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Frederick Marryat – Die Sendung – Kapitel 1

Kapitän Frederick Marryat
Die Sendung
Umschlagzeichnung nach Originalentwürfen von Professor Honegger
Neue deutsche Ausgabe. Magdeburger Verlagsanstalt. 1915
Kapitel 1

An einem Herbstabend des Jahres 1828 ging ein älterer, hagerer Herr langsam in einem großen Speisezimmer auf und ab. Er hatte sein Diner bereits eingenommen, obgleich es noch nicht fünf Uhr war und die untergehende Sonne hell und warm in das Fenster schien, das nach einem großen, mit Bäumen gezierten Park hinausging. Er hatte in der einen Hand eine Zeitung und die andere hielt er gleichsam als Stütze auf dem Rücken, da er schwächlich und gebeugt war.

Nachdem er einige Zeit auf und abgeschritten, nahm er in einem großen Lehnstuhl Platz und vertiefte sich in die Zeitung.

Es war Sir Charles Wilmot. Er hatte in seinen jüngeren Jahren als Schriftsteller eine indische Reise gemacht, mehrere Jahre dort gelebt und ein großes Vermögen erworben. Er hatte dann von seinem Arzt den Rat erhalten, seiner Gesundheit willen das Land auf einige Zeit zu verlassen, und kehrte nach England zurück, wo er sich noch keine sechs Monate aufgehalten hatte, als der Tod seines ältesten Bruders Henry Wilmot, der ohne Erben verstorben war, ihm den Besitz der Familiengüter und den Titel eines Baronet verschaffte.

Er beschloss nun, nicht wieder nach Indien zu reisen, um seine Gattin und seine drei Kinder abzuholen, sondern sie brieflich zu bitten, mit dem ersten Schiff nach England zurückzukehren. Einige Monate darauf erhielt er die schmerzliche Nachricht, dass seine Frau und seine zwei älteren Töchter an der Cholera gestorben seien, welche während der letzten Regenzeit furchtbare Verwüstungen angerichtet hatte. Seine überlebende Tochter wollte sich unter dem Schutz des Obersten James und seiner Gattin, welche nahe Verwandte waren, in dem Ostindienfahrer Großvenor einschiffen.

Dieser schwere Schicksalsschlag, mit welchem Gott Sir Charles heimgesucht hatte, vernichtete beinahe alle seine Hoffnungen und Wünsche. Er war jedoch ein rechtschaffener, religiöser Mann und beugte sich in Demut unter sein Geschick, indem er ergebungsvoll seinen Verlust hinnahm und dem Höchsten für die Gnade dankte, dass er noch eine Tochter habe, – jetzt sein einziger Trost und Stütze seines hinfälligen Alters.

Sir Charles nahm Besitz von dem Familiengut in Bergshire, in dessen Landhaus wir ihn zu Beginn dieser Geschichte treffen …

Er sah sehnsüchtig der Rückkehr seiner einzigen Tochter entgegen, die ihm nun teurer geworden war als je zuvor. Er leitete die Vorbereitungen zu ihrer Aufnahme selbst und stattete ihre Zimmer im orientalischen Stil aus, wie es einem zehnjährigen Kind Vergnügen machen musste.

Sir Charles sollte jedoch noch schwerer heimgesucht werden. Die Zeit, in welcher der Grosvenor ankommen sollte, war verstrichen, und noch immer nicht wollte sich das Schiff im Kanal blicken lassen. Eine Woche schwand nach der anderen und brachte der Sehnsucht des armen Vaters nur die Folter angstvoller Ungewissheit. Zuerst glaubte man, dass der Ostindienfahrer von Feinden gekapert worden sei, aber auch die Kunde seiner Wegnahme blieb aus. Endlich wurde dem bangenden Zweifel durch die traurige Nachricht ein Ende gemacht, dass das Schiff an der Küste von Ostafrika gestrandet und fast die ganze Mannschaft umgekommen sei, nur zwei Matrosen von dem verunglückten Schiff wären in einem dänischen Ostindienfahrer zurückgekehrt und hätten bald nach dem ersten Einlaufen die Schreckenskunde in London ausführlich berichtet. In fieberischer Angst war Sir Charles in die Hauptstadt geeilt, um die Matrosen selbst zu befragen. Das Ergebnis seiner Erkundigungen musste ihn völlig überzeugen, dass er verlassen und kinderlos sei. Das war der härteste Schlag, und es dauerte lange Zeit, bis er sich in die unerforschlichen Fügungen der Vorsehung ergeben konnte. Die Zeit und der Gottesglaube milderten langsam sein Murren gegen die Güte und Weisheit des himmlischen Vaters und er rang sich allmählich zu der Überzeugung durch: »Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe.«

