ja komplett grün!«