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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Freibeuter – Schiffbruch der Graf Mörner

Der-Freibeuter-Dritter-TeilDer Freibeuter
Dritter Teil
Kapitel 1

Norcroß hatte den Winter in einsamer Unverträglichkeit, fern von seiner Frau und seinen Freunden, siechend und in sein Zimmer gebannt im Marstrander Hafen zugebracht. Er war mit seinem Schicksal zerfallen und hatte sich so in sich hineingedüstert, dass er auf dem Punkt stand, ein Menschenfeind zu werden. Nur eine Hoffnung kettete ihn noch an das Leben, in den ersten Frühlingstagen auf das Meer hinauszufahren. Auf das unbeständige Element trieb ihn sein ödes Herz. Für nichts anderes hatte es mehr Sinn und Leidenschaft.

Und er rüstete sein Schiff und stieß hinaus in die winterlich bewegte Welle, zum Schrecken seiner Leute, zum Staunen der anderen, denn zu dieser Zeit getraute sich ohne Not kein Schiffer hinaus, und arge Stürme standen bevor. Niemand konnte sich erklären, was er schon draußen wolle, da an Beute noch lange nicht zu denken war. Er wusste es wohl, aber er schwieg. In seinen Mantel gehüllt, den Hut in die Stirn gedrückt, schaute er sehnsüchtig hinaus in die Wasserwüste. Die Wellen schlugen an das Schiff und grüßten zum Willkommen, und mit jedem Gruß wurde ihm leichter. In einer Kanonenluke saß Juel, seinem Gefängnis in Kopenhagen entschlüpft und mit Lebensgefahr nach Marstrand entwichen, und fing den Wellen die Schaummützen weg und freute sich kindlich des Spiels. Schon war das Schiff einen halben Tag gelaufen und niemand von der Bemannung wusste, wohin es bestimmt war. Es ging auf Geratewohl in der Nordsee, und Pehr Pehrson wusste seiner Verlegenheit kein Ende, dass er noch immer keine Befehle, die Richtung der Reise betreffend, vom Kapitän erhalten hatte. Endlich zog er kopfschüttelnd den Hosengürtel an, kämmte mit den Fingern die Haare unter die Lederkappe, schlug mit den nervigen Armen um sich, als wollte er irgendetwas Unangenehmes abwehren, schob dann seine eckige Gestalt auf den schweigsamen Kapitän zu, stellte sich vor demselben hin, grüßte seemännisch mit Ehrerbietung, räusperte sich und sprach mit heiserer Stimme: »Da Ebbe Reetz treulos geworden und zu den dänischen Hunden übergelaufen ist, so haben wir auf der Graf Mörner einen neuen Steuermann nötig gehabt.«

»Das hat seine Richtigkeit«, versetzte Norcroß.

Der Bootsmann, kein Freund vom Sprechen, erwartete, dass ihn der Kapitän verstanden habe, und verstummte so lange, bis ihn Norcroß durch ein kräftiges »Weiter!« zum abermaligen Reden antrieb.

»Wir haben auch diesmal einen Schiffskaplan an Bord genommen, damit die Jungen, wenn ihnen das Takelwerk zerschossen wird, nicht vom Teufel gekapert werden, sondern mit einem Avis des Kaplan in den Himmelshafen einlaufen. Ihr habt den Pfaffen selbst bestellt, und ob er wohl Gottes Willen weiß, wie er vorgibt, so weiß er doch nicht Euren, so wenig wie der neue Steuermann und ich.«

»Es ist auch nicht nötig«, versetzte Norcroß mürrisch.

»Nicht nötig? Für den Pfaffen, das ist wahr. Aber für uns, das ist nicht wahr. Wir müssen Euren Willen wissen, Kapitän, oder beim roten Dänen! Wir laufen in geradem Strich auf die Themse und legen an der Londoner Brücke an.«

»Seid Ihr toll, Meister Pehrson! Was sollen wir an der Londoner Brücke?«

»Dasselbe, was wir hier sollen. Sagt uns, wohin es gehen soll, und der Steuermann wird das Steuer und ich das Logbuch führen, wie sich’s gebührt.«

Der Bootsmann trocknete sich mit dem schmutzigen Ärmel seiner Leinwandjacke den Schweiß von der Stirn, den ihm das ungewohnte Sprechen ausgetrieben hatte. Nun erst verstand ihn der Kapitän und erinnerte sich lächelnd, dass er über die Richtung der Fahrt noch nichts bestimmt hatte.

