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Rübezahl – Bergmanns Heil

Rübezahl
Der Berggeist des Riesengebirges
Sagen und Schwänke neu erzählt nach R. Münchgesang
Bergmanns Heil

Die Schlacht war verloren. Mit großer Übermacht hatten die Polen das kleine Häuflein der Deutschen überrannt, erdrückt, zersprengt. Ein Trupp von sechs, sieben Mann rettete sich mit der Fahne ins Gebirge. Sie hatten ausgehalten bis zuletzt, aber nun waren sie alle verwundet und müde. Schweigend schritten sie den Berg hinauf, das Blut aus ihren Wunden träufelte auf den Weg. Mühsam, auf ihre Waffen gestützt, krochen sie dahin. Ihr Atem ging röchelnd und knapp.

Aber die Verfolger waren ihnen auf der Spur und keinesfalls gewillt, sie unbehelligt ziehen zu lassen. Ein Jüngling, kaum den Knabenjahren entwachsen, trug das Banner und blickte manchmal um sich.

»Wenn wir die Höhe erreichen«, sprach der Hauptmann, »dann sind wir in Sicherheit. Aber es wird uns wohl nicht gelingen, unsere Verfolger haben Pferde.«

»Und wenn es nicht gelingt?«, fragte einer.

»Dann ist alles aus«, antwortete der Hauptmann. »Auch gut.«

»Bis an jenen Felsen werde ich kommen«, sagte der Fähnrich, »da wickle ich mich in das Banner und stürze mich hinunter. Sie werden sich nicht die Mühe machen, mir nachzusteigen. Da unten ist es tief.«

Die Verfolger kamen näher. Als sie die frische Blutspur und die Flüchtigen erblickten, jubelten sie. Sie waren schon auf Rufweite herangekommen, jetzt hätte ein geschleuderter Stein die Flüchtlinge treffen können. Da verteilten die Verfolger schon die matten Krieger.

»Du nimmst den Hauptmann! Du den rechts! Du den links!

Ich nehme den Fähnrich aufs Korn. Stürmt! Stürmt! Zum Teufel mit den verfluchten Deutschen!«

Sie spornten die Pferde, erhoben die Streitkolben, packten die schweren Krummsäbel, zielten mit den Stoßlanzen, und – plötzlich hielten sie die Rosse an.

»Beim Gnadenbild zu Tschenstochau«, sagte der polnische Hauptmann, »sie sind nicht mehr da. Hier haben sie gestanden, da sind ihre Tritte im weichen Boden, da sind Blutspuren und weiter oben hört alles auf. Keiner ist hinuntergestürzt, also hat die Erde sie verschluckt. Bleibt uns nichts übrig, als umzukehren. Hopp, hopp, mein Rösslein, freue dich, jetzt geht es wieder bergab!«

Die verfolgten Deutschen waren tatsächlich in Sicherheit. Sie waren schon fest entschlossen, an der Felsenecke dem jungen Fähnrich in die rettende Tiefe zu folgen, wenn er das heilige Banner durch einen Todessprung retten wollte, als der Hauptmann einen Eingang in den Berg erblickte, einen Stollen, von Bergleuten hineingetrieben.

Da sagte er: »Brüder, lasst uns das Letzte zur Rettung versuchen. Bedeutet dieses Versteck auch nicht Erlösung und Freiheit, so doch wenigstens Aufschub, und mehr bedürfen wir heute nicht mehr.«

Da traten sie zweifelnd ein und tasteten sich durch den Stollen.

Ein Grubenlämpchen ging vor ihnen her, sodass sie den Weg notdürftig erkennen konnten. Sie waren schon ein Stück in den Stollen eingedrungen, ohne dass die Verfolger ihnen auf den Fersen waren, und glaubten nun, dass jene ihnen nicht mehr folgen würden.

