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Michael Knoke – Der Totenfresser

Michael-Knoke-Der TotenfresserMichael Knoke
Der Totenfresser

Goblin Press, Büdingen, Oktober 2014, Handgefertigtes Taschenbuch A5 mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Phantastik/Horror, Privatdruck ohne ISBN, 100 Seiten, 12,00 Euro, Covergestaltung, Cover- und Innenillustrationen: Jörg Kleudgen
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Als mir an einem trüben Frühlingstag des Jahres 2006 ein befreundeter Künstler die eigenartige Plastik zeigte, die er gerade fertiggestellt hatte, verspürte ich bei ihrem Anblick einen Schauder, der meinen Körper zittern machte, ob des Schreckens, der von ihr ausging. […] Sooft ich versuchte, in der Gestalt einen Bezug zur Realität auszumachen, desto mehr schien sie sich vor meinen Augen zu verändern, immer abscheulicher zu werden.

Eines Abends überrascht der Künstler Karl Marek seinen langjährigen Freund Peter mit einer Plastik von ausgesuchter Scheußlichkeit. Das Kunstwerk stellt ein widerwärtig-groteskes Wesen dar, das auf einem Sockel kauert. Marek zeigt seinem Freund die Skizzen, nach der er die Skulptur gefertigt hat, lässt ihn jedoch über deren Herkunft im Unklaren. Stattdessen übergibt er ihm das Tagebuch eines angeblich mehr als 100 Jahre alten Seemanns, der dieses Wesen von einer Südseeinsel mit nach Hamburg gebracht haben soll. Offenbar brachte es seinem Besitzer tatsächlich Glück und ein langes Leben, doch dafür musste es regelmäßig mit frischen Leichen gefüttert werden. Und Marek hat das Wesen in einem der Lagerhäuser am Hafen gefunden.

In diesem Augenblick glaubte ich ein Geräusch zu vernehmen. Ein dumpfes, lautes Heulen, so furchtbar, dass mir das Herz gefrieren wollte, erschütterte das alte Lagergebäude. Es schien aus dem Raum jenseits der Rückwand zu komme, der vermutlich nur durch die verschlossene Tür betreten werden konnte, Dann ertönte ein Gurgeln, ein Tapsen und Schleifen, das von einer ganz und gar widerwärtigen Art und Weise war und meine wilden Phantasien zu furchtbaren Bildern anstachelte, die wie ein Karussell durch meinen Geist strauchelten.

Nach Tobias Bachmanns Ein wahrhaft seltener Privatdruck im Frühjahr 2014 hat Jörg Kleudgen als Herbstveröffentlichung 2014 in seinem Privatdruckverlag Goblin Press wieder eine Novelle seines langjährigen Freundes, des 2010 verstorbenen Michael Knoke aufgelegt. Der Totenfresser erschien zunächst als Fortsetzungsgeschichte im Nekrolog, dem Newsletter von Jörg Kleudgens Gothic-Rock-Band The House of Usher. Für den Buchmesse-Con/Dreieich 2014 wurde die Novelle als Goblin Press-Sonderausgabe in kompletter Form neu aufgelegt und kann über die Webseite der Goblin Press bezogen werden.

Mit Der Totenfresser hat man eine Novelle in der Hand, die einerseits ganz die Erwartungen an die Kombination Michael Knoke/Goblin Press erfüllt, diese aber auch gleichzeitig unterläuft. Zwar ist der titelgebende Totenfresser ein zweifellos lovecraft‘sches Monster, das von irgendeiner Südseeinsel stammt. Wer denkt da nicht an die Fahrten des Kapitäns Obed Marsh aus Schatten über Innsmouth? Doch wird diesem Ungeheuer überraschend wenig Platz im Geschehen eingeräumt. Viel mehr konzentriert sich Knoke, nachdem Peter Zeuge und sogar Mittäter bei der Fütterung des ungewöhnlich passiven Monsters wird, auf die Schilderung von dessen Alltag. Dabei beschleicht Peter nach seiner frevelhaften Tat zunehmend das Gefühl, dass ihn Passanten argwöhnisch beäugen, die Köpfe zusammenstecken und über ihn tuscheln. Auch sein Wohnort erscheint ihm trister, grauer und gar feindseliger. Ob dies tatsächlich der Fall ist oder ob ihm sein Moralempfinden und seine überreizten Nerven einen Streich spielen, lässt der Autor im Unklaren. Auch ein Abend mit seiner Freundin Astrid, der zur Ablenkung von Peters fiebrigen Gedanken dienen soll, wird detailliert geschildert. Dazu muss man sagen, dass die beiden eine freundschaftliche, durchaus auch fürsorgliche und sexuelle, doch auch lose Beziehung pflegen, die gemeinhin nicht als Partnerschaft zu bezeichnen ist. Und auch Astrid zieht sich mit einem Verweis auf ihre zeitraubende Arbeit von Peter zurück. Ein regelrechter Bann scheint auf ihn zu liegen.

Mit diesen scheinbar belanglos-ausführlichen Szenen zieht Knoke den Leser förmlich in seinen Protagonisten hinein und lässt ihn durch dessen Augen sehen. Fast unmerklich zwingt er dem Leser die subjektive Wahrnehmung seiner Hauptfigur auf und damit auch die (nur eingebildete?) plötzliche Bedrohlichkeit seiner alltäglichen Umgebung.

So erweist sich Der Totenfresser weniger als Monsterroman, sondern eher als Psychogramm, das lovecraft‘sche Elemente verwendet, um ins Laufen zu kommen, ähnlich wie es Fred Chappell in Dagon (Blitz Verlag, 2000) bewerkstelligt hat.

Wie alle Bände der Goblin Press ist auch Der Totenfresser in Handarbeit gefertigt und im Copyshop per Steelback-Klemmbindung gebunden.

Fazit:
Anders, als es der Titel und die ersten Seiten vermuten lassen, konzentriert sich Der Totenfresser weniger auf den Monsteraspekt, als vielmehr auf die moralische Krise seiner Hauptfigur, die zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird.

(eh)