»Haltet nur immer Backbord, Südwest.«

»Aber der Wind pfeift Nordwest und treibt uns den jütländischen Wällen zu.«

»Werft das Schiff gegen die anströmende See, refft alle Segel ein! Ich will’s einmal mit Sturm und Wellen zu tun haben.«

»Heiliger Gott!«, sagte der Bootsmann halb leise mit einer erschrockenen Bewegung und entfernte sich scheu zur Kajüte, während Norcroß sich wieder über den Hackebord bog und von Neuem seinen düsteren Gedanken nachhing.

Als der Bootsmann den Offizieren des Schiffs den Willen des Kapitäns mitgeteilt hatte, verfügte er sich in eine Ecke, wo an einem mit Gläsern bedeckten Tisch der Schiffschirurgus und noch ein anderer Mann saßen, welcher Letztere an dem schwarzen weiten, hier und da gestickten und abgetragenen Rock von grobem Tuch über Matrosenjacke und Beinkleidern, und an der schmutzigen Samtkappe als der neue Kaplan der Graf Mörner zu erkennen war.

»Unser Kapitän leidet am Verstand. Gott steh ihm bei!«, flüsterte Meister Pehrson diesen beiden zu, die mit einer schmierigen Karte Rommelpiket spielten, und deutete dabei, die Augen verdrehend, mit dem Zeigefinger nach der Stirn.

Das kleine, schwarzbraune, zusammengedrückte Gesicht des Kaplans hob eine aufgestülpte Nase und schwarze stechende Augen zu dem Sprecher empor und betrachtete ihn neugierig. Habermann blieb in seiner phlegmatischen Ruhe und lächelte dummgleichgültig vor sich hin.

»Entweder fehlt es ihm am Leib oder an der Seele«, fuhr der Bootsmann, die Worte mit Mühe zusammensuchend, fort. »Fürs Erstere muss Meister Habermann, fürs Letztere müsst Ihr Rat schaffen, hochwürdiger Herr.«

»Der Hexenmeister hat’s ihm angetan«, sprach Habermann, dabei gähnend. »Seit der Teufelsbraten fort ist, hat der Kapitän gekränkelt und ist kein Auskommen mit ihm gewesen. Hat doch den ganzen Winter über ein Geheimnis aus seinem Aufenthalt zu Marstrand gemacht werden müssen, damit ihn seine junge, hübsche Frau, die ihm nicht das Geringste zu Leid getan hat, nicht ausspüre und aufsuche. Das ist, mit Verlaub zu sagen, schon halb verrückt.«

»Wenn er vom bösen Geist besessen ist, so geht Ihr zuerst hinauf, Herr Magister«, bat der Bootsmann den Geistlichen. Unterdessen war auch der Kapitänlieutenant Gad hinzugetreten und sagte: »Prüft ihn genau, Leionstiern, und wenn Ihr Meister Pehrsons Vermutung bestätigt findet, so müssen wir zusammentreten und einen Rat halten, um zu einem vernünftigen Entschluss zu kommen, denn wir werden uns doch bei Seemannsehre nicht von einem Tollen dem Teufel in den Rachen führen lassen. Es gibt noch andere Männer, die die Graf Mörner zu des Königs besserer Zufriedenheit führen würden.« Damit warf er sich in die Brust und schaute selbstgefällig um. Aber niemand achtete auf ihn, und Meister Habermann sagte. »Mit Verlaub zu sagen, Herr Magister, Eure Bibel kommt mir vor wie mein Bindezeug. Ihr habt da drinnen alles, was man zu einer Seelenkur braucht, Zangen, die armen Seelen zu zwicken, Scheren, ihnen die bösen Gedanken auszuschneiden, Lanzetten und Messer, die gottlosen und lästigen Geschwüre zu stechen und zu schneiden. Na, sucht den Aderlassschnäpper heraus und zapft des Kapitäns vollblütiger Seele ein paar Pfund ab. Das wird helfen. Geht, Magister!«