Der kinderlose Greis fand im Laufe der Jahre, dass er noch auf Erden Verwandte hatte, denen er zur Liebe verpflichtet war, und am meisten schien diese sein Großneffe Alexander Wilmot zu verdienen. Die Waise eines im spanischen Krieg gefallenen Neffen, welcher nach seinem Tode der Besitzer seines Titels und Vermögens werden musste.

Auf Alexander verschwendete der alte Herr nunmehr alle jene Zuneigung und Liebe, die er nach Gottes Fügung nicht mehr seinen eigenen Kindern schenken konnte, und der Knabe wurde ihm so wert und teuer, als ob er der leibliche gewesen wäre. Dennoch konnte er den Verlust seiner Gattin und seiner Kinder nicht überwinden und im Laufe der Zeit erwachten in seinem Innern Zweifel und Hoffnung, dass bei dem Schiffbruch des Grosvenor doch nicht die gesamte Mannschaft umgekommen sein möchte und sein Kind noch am Leben sein könnte. Ein Zeitungsartikel, der die Nachricht brachte, dass Eingeborene von der Rettung Schiffbrüchiger des Grosvenors berichtet hätten, hatten ihn in die Aufregung und Unruhe versetzt, in der wir ihn bei Eröffnung dieses Kapitels sehen.

Der alte Herr saß, wie schon bemerkt, im schmerzlichen Nachdenken im Lehnstuhl, die Zeitung mit der Nachricht in der Hand haltend. Sein düsteres Brüten wurde durch den Eintritt des jungen Alexander unterbrochen, welcher mit ihm im Landhaus wohnte und vor Kurzem als 22-jähriger Jüngling seine Kollegien-Laufbahn vollendet hatte. In Oxford hatte er als der beste Ruderer und Ballspieler gegolten, auch war er ein vortrefflicher Reiter und Schütze. Sein edles, leutseliges und freimütiges Wesen machte ihre überall beliebt, was er ja auch in vollstem Maße verdiente, da er nie irgendjemand in Wort oder Tat kränkte. Sein einziger Fehler bestand vielleicht in einem Starrsinn, den er übrigens vorzugsweise in einem beharrlichen Mut und in einem mannhaften Ankämpfen gegen das, was unmöglich zu sein schien, bewies, obgleich er dabei oft große Gefahr lief. Sein dickköpfiger Charakter war derart, dass er kaum einem wütenden Stier, der ihm in den Weg gelaufen wäre, ausgewichen wäre, sondern sein Leben nutzlos aufs Spiel gesetzt hätte. Es gibt nun mal in der Welt nichts Vollkommenes und es ließ sich von einem jungen Menschen von 22 Jahren nichts anderes erwarten.

»Endlich bin ich mit ihm fertig geworden«, sagte Alexander, als er schnell und erhitzt in das Zimmer trat.

»Mit wem fertig geworden, lieber Junge?«, erwiderte Sir Charles.

»Mit dem Fohlen, ich habe ihm den Meister gezeigt und jetzt ist es so sanftmütig wie ein Lamm, aber zwei Stunden lang hat es sich scharf gewehrt.«

»Wie kannst du dich nur solcher großen Gefahr aussetzen. Das hätte der Bereiter ebenso gut tun können.«

»Aber nicht in so kurzer Zeit, Onkel.«

»Fehlt es dir so an Pferden? Ich meine, du hättest genug im Stall.«

»Das ist wohl wahr, Onkel, und ich danke deiner Güte, dass mehr vorhanden sind, als ich brauche. Aber ich liebe das Vergnügen und … die Aufregung!«

»Du hast vielleicht recht, mein lieber Junge, wenn du aber so lange gelebt hast wie ich, wirst du mehr Vergnügen an der Ruhe finden«, sagte der alte Herr seufzend.