Jetzt teilte sich der Weg, ein Stollen führte links in den Berg hinein, ein anderer rechts. Sie folgten jenem, in dem sie das Grubenlämpchen sahen, und als sie weiter innen die Wahl zwischen drei, vier anderen Wegen hatten, folgten sie auch wieder dem Licht. Zuletzt befanden sie sich in einem wahren Labyrinth von Stollen, sodass sie überzeugt waren, dass die Feinde ihnen unmöglich folgen konnten und sich wohl nur darauf beschränken würden, den Zugang zu besetzen.

Auf einmal wurde es hell und heller, denn sie erreichten einen großen, freundlichen Raum, in dem viele Lampen Licht verbreiteten. Jetzt sahen sie auch, dass jenes Grubenlämpchen, dem sie zu ihrem Heil gefolgt waren, von einem Bergmann getragen worden war, einem großen Mann mit rotem, langen Bart.

»Willkommen«, sagte er, »ihr seid hier in Sicherheit. Ich habe die Haustür vorn zugeschlagen, ohne dass ihr es gemerkt habt. Macht’s euch bequem nach dieser Qual, ihr seid meine Gäste.«

Da lallten die müden, abgehetzten Männer ihren Dank und streckten sich auf weichen Betten aus, die für sie bereitstanden. Der Bergmann aber half ihnen beim Auskleiden, wusch die Wunden aus, stillte das Blut, gab ihnen Eis zur Kühlung, frisches, erquickendes Quellwasser zum Trinken, legte wie der geschickteste Arzt reinliche Verbände an und erwies ihnen jeden Samariterdienst, den die Umstände erforderten. Wollte einer schlafen, so richtete er es so ein, dass das Licht ihn nicht belästigte, und hatte einer Hunger, so richtete er ihm sogleich, was er begehrte.

Am anderen Tag wunderten sich die Krieger, dass keiner unter ihnen über Wundfieber klagte, dass die Schmerzen nachließen und sich die Heilung zeigte. Noch einige Tage, und die meisten vermochten aufzustehen, konnten auch die Wohnung des Bergmanns genauer betrachten. Sie fanden mehrere anstoßende Räume, in denen sie Badegelegenheiten antrafen, gedeckte Tische und Musikinstrumente zur Kurzweil und um das Herz zu erquicken.

Endlich waren alle Wunden geheilt, und die Krieger fühlten sich wieder wohl und kräftig.

Da sagte der Hauptmann zu dem freundlichen Wirt: »Lieber Bergmann, Ihr seid unser guter Geist gewesen, habt uns vor dem Untergang bewahrt und uns so gut geschützt und gepflegt, dass wir uns nur darüber grämen, dass wir Eure vielen Guttaten nicht zu vergelten wissen. Der Herzog hat uns keine Löhnung geben können, und jetzt, wo er gefallen ist, werden wir erst recht keinen Sold erhalten. Bringt uns jetzt wieder zu den unseren. Und wenn wir Euch eine Liebe erzeigen können, so sagt es. Gern wollen wir für Euch tun, was in unseren Kräften steht.«

Da antwortete er: »Ich verlange nichts von euch, alles war gern geschehen, aber wenn ihr mir eine Ehre erzeigen wollt, so lasst mir eure Fahne. Ich habe Gefallen daran gefunden und möchte sie als Andenken besitzen.«

Die Krieger sahen einander betroffen an, senkten die Köpfe und schwiegen.

Endlich sprach der Hauptmann: »Ihr habt uns das Leben erhalten, Freund Bergmann, wir müssen Euch danken, gut, so behaltet das Banner. Es ist bei Euch in guten Händen.«

Da rief der junge Fähnrich: »Nie und nimmer! Die Fahne hat mir mein Herzog anvertraut, und nur ihm oder seinem Sohn darf ich sie übergeben. Nehmt mein Leben, Bergmann, aber mein Banner lasse ich nicht.«

»Undank ist keine Tugend«, versetzte der Bergmann, »aber wenn Ihr nicht wollt, so geht dahin, wohin es euch treibt.«

Darauf hängte er jedem einen Beutel mit Brot um, damit sie unterwegs zu essen hätten, und führte sie schweigend und verdrießlich auf einem ganz kurzen Weg aus dem Berg. Beim Abschied sagte der Fähnrich noch zu ihm: »Verzeiht mir, guter Mann, aber es ging nicht anders.«

Der Bergmann würdigte ihn aber gar keiner Antwort und schlug die Tür dröhnend ins Schloss, sodass man daraus entnehmen konnte, dass er beleidigt war. Schweigend gingen die Krieger dahin, der Fähnrich voran.

