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Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 8

Hassan el Mamluks
Schicksale und abenteuerliche Flucht
Wahren Begebenheiten nacherzählt von Franz Hillmann

Gleiche Existenzkämpfe wie sie vor nicht allzu langer Zeit in der Nordwestecke Afrikas, in Marokko, zwischen den Rifleuten Abd et Krims und den vereinigten Truppen Frankreichs und Spaniens tobten, wurden vor mehr als einem Jahrhundert in dem Marokko östlich benachbarten Algerien zwischen den landeingesessenen Kabylen und den Franzosen ausgefochten.

Im Jahre 1830 befand sich unter den französischen Fremdenlegionären, die in dem eroberten Bougie, der Hauptstadt Kabyliens, lagen, auch ein deutscher Deserteur, ein Brandenburger Handwerkersohn mit dem nicht gerade seltenen Namen Schulze. Freiheitswahn und der Drang nach Abenteuern, die in seinem Blut kochten, führten diesen havelländischen Sattlerlehrling durch eine Kette buntester und wildester Erlebnisse. Die Flucht in die Fremdenlegion und die Einschiffung nach Afrika waren nur der primitive Anfang dieser Kette! Seine Desertion aus der Festung Bougie, der französischen Garnison, setzte diese Kette schon erheblich komplizierter fort. Er kam als Gefangener der Kabylen in das Dorf Schallata, hatte dort nach längerer Qualzeit zu wählen zwischen dem »Tschagar testa«, das heißt »Kopf ab« als Christ, und dem »Makatsch tschagar testa«, das heißt »nicht Kopf ab« als Moslem – und wählte das Letztere!

Nun galt er als »Mamluk«, was aber nicht etwa »Sklave« bedeutet, sondern eher den Sinn der Vornehmheit hat (wie in Ägypten, wo die »Mamluken« die herrschende Klasse waren) und hieß Hassan el Mamluk. Durch ein Verlöbnis mit einer Kabylin kam er für den Fall der Ehe in Konflikt mit der furchtbaren Blutrache der Feinde seiner Braut … Er verheiratete sich also nicht, zog vielmehr aus Setif, der zweiten, im Innern gelegenen Hauptstadt Kabyliens, wo er sich aufgehalten hatte, nach Constantine. Und dort ging ihm ein Glücksstern auf.

Constantine war damals ein unabhängiger Staat, den Ali Bey, ein energischer, aber leicht zum Jähzorn neigender Mann von fünfzig Jahren regierte.

Dort gelangte Hassan el Mamluk zu geachteter Stellung, wurde Kommandeur der neu gebildeten Milizkompanie non Kulugli, als welcher er sich in prächtige türkische Tracht kleidete, und verbrachte die fünf schönsten Jahre seines Lebens … bis 1836 die Franzosen ihre erste Expedition gegen Constantine unternahmen.

Hassan el Mamluk zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Stadt eingenommen werden würde. Wie sich in diesem Fall sein Los als Deserteur und Renegat, der mit der Waffe in der Hand gegen Frankreich kämpfte, gestalten würde, war ihm nur allzu klar! Wider Erwarten misslang den Franzosen der Feldzug. Die feste Stadt trotzte dem geringen Belagerungspark, der gegen sie eingesetzt wurde. Aber die Franzosen würden wiederkommen, das war sonnenklar. Und dann würden sie Sieger sein! Hassan durften sie nicht finden! Seiner Sicherheit zuliebe wollte er seine glänzende Stellung opfern und Constantine verlassen.

Eine Gelegenheit dazu sollte sich bald finden. Etwa zehn Tagesreisen südlich von Constantine lag in der algerischen Sahara Tuggurt, der Sitz eines Scheichs aus dem uralten edlen Geschlecht der Dschellab. Dieser wollte eine kleine reguläre Truppe einrichten und sandte zu diesem Zweck Werber nach Constantine. Mit welch überschwänglichen Worten priesen diese die Schönheit der Hauptstadt ihres Landes, die Pracht des Hofstaates und den Glanz des Scheichs! Gold, Diamanten, reiherbesetzte Turbane von kostbarster Seide, Smyrnateppiche und Marmorpaläste zauberten ihre Rede vor die Sinne. Der ganze Pomp irdischer Größe erstand in der Fantasie der lauschenden Hörer, unter denen sich auch Hassan el Mamluk befand. Ausschlaggebend für ihn aber war schließlich die Aussicht auf reichen Sold im Dienste des Scheichs von Tuggurt … und er schloss mit den Werbern zusagend ab.

Natürlich musste dies ein strengstes Geheimnis bleiben. Hassan wusste: Offenbarwerden bedeutete schärfste Bestrafung, ja – bei Ali Beys Wesensart – den Tod! Aber was seine Schweigsamkeit verschloss, eröffnete die Geschicklichkeit der Werber, die des Mameluken vornehme Person als Lockvogel für noch Unschlüssige benutzten! Hassans Plan wurde ausgeschwatzt und die ganze Angelegenheit kam zu Ohren Ali Beys.

Eisigkalt griff es dem Einsamen ans Herz. Er ahnte – er wusste: Das Seil war gerissen, der Italiener war in die Tiefe gestürzt, war zerschmettert, war eine formlose Masse von Fleisch, Blut und Knochen.