»Dich beunruhigt etwas, lieber Onkel«, forschte Alexander, ging auf Sir Charles zu und fasste ihn bei der Hand. »Was gibt es?«

»Du hast recht, Alexander, diese Zeitung hat schmerzliche Zweifel und Erinnerungen bei mir geweckt.«

Alexander setzte sich kleinlaut neben seinen Onkel und las mit fliegender Hast die Notiz.

»Glaubst du wirklich, dass dieses Gerücht begründet ist, lieber Onkel?«, fragte er, als er den Artikel gelesen hatte.

»Das kann ich unmöglich sagen, lieber Junge, vielleicht ist etwas Wahres daran, denn die Behauptung wiederholt sich zu oft. Der französische Reisende Le Baillant will zuerst die Nachricht vernommen haben, war aber verhindert, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, und andere Afrikareisende haben später ähnliche Berichte gebracht. Du kannst dir leicht denken, welche Angst mich peinigt, wenn ich derartige Angaben lese. Ständig sehe ich meine arme Elisabeth als das Weib oder Sklavin eines Wilden vor mir, während meine Enkelkinder wie das Vieh auf dem Feld in Ungewissheit und Götzendienst aufwachsen. Es ist eine schreckliche Folter, und nur durch häufiges Gebet wird es mir möglich, mich zu fassen und ergebungsvoll dem göttlichen Willen zu beugen.«

»Ich kenne den allgemeinen Bericht über den Verlust des Schiffes, habe aber noch nie so viel Einzelheiten gehört, dass ich deine Besorgnis gerechtfertigt glauben könnte. Man nimmt doch allgemein an, dass alle den Tod erlitten haben, ausgenommen die beiden Matrosen, welche nach England zurückkehrten.«

»So vermutete man allerdings noch vor Kurzem, mein Sohn, aber spätere Gerüchte haben dieser Ausnahme widersprochen. Es ist Grund zum Glauben vorhanden, dass nicht alle zugrunde gingen, die man für tot zählte. Du weißt, dass der Grosvenor an der Küste des Kaffernlandes südlich von Port Natal Schiffbruch litt. Er ging durch den plötzlichen Umschlag des Windes in Trümmer, und sowohl die Mannschaft als auch alle Passagiere gelangten mit einer Ausnahme von sechzehn, die bereits früher mithilfe eines Taues die Küste zu erreichen suchten und eines Mannes, der betrunken an Bord gelassen wurde, wohlbehalten aus Land. Unter diesen befanden sich auch die kleinen Kinder, welche in dem Schiff die Heimreise machten, folglich auch meine arme Elisabeth.«

Sir Charles hielt erschöpft inne, ohne dass Alexander eine Bemerkung zu machen wagte, und fuhr dann fort. »Als sie das Ufer erreicht hatten, war der Tag schon ziemlich weit vorgeschritten. Die Eingeborenen, welche dem Stamm der Kaffer angehörten, hatten sich damit beschäftigt, sämtliche Eisen des ans Land getrifteten Hauptmastes loszumachen, und verließen mit Einbruch der Dunkelheit die Küste. Die armen Schiffbrüchigen zündeten Feuer an und blieben, da sie etliche Fässer mit Ochsenfleisch und Mehl hatten, über Nacht auf dem Felsen. Am anderen Morgen machte der Kapitän den Vorschlag, nach Kapstadt, der holländischen Ansiedelung zu gehen, und alle gingen darauf ein.