Der Schiffsgeistliche leerte den Rest von Grog aus seinem Glas, warf die Karte bei Seite und zerrte aufstehend an einem ledernen Riemen, der ihm über die Achsel lief, und an dessen Enden ein in unschimmeres Schweinsleder gebundenes, mit messingenen Ecken und Klausuren versehenes Buch hing, gleich einer Patronentasche auf seiner linken Hüfte ruhend. Es war seine Handbibel, die nun auf seinen Bauch zu liegen kam, riss die Haken mit einem verdrießlichen Gesicht auf und blätterte in den mit Grog getränkten und mit Schmutz bemalten Blättern. Der Bootsmann fasste ihn aber ohne Umstände bei der Schulter und schob ihn mit herkulischer Kraft die Treppe hinauf. Der Kaplan hielt die Bibel so weit vor, wie die Länge seiner Arme es gestattete, um womöglich jeden Angriff des bösen Feindes aus dem Kapitän dadurch niederzuschlagen, denn in der Tat traute er der Bibel diejenige geistige und geistliche Kraft zu, die er selbst nicht zu besitzen sich still gestand. Zu seiner Bewunderung machte aber der Kapitän selbst dann noch keine Bewegung, als die Bibel ihm fast den Hut vom Kopf stieß.

»Si tu es spiritus malus, exi!«, stammelte der Kaplan in Todesangst und an allen Gliedern zitternd. »In nomine patris, filii et spiriti sancti!«, setzte er mit lauterer Stimme hinzu, und der Kapitän wandte sich um. Der ungeschickte Teufelsbeschwörer stürzte, vom Gefühl seiner geistlichen Schwäche überwältigt, zu Boden und flehte heulend um Gnade und Erbarmen. Hinter den Masten und auf der Treppe entstand ein lautes Poltern und verworrenes Schreien verschiedener Stimmen durcheinander. Neugierig hatten Gad, Habermann, Pehrson und einige andere Offiziere und Matrosen sich dort versteckt aufgestellt, um die Beschwörung mit anzusehen. Kaum aber hörten sie des Kaplans Angstgeschrei, als sie, in der Meinung, der böse Feind habe den Pfaffen beim Kragen, vor Schrecken kopfüber übereinander purzelten und schreiend sich zu überholen strebten, um sich vor den Klauen des Satans zu salvieren.

Der Kapitän sah, aus seinem Tiefsinn erwachend, den Schiffskaplan mit schwermütigem Lächeln an und schien gar nicht zu bemerken, welche Rolle derselbe spiele. Vielmehr fasste er den bebenden Mann beim Arm, zog ihn herauf und sagte: »Es ist gut, Magister, dass Ihr eben kommt. Sagt mir doch, was haltet Ihr von der Fortdauer des menschlichen Geistes nach dem Tod? Das heißt – Ihr müsst mich recht verstehen – ich frage nicht nach Eurer Doktrin. Nach Eurer eigenen Überzeugung frage ich, und die kann wohl ein lutherischer Priester auch einmal einem katholischen Seemann sagen.«

Diese Worte trieben dem Kaplan Angstschweiß aus. Er schielte nach des Kapitäns Händen, voll Furcht, demselben möchte es im Paroxysmus beikommen, ihm, wenn er unbestimmt antworten würde, auf die kürzeste und überzeugendste Weise über die Unsterblichkeit der Seele zu belehren. Der großen Verlegenheit des Matrosenpriesters kam ein Bibelspruch zu Hilfe. Seine von den Händen des Kapitäns auf das in den seinen liegende aufgeschlagene Buch irrenden Augen blieben an einem Vers hängen.