Der Hauptmann dachte: Unsinn. Er hätte ihm die Fahne geben sollen. Der Alte hat uns so viele Gefälligkeiten erwiesen, nun konnten wir auch ein Opfer bringen.

Die anderen dachten so ähnlich, aber keiner wagte es, ein Wort zu äußern. Einem kam gar der Vers der Krähwinkler Landwehr in den Sinn.

Unser Fähnlein, das ist drei Ellen Taft,

So’n Ding ist bald wieder angeschafft.

Der Mann hätte sich aber lieber die Zunge abgebissen, als dass er diese Gedanken hätte laut werden lassen. Alle waren traurig, nur der Fähnrich war froh und drückte die gerettete Fahne mit innerer Begeisterung an sich. Als er sie aber genau besah, ob sie wohl im Berg gelitten haben könne, da bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass er nur eine alte, schäbige Bohnenstange in der Hand hielt. Bald bemerkten auch die anderen den unbegreiflichen Wandel, standen starr vor Staunen, schüttelten die Köpfe und zogen schweigend weiter.

In Krummhübel ging es drunter und drüber. Eine hungernde Bande hatte das ahnungslose Örtchen überfallen und bedrängte die Bewohner, alles alte Leute, denn das junge Volk hatte sich schon lange wegbegeben. Die Alten sollten Geld schaffen, und da sie das nicht vermochten, wurden sie unbarmherzig geprügelt, verwundet, mit dem Tode bedroht. Die Unglücklichen schrien vor Angst und Not, sie baten die Feinde um Gnade, sie wünschten sich den Tod, um von der Pein erlöst zu sein, sie jammerten um Hilfe. Woher sollte Hilfe kommen? War doch weit und breit kein deutscher Krieger mehr im Lande.

Aber wer trabte da eilig den Berg herunter? Gottlob! Da kam Hilfe. Ein halbes Dutzend Männer, wohlbewaffnet, wohlgeführt, die Gäste des geheimnisvollen Bergmanns da oben, fielen über das Gesindel her, allen voran der Fähnrich. Er wollte die Bohnenstange schwingen, da er keine andere Waffe besaß, da sah er mit Entzücken, dass er wieder seine geliebte, teure Fahne in der Hand hielt. Jauchzend trug er sie den Brüdern vor, jauchzend folgten sie, und vor dem mutigen Angriff zerstob das erbärmliche Gesindel.

Darauf stärkten und stützten die Sieger die gemarterten Dorfleute, machten ihnen Mut und blieben bei ihnen, bis die Gefahr ganz beseitigt war. Einmal kamen sie auf den Einfall, die Brotbeutel nachzusehen, die ihnen der seltsame Bergmann geschenkt hatte. Da fanden sie nicht nur Mundvorrat für mehrere Tage, sondern auch ein Beutelchen mit Münzen. Das war, genau abgezählt, der Sold, den ihnen der tote Herzog nicht auszahlen konnte. Außerdem lagen noch ein paar Goldmünzen dabei. Der junge Fähnrich aber hatte von diesen dreimal so viel wie die anderen. Er hat nachher die Fahne dem jungen Herzog übergeben, der aber reichte sie ihm wieder, damit er sie auch ferner mit Ehren tragen könne. Er hat sie dann noch manchmal zum Siege geführt und nie wieder nötig gehabt, mit ihr ins Gebirge zu flüchten.