Es war ein abenteuerlicher Plan, der wenig gesunden Urteil verriet.«

»Hätten sie denn anders handeln können, mein teurer Onkel?«

»Ja, denn sie wussten, dass sie sich im Land der wilden Neger befanden, die bereits heruntergekommen waren und mit Gewalt alles an sich gerissen hatten, dessen sie habhaft werden konnten. Der Kapitän erklärte, dass sie Kapstadt in siebzehn oder achtzehn Tagen erreichen könnten. Wie weit seine Berechnung richtig war, ergibt sich aus der Tatsache, dass diejenigen, welche wirklich in Kapstadt ankamen, 117 Tage zu ihrer Reise brauchten. Wenn also wirklich der Weg in der vom Kapitän gegebenen Zeit zurückzulegen war, so war es doch, wie auch der Erfolg zeigte, reiner Wahnsinn, sich ohne Verteidigungsmittel und mit einer solchen Anzahl hilfloser Frauen durch eine Landschaft Bahn brechen zu wollen, die von Wilden bewohnt war.«

»Wie hätten sie es wohl anders anfangen sollen?«

»Das Schiff lag keine Kabellänge von der Küste ab, das Wasser war glatt und dem Verkehr mit dem Grosvenor stand keine Schwierigkeit im Wege. Die Wilden, welche sich mit dem Raub begnügten, was ans Ufer gewaschen war, hätten den Gescheiterten nichts zuleide getan. Wer hinderte sie, wieder an Bord zu gehen, sich zu bewaffnen und dann Mittel zu ergreifen, um ihre Stellung gegen jeden Angriff der Wilden, die nur Speere führten, zu befestigen? Sie hätten sich auf diesem Wege mit Proviant und allen nötigen Dingen versehen können. Bei ihrer großen Zahl von 150 Menschen an Bord und bei ihrer geeigneten Bewaffnung hätten sie sich alle wohl schützen können, bis aus dem Holz des Wracks kleine Boote oder kleine Flöße gebaut gewesen wären. Zimmerleute und Schmiede befanden sich unter der gestrandeten Mannschaft. Wäre nach diesem Plan verfahren, so hätten sie an der Küste entlang fahren und ohne Schwierigkeiten das Kap erreichen können. Der Kapitän musste völlig den Kopf verloren haben. Ihm stand alles zu Gebote – die Mittel, die Mannschaft, der Mundvorrat, Waffen, Segel und Tauwerk. Und doch warf er alle diese Beihilfe weg, nur das Unmögliche zu versuchen.«

»Ich glaube nicht, dass er sich unter den Geretteten befand?«

»Nein, er gehörte zu denen, von welchen nie wieder etwas gehört wurde. Um jedoch fortzufahren – schon der erste Tagesmarsch hätte ihnen als Warnung dienen müssen und sie bewegen können, zum Wrack zurückzukehren. Die Wilden raubten alles und bewarfen sie mit Steinen. Ein Holländer, namens Trout, der sich wegen eines Mordes, den er in der Kolonie begangen, zu dem Kafferland geflüchtet hatte, traf mit ihnen zusammen und erklärte den Versuch für unausführbar, weil der Weg durch wilde Volksstämme, über breite Flüsse, durch wasserleere Wüsten und Gegenden führe, wo es von Raubtieren wimmelte. Trotzdem ließen sie sich nicht abhalten und rannten sinnlos in ihr Verderben. Damals waren sie noch zwei Stunden von dem Wrack entfernt und hätten es noch vor Einbruch der Nacht erreichen können. Dem Bericht zufolge, welchen die beiden zurückgekehrten Matrosen gaben, wurden sie nach einer Woche von Eingeborenen angegriffen, schlugen jedoch die Feinde ab, obwohl es nicht ohne Schwerverwundete abging. Nach einigen weiteren Tagesmärschen war der Proviant verbraucht, und die Matrosen begannen zu murren. Sie wollten nur für sich selbst sorgen und sich nicht mehr mit Frauen und Kindern belasten. Die Folge war, dass sich 46 von den Übrigen trennten und den Kapitän samt allen männlichen und weiblichen Passagieren – unter den Kindern auch meine arme Elisabeth – ihrem Geschick überließen.