Er sprach mit Salbung: »Denn Ihr seid gestorben, und Euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, Euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet Ihr auch offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit.«

Der Kapitän wandte sich unwillig ab. Dann sagte er: »Ihr seid auch weiter nichts als eine Glocke und die Bibel ist Eure Zunge. Fragt man nach Geist, so schiebt dies Volk einem eine Form vor, in der man sich abrast wie ein Pferd im Notstall. Nachher, wenn man sich ausgetobt hat und ohnmächtig am Boden liegt, dann sagt Ihr: ›Nun ist er überzeugt! Nun hat er die hohe Weisheit begriffen!‹ Selbst die Hoffnung auf die Fortdauer hat Eure Beschränktheit mit erbärmlichen Formen umsponnen, und wenn in mir die entzückende Ahnung aufglüht, dass verwandte Geister dort in Gott selig vereint sein werden, so seid Ihr wohl mit dem geistlichen Befehl fertig, dass ich in jener Welt meine Frau zum zweiten Mal heiraten soll?«

»Herr Kapitän, Ihr seid katholisch«, stammelte der verwirrte Kaplan, »ich aber kenne die Irrtümer Eurer Kirche nicht sämtlich, um auf Eure Reden, die mir nicht recht klar sind, eingehen zu können.«

»O, ich wüsste wohl eine Seele, der sie klar wären!«, seufzte der Kapitän. »Und die ist auch lutherisch«, setzte er lächelnd hinzu. »Belehrt mich doch, Kaplan«, sprach er nun im geselligeren Ton. »Wie pflegt es das Oberkonsistorium zu Stockholm bei der Scheidung gemischter Ehen zu halten? Zum Beispiel wenn ein geborener Schwede und lutherischer Christ sich von seiner ausländischen katholischen Frau scheiden lassen wollte, was hat er da für Wege einzuschlagen, was für Umstände zu beseitigen?«

Der Kaplan machte große Augen und stimmte still im Herzen dem Bootsmann bei, dass es mit dem Kapitän nicht recht richtig sei, wenn auch der Teufel nicht in Person aus ihm spuke. Wie konnte, nach des Pfaffen Begriffen, ein Vernünftiger von der Unsterblichkeit der Seele auf die Ehescheidung kommen? Doch antwortete er dienstfertig: »Euer Knecht in Christo! Damit verhält es sich folgender Maßen. Ist die Frau von einem lutherischen Priester getraut, und entläuft ihrem Mann, so kann sie, in ihr katholisches Vaterland zurückgekehrt, einen andern Mann freien, denn Eure Kirche erkennt unseren Segen nicht an. Es ist da keine Scheidung nötig und der Mann ist eo ipso frei. Anders verhält es sich, wenn die Frau in Schweden bleibt. Dann ist sie unseren geistlichen Gerichten unterworfen und die Scheidung muss mit allen Förmlichkeiten betrieben werden.«

»Also müsste ich fort aus Schweden!«, murmelte Norcroß vor sich hin und ließ den Schwarzrock stehen. Dieser nahm seinen Rückzug und trat mit den Zeichen der höchsten Besorgnis unter die neugierigen Offiziere. »Heiliger Gott!«, zeterte er mit heiserer Stimme. »Das ist eine Verrücktheit! Denkt nur, er hält sich für eine Frau, und zwar für die katholische Frau eines lutherischen Mannes. Habt Ihr wohl schon so etwas gehört? Ich habe meine Not mit ihm gehabt und mich abgeäschert. Gebt mir ein Glas Grog!«

Er leerte das vom Koch dargebotene Glas mit einem Zug, während die anderen dumm vor sich hinglotzten, bedenklich die Köpfe schüttelten und Kapitänlieutenant Gad bemerklich machte, dass, wenn der Gemütszustand des Kapitäns sich bis zum nächsten Tag nicht gebessert habe, der Rat zusammentreten und das Schiff ein anderes Oberhaupt erhalten müsse.

