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Der Marone – Ein gefährlicher Tanz

Der-Marone-Zweites-BuchThomas Mayne Reid
Der Marone – Zweites Buch
Kapitel 9

Ein gefährlicher Tanz

Ohne allen und jeglichen Zweifel stand oder vielmehr tanzte der unglückselige Smythje auf einer Schlange, denn als er das schuppige Geschöpf unter seinen Füßen mit starker Muskelkraft kriechen und sich winden fühlte, war es gewiss der menschlichen Natur entgegen, auf einem solchen gefährlichen Fußgestell ruhig zu verbleiben.

Einige Zeit tanzte er förmlich wie wahnsinnig hin und her, mit der Erwartung, jeden Augenblick den Stich oder Biss des grausigen Tieres zu fühlen. Jeder, der ihn jetzt gesehen hätte, würde ein vom Schrecken leichenblasses Gesicht erblickt haben, mit glasigen, aus den Höhlen heraustretenden Augen, während sich das tropfende Haar auf seinem Kopf vor Angst sträubte.

Plötzlich flog über den dunklen Himmel seiner Verzweiflung ein heller Lichtstrom und erleuchtete seinen Geist. Er erinnerte sich, als ganz gewiss gehört zu haben, dass es auf Jamaika keine giftigen Schlangen gäbe. Dennoch war dies nur ein Funke von Trost.

Wenn das Kriechtier auch nicht giftig stach, so konnte es doch beißen. Da es so ungeheuer groß war, dass es mit seinen Ringeln den ganzen Boden seines zylindrischen Kerkerraumes bedeckte, so musste sein Biss jedenfalls fürchterlich sein.

Vielleicht war es auch nicht einmal bloß eine Schlange? Vielleicht war hier eine ganze Familie von Schlangen vorhanden, von denen eine stets über die andere kroch und sich unter seinen Füßen wand?

Wenn dies der Fall, und es war wahrscheinlich genug, so konnte er von allen gebissen, wiederholt gebissen, in Stücke gerissen, ja verschlungen werden!

War es denn nicht ganz gleich, ob sie giftig seien oder nicht?

Glücklicherweise für Smythje waren die Schlangen – denn seine Mutmaßung, dass dort mehrere sein möchten, war vollkommen richtig – glücklicherweise waren sie sämtlich in halbem Schlaf, sonst möchte die gefürchtete Gefahr wirklich haben eintreten können.

Jetzt war die ganze Schlangengesellschaft aus einem Zustand der Erstarrung aufgeweckt, der kalte Regen hatte sie nämlich in ihrem Versteck erreicht und sie in ihrem Schlaf gestört. Erst halb erwacht und in halber Erstarrung vermochten sie nicht, Freund vom Feind zu unterscheiden, und diesem Umstande lediglich verdankte es Smythje, dass seine Haut, ja selbst seine seidenen Strümpfe unversehrt blieben.

Deshalb entkam er auch ohne einen Biss, obwohl er den Grund nicht wusste.

Wenn er nun auch lange Zeit gar nicht berührt wurde, so verminderte sich seine Furcht doch keineswegs. Im Gegenteil erregte die Furcht, lebendig aufgefressen zu werden, immer noch Angst genug und trieb ihn zu erneuter Anstrengung, aus seiner gefährlichen Lage herauszukommen.

Dies war nur noch in einer einzigen Weise möglich, nämlich den Schornstein, worin er sich befand, soweit als möglich hinaufzuklettern, und hierdurch aus dem Bereich der Schlangen zu kommen.

Sobald er diesen neuen Gedanken erfasst hatte, sprang er auf, schüttelte die Schlangen von seinen Füßen und gelangte nach einigem Hin- und Herklettern ungefähr einige zehn Fuß hoch vom Boden des hohlen Baumes.

Hier gewährte ihm ein geringer Absatz einen erträglichen Sitz, indem er seine Zehen an die entgegengesetzte Seite setzen musste, um sich in dieser Stellung halten zu können.

Dennoch war dies auf Dauer höchst ermüdend und nicht auszuhalten, wie er zu seinem großen Schrecken bald bemerkte.