Die Matrosen hatten nun mit der schrecklichsten Not zu kämpfen. Sie zogen sich längs der Küste hin, wo sie keine Nahrung als Muscheln fanden, mussten über Ströme setzen, die eine halbe bis eine Stunde breit waren, konnten durch die Raubtiere, die umherstrichen, nicht schlafen, und hatten endlich mit dem Wassermangel bittere Not. Dieser Trupp Matrosen trennte sich nochmals, und sie wanderten ohne Kleidung und Nahrung unter der glühenden Sonne umher, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten. Einer nach dem anderen blieb erschöpft zurück, um zu sterben oder von den Raubtieren verzehrt zu werden. Endlich gelangten drei oder vier von der ganzen Mannschaft völlig erschöpft an die Grenze der Kolonie, wo sie gastliche Aufnahme fanden und sich wieder erholten.«

»Was wurde nun aber aus den Passagieren und aus dem Kapitän?«

»Deren Schicksal blieb unbekannt und man vermutete lange Zeit, dass sie samt und sonders umgekommen wären. Was war auch von den hilflosen Frauen und Kindern weiter zu erwarten? Einige Jahre jedoch verbreitete sich das Gerücht, dass sie noch am Leben seien und sich unter den Wilden befänden. Le Baillant gab zum ersten Mal hierüber Nachricht, welcher aber niemand rechten Glauben schenkte. Kurze Zeit danach beglaubigten weitere Gerüchte von verschiedenen Reisenden Le Baillants Behauptung. Dieser Zeitungsartikel hier erneuert die Versicherung und die Personen, von denen der Bericht stammt, sind in jeder Hinsicht glaubwürdig. Nun wirst du verstehen, lieber Junge, was ich beim Lesen dieses Berichtes empfinde und ich wage kaum auszudenken, dass mein armes Kind noch am Leben und in einen verwahrlosten Zustand zurückgesunken sein könne, nm als Wilde nichts mehr von ihrem Gott zu wissen!«

»Sage das nicht, lieber Onkel. Elisabeth war zur Zeit des Schiffbruches nicht mehr so jung, um alles zu vergessen, was ihr gelehrt wurde.«

»Möglich, aber um so schmerzlicher muss dann ihre Lage sein … oder gewesen sein, denn wahrscheinlich ist sie tot, … oder wenn sie es nicht sein sollte, so muss sie in sehr reifem Alter stehen. Ich habe nur noch einige Jahre zu leben, Alexander, und kann schon morgen abgerufen werden. Hätte ich nur die Überzeugung, dass mein Kind tot sei, so hätte ich doch wenigstens eine Gewissheit, aber die schreckliche Ungewissheit seit dreißig Jahren, die an meinem Herzen zehrt, kannst du dir nicht ausmalen. Der Wille Gottes geschehe! Lass dich nur nicht länger abhalten, mein lieber Junge, auch möchte ich allein sein!«

Mit ehrfurchtsvoller Teilnahme ergriff Alexander die Hand seines Großonkels und verließ stumm das Zimmer.

Die Unterredung hatte bei Alexander einen tiefen Eindruck gemacht. Er verbrachte eine schlaflose Nacht und konnte sich bis vier Uhr morgens den Gegenstand derselben nicht aus dem Kopf schlagen. Der Schiffbruch des Grosvenor fiel in eine Zeit, wo er noch nicht geboren war. Man hatte ihm schon in allgemeinen Umrissen erzählt, dass eine seiner Verwandten bei dieser Gelegenheit umgekommen sei. Wenn auch die Erzählung damals tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, so hatte er nichts wieder davon gehört und es deshalb beinahe vergessen. Er war nun sehr überrascht, als er erfuhr, welch tiefen Eindruck dieses Unglück noch immer auf seinen Großonkel ausübte, umsomehr, da er zuvor nie etwas erwähnt hatte. Er liebte den alten Herrn aufrichtig und hatte auch alle Ursache dazu, denn sein eigener Vater hätte ihn nicht mit mehr Liebe und Wohlwollen behandeln können, als er es tat. Erst vor einer Woche hatte er den Wunsch geäußert, den Kontinent zu bereisen. Sofort hatte Sir Charles seine Einwilligung gegeben und ihm gestattet, wenn es ihm Freude mache, zwei Jahre lang auszubleiben. Nun hatte das Gespräch eine neue Idee in ihm geweckt. Er war Zeuge der schmerzlichen Beängstigung gewesen, welche der alte Herr über das Schicksal seiner armen Tochter empfand, hatte von seinen eigenen Lippen gehört, wie die Ungewissheit über ihr Schicksal stets an seinem Herzen genagt hatte und wusste, dass nur Gewissheit in diesem Fall das Einzige sei, was dem Greis eine ruhige Sterbestunde bereiten könne und ihm aus vollem Herzen sagen lassen können: »Herr, jetzt lässt du deinen Diener in Frieden dahingehen!«