Das Schiff war ein Spiel der von Nordost strömenden Wellen, gegen die es, man wusste nicht, aus welchem Zweck, ankämpfen musste. Alle Hände waren beschäftigt, und die Matrosen arbeiteten aus Leibeskräften. Der Kapitän sah ihnen gleichgültig zu und sprach kein Wort. Als die Nacht kam, war das Schiff nur wenige Meilen vorgerückt. Gad ließ einen Anker werfen und der Kapitän widerrief den Befehl nicht. Das Schiff hielt. Er wickelte sich in seinen Mantel und legte sich auf das Hinterdeck. Den Kopf auf die Hand gestützt, starrte er bald den trüben Himmel an und bald die trübe See. Die ermüdeten Matrosen sahen ihn dort liegen, gingen scheu vorüber und suchten ihre Hängematten. Die Offiziere vergnügten sich mit den beiden Ärzten, dem Leib- und dem Seelenarzt auf dem Schiff, an der dampfenden Bowle und alle suchten dann berauscht und unbekümmert um den wehleidigen Kapitän ihr Lager auf.

Aber noch hatte der Morgen nicht gegraut, als der furchtbare Ton des Sprachrohrs sie aus dem Schlaf aufschreckte. Die Stimme des Kapitäns erschallte dröhnend. In demselben Augenblick hörte man auch die gellende Pfeife des Bootsmanns und alle liefen auf ihre Posten. Als die Ersten auf das Verdeck kamen, sahen sie Juel an der Seite des Kapitäns, der den Knaben mit freundlichen Blicken betrachtete. Aber mit diesem guten Zeichen – Norcroß hatte den Knaben seit dessen Rückkehr aus der dänischen Gefangenschaft noch nicht viel beachtet und sich nicht wie sonst mit ihm abgegeben – erblickte man mit Schrecken das Schiff pfeilschnell von starken Wellen und jenem furchtbaren Sturmwind, der Bö genannt, gepeitscht, dem jütländischen Ufer zutreiben. In wilder Unordnung liefen alle unter- und übereinander her, aber des Kapitäns Ruf stellte schnell, wie in seinen besten Tagen, die Ordnung her. Er war wie umgewandelt, sein Ange glühte, sein Schritt dröhnte über das Verdeck. Die Matrosen riefen sich im Angesicht der größten Gefahr scherzend zu: »Der Bö hat ihm den Teufel besser auszutreiben gewusst als der Kaplan.«

»Wendet! Wendet!«, erscholl es. »Legt Back! Setzt das Vorderbramsegel bei! Fallt ab vom Wind! Riemen! Riemen!« Alle diese Befehle wurden fast in ebenso kurzer Zeit vollzogen wie gegeben. Das Schiff ging auch glücklich, den halben Wind durchschneidend, in nördlicher Richtung, obgleich mit der Schnelle des Vogelflugs und die Anstrengung aller Matrosen an der Ruderbank versprach, es in dieser glücklichen Richtung zu halten. Das Verdeck war wie leergefegt, und nur der Kapitän stand darauf und unterhielt sich mit Juel, der den Matrosen im Mastkorb abgelöst hatte und nun mit lauter Stimme verkündete, dass er die Wälle von Jütland deutlich sähe. Es war Tag geworden. Der Kapitän wurde unruhiger und lief überall hin, um nachzusehen und zu prüfen. Die Apathie des vorigen Tages schien sich in Extrem verwandelt zu haben. Zum Erstaunen der Ruderer erzählte er ihnen, dass zum Heil des Schiffes und der Mannschaft eine höhere Hand ihn munter halte. Gegen Morgen habe er ein entsetzliches Brausen in der Luft vernommen und dadurch aufmerksam aufgeschaut, sei er durch die Dämmerung eines jener ungeheuren Wasserberge ansichtig geworden, welche die Schiffer der Nordsee Deiningen nennen, der sich auf das Schiff losgestürzt hatte. Er habe seine Seele Gott befohlen und nicht anders gemeint, als dass die Fregatte sogleich in den Grund gehen würde. Da aber sei das Ankertau gerissen und die losgebrochene Bö habe das Schiff mit einer von ihm noch nie gesehenen Schnelligkeit rückwärts getrieben. Er ließ doppelte Rationen Rum austeilen und ermahnte mit ungewohnter Unruhe zur Ausdauer. Dann stand er wieder auf dem Verdeck und betrachtete Himmel und Wasser mit besorglichen Blicken. Als sollte seine böse Ahnung schnell in Erfüllung gehen, brauste der Wind wilder sich zum furchtbarsten Sturm herauf und wühlte das Meer zu immer höheren Wellen empor, bis sie gebirgshoch heranrollten. Jetzt befahl der Kapitän nicht mehr, er stürzte selbst an die Taue, die Rahen klapperten, Segel wurden aufgerollt und gewendet, um das Schiff in der Richtung zu halten. An den Masten huschten die Matrosen auf und ab, am Steuer arbeiteten zehn Mann. Was nur eine Ruderstange führen konnte, griff an und arbeitete, was menschliche Kräfte vermochten. Aber in demselben Augenblick kam das Schiff so weit Back zu liegen, dass es umgestürzt wäre, wenn nicht der Kapitän in der höchsten Gefahr Wendet! geschrien und selbst Hand angelegt hätte, das Steuer zu drehen. Wohl drehte sich die Fregatte, aber sie kam auch in den vollen Wind, der die aufgerollten Segel mit Riefengewalt ergriff und das rettungslose Schiff dem klippigen Ufer zujagte.