Seine Kräfte mussten bald erschöpft und seine Füße und Zehen bei der unaufhörlichen Anstrengung bald von einem Krampf befallen, gänzlich kraftlos werden, dann würde er seinen Platz verlieren und unvermeidlich zwischen die Ungeheuer hinunterfallen müssen, die zum zweiten Mal sicher ihre Zähne besser gebrauchen würden als das erste Mal.

Die Aussicht auf solch ein fürchterliches Schicksal trieb ihn, alle seine Kräfte anzustrengen, um das Gleichgewicht und seinen Platz zu bewahren, während sie ihm zugleich das gellendste Angstgeschrei entlockte.

Alle seine Anstrengung hätte ihn nicht retten können, aber sein Angstgeschrei erwies sich ihm in diesem entscheidenden Augenblicke als Retter. Denn als seine Kraft fast schon erschöpft und er beinahe daran war, seinen Haltepunkt loszulassen, gerade da erschien vor seinen nach oben gerichteten Augen ein Gegenstand, der ihn dazu trieb, mit der letzten äußeren Kraftanstrengung noch ein wenig länger auszuhalten.

Über ihm nämlich und halb die Mündung der Baumhöhle ausfüllend, erschien ein riesiger Kopf mit einem pechschwarzen Gesicht und zwei gelblichweißen Augen. Nichts anderes war zuerst zu sehen, doch dann zeigte sich noch eine doppelte Reihe großer weißer Zähne, die zwischen einem Paar dicker, knorpelig aufgeworfener Lippen hervorglänzten.

Zu seiner vollkommenen Sinnesverwirrung war Smythje den ersten Augenblick geneigt, sich von zwei Dämonen bedroht zu sehen, dem einen unten in der Gestalt scheußlicher Schlangen und dem anderen über ihm in halb menschlicher Bildung, denn die grinsenden weißen Zähne und die gelblichen in schwarzen Höhlen rollenden Augen gewährten ein wahrhaft dämonisches Aussehen.

Von den beiden Dämonen zog er doch wohl den einen bei Weitem vor, der in etwa seine Gestalt besaß, und als ein mächtiger schwarzer Arm, der fast wie ein junger Baumstamm, mit einer Titanenhand sich nach ihm hinunter streckte, fühlte er sich mit der größten Leichtigkeit in die Höhe gehoben.

Im nächsten Augenblick befand er sich auf der Höhe des Baumstammes und sein Befreier stand ihm zur Seite.

Das helle Licht, das jetzt auf einmal die Augen des wunderbar befreiten Smythje traf, machte ihn, anstatt ihn alles deutlich sehen zu lassen, zuerst vollkommen blind. Er wusste nur in Folge des kräftigen Handgriffes, der ihn hielt, dass ein Mann an seiner Seite stand, ein fast nackter Mann von riesiger Größe.

Alles dies wusste Smythje nur durch Fühlen, denn so schwindelig und betäubt war er, als er aus dem hohlen Baum auftauchte, dass der schwarze Mann ihn noch einige Minuten lang in einer Art von Umarmung halten musste, damit er nicht schwanke und hinunterfalle.

Während Smythje die Brust seines riesenhaften Befreiers umfasste, hatte er verschiedene Riemen und Schnüre gefühlt, an denen Hörner und Taschen hingen. Hieraus schloss er, dass der Mann ein Jäger sei.

Doch bald wurden Smythjes Augen wieder stark genug, um das Licht zu ertragen, und nun sah er den Mann, der ihn aus der gefährlichen Klemme rettete, deutlich vor sich. Zugleich bemerkte er auch, dass dieser nicht allein war, denn als er von seinem hohen Rand hinunterblickte, sah er ein dutzend andere um den Baum stehen, alle oder wenigstens die Mehrzahl mit pechschwarzer Haut, und fast in gleicher Weise bewaffnet, bekleidet und ausgerüstet.

Die konnten doch nicht alle Jäger sein? Sicher war er bei seiner ersten Vermutung fehl gegangen? Sein Befreier war am Ende kein Jäger, sondern ein entlaufener Neger, ein Räuber? Er war unter eine Bande Räuber gekommen, denn was anderes konnten sie sonst hier in den jamaikanischen Bergen sein?