Warum sollte er sich nicht auf den Weg machen, um die Wahrheit zu erforschen? Die Reise nahm ihn auch nicht länger in Anspruch, als die Vergnügungstour auf den Kontinent, zu welcher sein Großonkel bereitwillig ja gesagt hatte. Statt zum Vergnügen in der Welt herumzusegeln, konnte er jetzt die Unruhe des alten Herrn beschwichtigen, der so gütig ihm gegenüber war. Außerdem war sein Zug in das Mindere von Afrika viel interessanter, als ein bloßer Aufenthalt auf dem Kontinent, denn die Beschwerden, Gefahren und Entbehrungen reizten seinen Mut und seine Verwegenheit so, dass er, noch ehe er einschlief, mit sich einig wurde, seinem Onkel diese Reise vorzuschlagen und sofort aufzubrechen, im Falle er die Zusage erhielt. Nachdem er zu diesem Entschluss gekommen war, schlief er ein und träumte bis zum anderen Morgen nur von Elefantenjagden und wilden Tieren. Als er am nächsten Tage geweckt wurde, war der Plan völlig in ihm reif und er trug ihn nach dem Frühstück seinem Onkel vor.

»Lieber Oheim«, sagte er zu Sir Charles. »Du warst so gütig, mir eine zweijährige Reise zum Festland zu gestatten.«

»Gewiss, Alexander, ich finde in deinem Alter den Wunsch, die Welt zu sehen, ganz natürlich, und du hast meine volle Zustimmung. Wann willst du abreisen?«

»Lieber Onkel, ich gebe gern zu, dass eine Reise zu dem Kontinent mir viel Vergnügen gewähren würde, doch bin ich heute der Ansicht, dass ich noch mehr Nutzen daraus zöge, wenn ich sie aufschieben würde, bis ich etwas älter und erfahrener bin. Bist du nicht der gleichen Ansicht?«

»Allerdings, Alexander, aber was dann? Willst du vielleicht vorderhand in England bleiben? Wenn du dies tust, tust du es doch nur meinethalben und ich bin dir für das Opfer sehr dankbar.«

»Wenn du es wünschst, lieber Onkel, so bleibe ich natürlich hier. Es liegt mit aber ein neuer Vorschlag auf dem Herzen, der, wie ich hoffe, deinen Beifall finden wird.«

»So sprich mein Junge, welch einen anderen Ausweg hast du vor? Möchtest du die Vereinigten Staaten oder Südamerika sehen?«

»Nein, ich möchte eine Reise machen, die noch weit mehr Interesse verspricht – nämlich nach Afrika. Was meinst du dazu, wenn ich mich zum Kap der Guten Hoffnung einschiffte, und von dort aus nordwärts zöge, um über deine Tochter bestimmte Nachrichten einzuholen.«

Sir Charles blieb eine Weile stumm, drückte dann seine Hände an die Stirn und erwiderte: »Nein, nein, mein teurer Junge. Ich kann nicht, so sehr ich es auch wünschte. Ich kann nicht ja sagen, weil die Gefahr für dich zu groß ist. Du darfst dein Leben nicht aufs Spiel setzen! Es ist sehr freundlich und sehr wohlwollend gedacht, aber es darf nicht sein.«