»Eingerefft!«, schrie der Kapitän, aber schon stürzte auch ein Matrose, von der Höhe des Mastes durch des Sturmes Gewalt herabgeschlendert, tot auf das Verdeck. Andere kletterten an den Tauen hinauf, aber sie vermochten das Segel nicht mehr zu regieren. Da lief der Kapitän selbst und zerschnitt mit seinem Säbel die Stricke, womit die unteren Rahen an die Masten befestigt waren. Hoch auf wurde das Bramsegel getrieben und flatterte in der Luft weit hinauf, bis es überschlug und an den Spieren des Fockmastes hängen blieb.

»Rettet, rettet mir die Graf Mörner!«, rief Norcroß. »Brave Jungen, schont Euer Leben nicht, so wenig ich das meine schone!«

Und alle griffen zu und arbeiteten mit der Kraft der Verzweiflung. Einigen Matrosen schoss das Blut unter den Nägeln hervor, aber vergebens war es, den Wellen Widerstand zu leisten. Der Schiffskaplan hatte selbst eine Ruderstange gehandhabt, da sich das Schiff aber nichts desto weniger mit jedem Augenblick dem Ufer mehr näherte, dahin sausend wie ein von der Sehne losgelassener Pfeil, so warf er das Ruder weg und sich selbst auf den Boden, jämmerlich heulend und schreiend.

»Ei, hochwürdiger Herr, habt Ihr so schlechten Trost für uns?«, redete ihn der Bootsmann an.

»Steht auf und singt und betet. Das Messer steht uns an der Kehle und wird sogleich einschneiden. Nehmt Eure Bibel vom Rücken. Wozu haben wir denn einen Schwarzrock auf das Schiff genommen, als dass er uns in unserem letzten Stündlein einen geistlichen Zehrpfennig mit in des Meeres Schoß hinab gebe?«

Meister Pehrson war recht ernst geworden, der Kaplan aber an allen geistlichen Mitteln so gänzlich bankrott, dass er dem Bootsmann auch nicht einen einzigen von den verlangten Pfennigen auszahlen konnte.

Der Kapitän ging mit Seelenruhe an ihm vorüber und sagte: »Ei, Freund, haben Euch Eure Bibelverse verlassen? Ja, ja, das ist Schaum, an dem Ihr Euch nicht halten könnt, wenn’s ans Untersinken geht. Ich bitte Euch, sagt mir doch ein Stoßseufzerlein her. Doch schnell! Denn der Stoß wird bald kommen und der letzte Seufzer auch.«

Da plapperte in rasender Verwirrung und wie zum grässlichen Hohn der angstvollen Stunde der Kaplan ein Würfel- und Kartensprüchlein her, was nur schlechten Spießgesellen durch den Mund zu laufen pflegte. Der Schiffschirurgus, der, um die Todesangst zu verscheuchen, wacker Grog braute und zechte und zuletzt in besessener Gleichgültigkeit in einer Ecke, unweit seines geistlichen Spiel- und Trinkbruders lag, lachte und lallte. »Brav, Magister! Mit Verlaub zu sagen. Lustig gelebt und selig gestorben heißt dem Teufel die Rechnung verdorben.«

Der Kapitän kehrte beiden den Rücken und gab neue Befehle. Das Schiff wurde abermals gewendet und trieb, halb auf der Seite liegend, etwas langsamer. Da sagte Norcroß zu Juel etwas leise. Der Junge flog hinab und nach wenigen Augenblicken krachte seine Kanone. Und Schuss auf Schuss fiel aus den Feuerschlünden, dass das ganze Wasserhaus erbebte. Aber in demselben Augenblick erhielt die Fregatte auch den ersten Stoß an einer Klippe. Die Gewalt desselben warf alles, was auf den Beinen stand, über den Haufen.