»Räuber sind sie, sicherlich!«, sprach Smythje leise zu sich selbst.

Waren sie wirklich Räuber, so waren sie mindestens doch eine muntere, lustige Bande, denn, sobald der Jäger aufrecht auf der Spitze des Baumstammes stand und Anstalten machte, hinunterzusteigen, so begrüßte ihn ein voller Chor hellen und lauten Gelächters, an welchem sein riesiger Befreier nicht nur teilnahm, sondern selbst die erste Bassposaune blies.

Obwohl er nun fast glauben musste, dass die spaßhafte Fröhlichkeit sich auf seine Kosten erhob, so war Smythje dennoch höchst zufrieden, die Räuber in so heiterer Laune anzutreffen. Von solchen munteren Gesellen brauchte er nichts zu fürchten, als höchstens seiner Geldbörse, seiner Waffen und sonstigen Sachen beraubt zu werden. Seine Kleider in ihrem jetzigen Zustand würden sie ohnehin schwerlich begehren.

Um ihren Anforderungen zuvorzukommen und sie sich freundlichst zu verbinden, zog Smythje, sobald er ebenen Grund und Boden erreichte, seine Börse und begann ihren Inhalt sofort unter seiner neuen Bekanntschaft zu verteilen, während er seinem Befreier, unter dessen besonderen Schutz er sich jetzt stellte, den doppelten Anteil gab.

Diese wohl gänzlich unerwartete Freigebigkeit schien den glücklichen Eindruck hervorzubringen. Die Räuber lachten nicht mehr über ihren Gefangenen, sondern beeilten sich, ihm alle nur mögliche Höflichkeit zu erweisen.

Einer von ihnen, ein junger Mann von lichtgelber Farbe, der ihr Hauptmann zu sein schien, schlug es sogar ab, etwas anzunehmen und gab das angebotene Geld mit einer so anmutigen Würde zurück, dass selbst Smythje darüber verwundert war. Er wollte sich von dem Räuberhauptmann nicht an Höflichkeit übertreffen lassen. Da er glaubte, dass seine Gabe zurückgewiesen wurde, weil sie in Geld bestand, so bot er ihm unverzüglich seinen Londoner Schrotgürtel und sein Pulverhorn an, die während aller Kämpfe über seinen Schultern hängen geblieben waren. Dies schien dem Räuberhauptmann eine annehmbare Gabe zu sein, denn er behielt nicht bloß das Geschenkte, sondern dankte auch dafür in höchst geeigneter Rede.

Smythje, der nun deutlich sah, dass ihm weiter kein Leid zugefügt werde, erlangte jetzt bald seinen gewöhnlichen Gleichmut wieder und setzte auf den Wunsch des Räuberhauptmanns weitläufig auseinander, wie er in dem hohlen Baum gefangen worden sei, indem er ihm alle seine Abenteuer vom Heranschleichen an den wilden Truthahns bis zu seiner Befreiung erzählte.

Die eigentümlichen Zuhörer lauschten mit der lebhaften Teilnahme seiner Erzählung, vorzüglich aber auf den Teil derselben, wo er der wilden Truthähne in den Wäldern von Jamaika erwähnte, einer Sache, worüber sie sehr ungläubig zu sein schienen.

Sobald Smythje seine Erzählung beendet hatte, machte der Räuberhauptmann ein Zeichen und flüsterte einige Male zu einem aus seinem Gefolge, dem Kleinsten von der ganzen Bande.

Dieser zog infolge des ihm gegebenen Auftrags ein Paar große bocklederne Handschuhe an, die ihm bis zum Ellenbogen reichten, und kletterte dann behände auf die Spitze des dürren Baumes hinauf.

Hier befestigte er einen mit hinauf genommenen Strick oben an dem Stamm und ließ sich furchtlos in den dunklen schlangenbewohnten Raum hinab, dem zu entgehen Smythje so froh gewesen war!