»Onkel, ich glaube, du wirst nach reiflicherer Erwägung deine Einstellung ändern. Du sprichst von Gefahr. Welche Gefahr kann denn vorhanden sein, da doch überall Missionare Stationen errichteten und unbeschadet unter denselben Wilden leben, die sich so feindselig benahmen, als der Grosvenor zugrunde ging? Damals war das Land noch eine undurchdringliche Wüste, jetzt ist es schon achtzig Stunden von der Stelle entfernt, wo das Schiff scheiterte, von Europäern bewohnt. Die vielen britischen Auswanderer haben im Laufe von 40 Jahren eine so gewaltige Änderung hervorgerufen, dass ich in der Ausführung meines Vorschlags keine größere Gefahr sehen könnte wie in einem Besuch von Neapel! Was die Zeit betrifft, so habe ich allen Grund zur Annahme, nicht mehr als zwei Jahre zu brauchen, die ich deiner Ansicht nach auf dem Festland gleichfalls verweilen sollte.«

»Aber wenn dir ein Unfall zustieße, so könnte ich mir nicht vergeben, dass ich eingewilligt hätte. Die wenigen Tage, die ich noch zu leben habe, würde ich in Kummer und Jammer verbringen.«

»Lieber Onkel, wir alle stehen in Gottes Hand und laufen in unserer Kurzsichtigkeit der Gefahr entgegen, wenn wir ihr auszuweichen glauben. Mitten im Leben sind wir doch im Tod und dieser Tod kann auch mir zustoßen, wenn ich in England bleibe, während er vielleicht durch diese Reise vermieden wird. Ich gebe ja zu, dass Beschwerden und Gefahren bestehen. Aber wenn man sich auf beides gefasst macht, so ist man doch besser daran als in einer vermeintlichen Sicherheit, in welcher der Überfall unvermutet kommt. Ich bitte deshalb nochmals, verweigere mir diese Gunst nicht. Ich habe mir die Sache reiflich überlegt und würde mich unglücklich fühlen, wenn du mir diese Reise nicht erlauben würdest.«

»Du bist ein guter Junge, Alexander, und dein liebevoller Sinn macht mir den Abschied nur um so schwerer. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Lass uns morgen oder übermorgen wieder davon sprechen. Ich muss erst Zeit zur Überlegung gewinnen.«

Am nächsten Tag erneuerte Alexander seine Bitte, jedoch ohne Erfolg. Dies entmutigte ihn aber nicht. Er hatte aus der Bibliothek seines Oheims alle Werke, die er über das südliche Afrika finden konnte, herausgesucht und verstärkte von Tag zu Tag seine Gründe durch Zitate verschiedener Autoren, um den Beweis zu führen, dass er bei Anwendung von Vorsichtsmaßregeln ohne Gefahr durch das Land reisen könne. Unter diesen Beweisen wurden die Gründe des alten Herrn von Tag zu Tag schwächer und endlich gab er seine Zustimmung. Inzwischen hatten die Werke, welche Alexander gelesen, auf ihn eine gewisse Wirkung ausgeübt. Als er sich zuerst zu der Sendung erbot, leitete ihn vorzugsweise das Gefühl der Dankbarkeit seinen Großonkel gegenüber. Nun aber sehnte er sich um seiner selbst willen nach dem Süden Afrikas. Die Schilderung der Kämpfe mit den wilden Tieren, die Verschiedenfarbigkeit des Wildes und die Aufregung, die für ihn in Aussicht stand, entzündete seine Jagdlust dermaßen, dass er um Erlaubnis bat, ohne Zögern aufbrechen zu dürfen, indem er Sir Charles andeutete, je eher er reise, desto früher würde er wieder dort sein. Dieser letzte Grund war ausschlaggebend, und Alexander durfte nun alle Vorbereitungen treffen. Er zog Erkundigungen ein, bestellte sich einen Platz an Bord eines Freihändlers, welcher das Kap berühren sollte. Nach sechs Wochen verabschiedete er sich von Sir Charles.

»Gott segne dich, mein guter Junge, und lasse dich gesund zurückkehren, damit du mir die Augen schließt«, erwiderte Sir Charles in großer Erregung.

Noch vor Einbruch der Nacht traf Alexander in London ein und eilte von dort nach Portsmouth. Am nächsten Tag lichtete der Surprise den Anker, segelte durch die »Nadeln« und stand gegen Abend schon weit im Kanal unten mit gesetzten Prallsegeln vor dem Winde steuernd.

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