»Jesus Christus!«, schrie Gad und stürzte auf den trostlosen Priester zu, um sich Trost zu holen. »Es ist aus! Alles ist Teufelswerk! Der schreckliche Hexenmeister Flaxmann, oder wie er sonst heißen mag, hat durch teuflische Zauberkünste den Kapitän so tief in See gelockt und nun diesen Sturm erregt, um uns zu verderben!«

»Mit Verlaub, Kapitänlieutenant«, schwatzte Habermann, »so hättet Ihr wohlgetan, ihn zurückzuhalten, statt auszubeißen. Wäre er noch hier, so wären auch wir geborgen.«

»O wär er hier!«, jammerte Gad. »Der Teufel helfe uns seinetwegen auch mit durch. Magister, beschwört den Teufel!«

»Oha!«, stöhnte jener. »Ich habe keine Macht über den Teufel.«

Der Kapitän ging mit ungestörter Ruhe vorüber, und befahl den Matrosen, das Leck zu verstopfen.

»Ich wette«, sagte er, »der Kaplan wird nachher über die Wellen dahingehen ans trockene Land und uns alle auslachen.«

Gad aber nahm diese Worte für Ernst und hing sich wie ein Sack in den Bibelriemen, damit der Meerwanderer ihn mit sich fortschleppen möchte.

Das Leck wurde vermacht und das eingedrungene Wasser ausgepumpt. Die frühere Unruhe vor der Gefahr war von Norcroß gewichen, sowie die Gefahr da war und er ihr ins Auge sehen konnte. Und je größer diese Gefahr wurde, desto ruhiger schien er zu werden und über sein, erst so düsteres Gesicht verbreitete sich jetzt Klarheit. Und die Gefahr stieg von Minute zu Minute. Das Schiff war mitten im Bereich der unterflutigen Scheren, und nichts schien gewisser, als der augenblickliche Tod. Norcroß stand mit verschränkten Armen auf dem Hinterdeck, zu seinen Füßen kauerte der Knabe und sah ihm fest und ruhig ins Gesicht. Wie beschämte das Kind den Priester, den Kapitänlieutenant und den Chirurgen!

»Endlich!«, rief der Kapitän und deutete zum nahen Ufer.

Juel sprang auf und jauchzte: »Mein Ochse hat nicht vergeblich gebrüllt! Menschen kommen!«

»Was helfen uns Menschen, Juel«, sagte der Kapitän, »wenn nicht von jenen hochherzigen Agerboern darunter sind, jenen starken Lotsen? Ach, und was soll ich an Land? Ich soll mein Schiff hier zurücklassen? Werd’ ich es vermögen?«