Der kleine Bursche war kaum eine halbe Minute in dem hohlen Baum gewesen, als aus der Mündung desselben ein glänzender Gegenstand geworfen wurde, der von Schlangengestalt und hellgelber Farbe war. Sich windend und krümmend, blieb dies Geschöpf einige Augenblicke in der Luft hängen, fiel aber dann mit einem hörbaren Schlag auf den Rasen. Seine bedeutende Größe, wie die goldenen und schwarzen Linien ließen es leicht als die gelbe Schlange Jamaikas (chilabothrus inornatus) erkennen.

Kaum war diese erste auf dem Boden, als eine zweite, ebensolche, aus dem hohlen Baum herausgeworfen wurde, und dann gar noch eine dritte und noch eine und abermals eine, bis nicht weniger als ein Dutzend dieser grässlichen Tiere rings auf dem Rasen verstreut lagen!

Die Schwarzen töteten die Schlangen, wie sie niederfielen, nicht weil sie dieselben besonders hassten oder weil sie dieselben als Ungeziefer vertilgen wollten, sondern im Gegenteil, jede getötete Schlange wurde sorgsam in einen der weidengeflochtenen Körbe oder Cutacoos eingepackt, worin sich die Lebensmittel dieser Waldstreicher befanden.

Nachdem der hohle Baum ganz von Schlangen ausgeleert war, kam noch ein ganz verschiedenartiger Gegenstand aus demselben heraus. Dieser war eine ungestaltete Masse von schmutziger gelber Farbe, die sofort als einer von Herrn Smythjes Stiefeln, noch in der rehledernen Bedeckung steckend, erkannt wurde. Der andere Stiefel folgte bald nach, und dann zum unendlichen Vergnügen der Schwarzen der wilde Truthahn, der den Jägersmann eigentlich in die klägliche Lage geführt und der nun, teils seines Gefieders beraubt, teils zusammengequetscht und beschmutzt, nur wenig geeignet erschien, seinen Wildkorb zu zieren.

Smythje vollkommen zufrieden, wenigstens sein Leben gerettet zu haben, dachte gar nicht mehr an den Wildbretkorb noch an etwas anderes, als auf dem kürzesten Wege nach Willkommenberg zurückzukehren.

Die nun wieder erhaltenen Stiefel zog er ohne Zeitverlust an, indem er die unteren Enden seiner rehledernen Beinkleider bei dem wertlosen Truthahn zurückließ, von dem die mit der Ornithologie Jamaikas besser vertrauten Räuber ihm versicherten, dass es durchaus kein Truthahn, sondern nur ein Klashahn, kurzum ein stinkender Geier sei.

Zu seiner größten Freude und nicht geringen Verwunderung machten die schwarzen Banditen gar keine Anstalten, ihm etwas anderes als sein Geld fortzunehmen, und das hatte er ihnen freiwillig gegeben, ohne ihre Forderung abzuwarten. Selbst seine so wertvolle goldene Repetieruhr wurde ihm nicht genommen, und nicht nur wurde ihm seine Flinte wiedergegeben, sondern der höfliche Räuberhauptmann wollte ihm auch noch einen Führer zuweisen, welcher ihn auf den rechten Weg nach Willkommenberg hinbrächte.

So dankbar war der sonst so hochmütige, doch jetzt arg gedemütigte Smythje für die gütige Behandlung, die ihm von den schwarzhäutigen, aber großmütigen Räubern zuteilgeworden war, dass er beim Fortgehen förmlich gerührt Abschied nahm und jedem von der schwarzen Bande die Hand schüttelte. Hierbei versprach er allen, dass, wenn er je davon hören sollte, dass sie sich in einer ihren Hals bedrohenden Gefahr befanden, er seinen ganzen Einfluss anstrengen wolle, um ein solches schreckliches Ende abzuwenden.

Die Maronen (denn dies waren die Räuber, in deren Hände Smythje gefallen, und Quaco war sein Befreier) dankten höflich für seine Zusicherungen, obwohl diese ihnen ziemlich unverständlich blieben. Noch einmal schüttelte Smythje dem Hauptmann die Hand, und dann ging der vielgeprüfte Sonntagsjäger davon.