Und gleichsam, als hätte sie Leben, Gefühl und die teilnehmenden Worte ihres Führers verstanden, zitterte jetzt die Fregatte, wie ein von Jägern eingekreistes Wild. Sie wollte noch einmal gegen den in ihren Masten und Rahen brausenden Sturm ankämpfen, aber ihrer spottend, warf er sie an ein Riff. Ein zweiter Stoß erfolgte. Verzweifelt winkten die Matrosen dem am Ufer versammelten Menschenhaufen zu. Das Wasser drang stromweise in das Schiff. Die Matrosen boten die letzten Kräfte auf, das neue Leck zu verstopfen. Da sah man endlich vier Männer zum Strand herabklimmen und ein Boot besteigen. Es waren Agerboern. Mit Gewandtheit und Kraft schnitten sie den Wind und die Wellen. Sie kämpften sich glücklich durch. Doch allzu klein war ihr Boot. Es konnte höchstens zehn Mann von der auf der Graf Mörner befindlichen Mannschaft fassen. Der Kapitän hatte das Fallreep hinabgelassen. Der Kaplan, von einer Hoffnung zur Rettung emporgerissen, wollte der Erste im Boot sein. Aber in ängstlicher Hast verfehlte er auf der steilen Treppe eine Staffel und stürzte kopfüber ins Meer. Zu demselben Augenblick stieß das Boot an, und er kam unglücklicherweise darunter. Man hatte nicht Zeit, nach seiner Rettung sich umzutun, denn der Augenblick drängte furchtbar. In Eile stürzte sich in das Boot, wer dazu konnte. Außer dem Kapitän waren noch vier Offiziere und der Kapitänlieutenant, der Bootsmann, der Steuermann und einige Matrosen darin. In dem Augenblicke, als der Kapitän die Treppe hinabgestiegen war, hatte er, um Juel zu retten, der in dem Gedränge sonst gewiss nicht zum Boot gelangt wäre, den Knaben rasch auf den Rücken genommen und trug ihn ins Boot. Die Agerboern stießen ab, den Zurückgebliebenen zurufend: »Wir kommen sogleich wieder!«

Zwei junge Offiziere und etwa zwanzig Matrosen waren mit dem Chirurgus noch auf dem Schiff, wilde Burschen, die aber in aller Not bei Norcroß ausgehalten hatten.

Kaum war das Boot in der Weite eines Schusses vom Schiff entfernt, als die unglückliche Fregatte mit solch furchtbarer Gewalt in den Grund stieß, dass sie in der Mitte barst und mit Stumpf und Stiel in die Tiefe sank. Die Matrosen versuchten sich durch Schwimmen zu retten, aber nur einigen gelang es, das Ufer zu erreichen, die anderen verschlangen die dahinrollenden Wellen. Meister Habermann, plötzlich nüchtern geworden, retirierte erst auf das Hinterdeck. Als aber auch dieses in die Flut ging, lief er in Todesangst den Hintermast hinauf und klammerte sich in den Tauen fest. Lange hörte man auf dem Boot, wenn das Geheul des Sturmes schwieg, das seine. Norcroß stand, mit Tränen im Auge, seinem Schiff zugekehrt und bereute schon, es verlassen zu haben. Jeder Fußbreit, den es tiefer sank, gab ihm einen tieferen Stich in das Herz. Endlich riss es eine Welle vollends nieder, das aufgerollte Segel flog über die Wellen. Habermann zuckte seinen Todeskampf darin. Noch ein Ruck, und die letzten Spieren gingen unter. Alles war verschwunden und die wütenden Wogen rollten ungehindert bis an das Ufer. Sie rissen auch das Boot mit fort und nur mit der größten Mühe und der äußersten Anstrengung retteten es die Angerboern vor dem Untergang. Neben demselben schwamm einige Zeit der tote Kaplan, seine Bibel schwamm auf dem Wasser, und der Sturmwind spielte höhnend mit ihren Blättern. Hier und da rang noch ein verzweifelter Matrose mit dem empörten Meer, bis auch ihn das Verhängnis hinabriss und die Woge mitleidig bedeckte.

Das Boot landete, empfangen von den Strandbewohnern, die alle aus ihren am Ufer stehenden ärmlichen Hütten herausgekommen waren. Norcroß winkte den sterbenden Gefährten den Abschied zu. Lange saß er auf einem Stein und sah, Tränen vergießend, auf die Stelle, wo sein teures Schiff untergegangen war.

Dann sagte er zu Juel, der bei ihm verharrte: »Wahrlich, das Schicksal prüft mich hart und fürchterlich. Das Schlimmste, was mir geschehen konnte, ist geschehen. Mein Teuerstes ist dahin, und ich wundere mich über mich selbst, dass ich den Verlust meiner Fregatte habe überleben können. Jetzt bin ich ein ganz geschlagener Mann. Mein Trotz ist gebrochen, und mit den Tränen, die ich hier weine und die mein starres Herz erweicht haben, bringe ich meinem besseren Selbst das erste Sühneopfer.«