Ein fürchterliches Grauen überkam Hassan. Er wagte zitternd keinen Griff, keinen Schritt mehr für die Flucht. Schließlich rutschte er vom Abhang fort und versteckte sich zähneklappernd in dem verfallenen Haus – die Nacht und den folgenden Tag hindurch, und noch eine Nacht bis zum Morgen des nächsten Tages. Er ließ auch noch den Mittag herankommen.

Hassan kannte die Lebensgewohnheiten der Leute dieser Gegend. Er wusste: Zu dieser Zeit schläft alles! Und vorsichtig lugte er aus einem Mauerloch in den Abgrund hinab.

Von dem verunglückten Italiener war nichts zu sehen! Hatte man seine Leiche gefunden und bereits beseitigt? Ihre Flucht hatte man sicher schon längst entdeckt und war nun hinter ihnen her. Wo waren seine Häscher? Konnten sie ihn hier vermuten? – Nein, sicher nicht, denn das verräterische Seil hatte er bereits in der Fluchtnacht entfernt.

Er ließ eine weitere Nacht vergehen.

Da stellte er den ersten seiner Feinde fest, einen der grimmigsten, den Hunger! In seiner Pein beschloss Hassan einen neuen Fluchtversuch. Mit Hilfe von Seilen konnte er ihn allerdings nicht durchführen, denn die alten waren zu kurz, und neue hatte er nicht zur Stelle. Er zermarterte sein Hirn, erwog Plan um Plan und kam schließlich darauf, am Tage in irgendeiner Vermummung Constantine zu verlassen. Aber wie sich eine solche Vermummung verschaffen?

Da kam ihm die Fertigkeit in seinem früheren Gewerbe, der Sattlerei zu Hilfe. Er steckte noch in seiner glänzenden Mamelukenuniform, trug über der Dschobba, dem Ärmelhemd, die bauschige Hose, Weste und Jacke, goldbetresst, von feinstem Tuche, und den weißen Burnus.

Die typisch türkische, militärische Uniform musste verschwinden, die hätte ihn nur verraten. Aber der weite weiße Burnus konnte seinen Zwecken dienen!

Er trennte ihn mit seinem Messer auseinander, benutzte sein silbernes Uhrgehänge als Nähnadel und stückelte sich, so gut und so schlecht es ging, aus den Burnusteilen ein kabylisches Frauengewand zurecht.

Die Kabylinnen verhüllen ihr Gesicht mit einem Tuch, das sie Schleier nennen, das man aber besser mit dem Ausdruck »Gesichtsverpackung« bezeichnen könnte.

Und eine solche war nötig, denn sein brandroter Bart wäre Hassan todsicher zum Verräter geworden. Die notwendige Gesichtsverpackung schneiderte er sich aus dem Innenfutter seiner Uniform zurecht, ließ diese in der Ruine zurück, hüllte sich in seine Maskerade und verließ am Morgen des vierten Tages sein Versteck als »kabylisches Weib«.

Da er nicht sehr groß von Gestalt war und gebückt gehen musste, fiel seine männliche Statur nicht weiter auf. So hinkte er, die Manieren eines alten Mütterchens nachahmend, über das Felsplateau zu der Brücke El Kantara, die den Abgrund auf der einen Seite überwölbte und den einzigen Ausweg aus dem nicht ummauerten Stadtteil bildete.

Wie oft zuckte er auf diesem Wege erschrocken zusammen, wenn er auf türkische Soldaten traf, auf Leute, die er kannte, frühere Gefährten und Untergebene.

Ein Zittern lief bei jeder Begegnung über seine Gestalt … Doch ging die Gefahr des Entdecktwerdens an ihm vorüber.

Da! – Er befand sich schon auf der Mitte der Brücke El Kantara – fühlte er sich plötzlich erfasst, fuhr zusammen und schaute sich angstvoll um. Ein alter zerlumpter Kabyle stand hinter ihm, hielt ihn mit beiden Armen fest und schrie ihn in rohem Ton an, er solle einen leeren Krug und einen schweren Pack mit Waren für ihn weitertragen.

Hassan wusste, dass bei den Kabylen die Frauen als Lasttiere gelten. Er hatte solche oft bis zu sechzig Pfund schwere Ölkrüge zur Stadt buckeln sehen. Stumm lud er also die Last auf sich und keuchte unter ihr weiter, in seinem Innern befriedigt, dass seine Verkleidung so gut gelungen war. Der alte Kabyle ging wortlos neben ihm und wurde erst gesprächig, als ein Junger 18-jähriger Bursche, der auf einem Esel herangetrabt kam, und den Alten mit »Vater« und ihn mit »Großmutter« anredete, sich zu ihnen gesellte.

Nach zwei Stunden des Weges begann die drückende Last Hassan lästig zu werden. Er überlegte lange, wie er sich verhalten sollte, und fasste schließlich den Plan, sich den beiden Kabylen zu erkennen zu geben und ihr Schweigen mit Geld, das er ja bei sich führte, zu erkaufen.

Er blieb also plötzlich stehen und riss seine Gesichtsverkleidung ab.

Wäre das seinen Begleitern auch nicht weiter aufgefallen – denn die Kabylinnen gehen oft unverschleiert – so musste der rote Bart des alten »Großmütterchens« bei den beiden mindestens Verwunderung auslösen.

Er löste sprachloses Erstaunen und Schrecken aus. Die abergläubischen Kerle glaubten an einen Teufelsspuk, flohen, wie von Furien gejagt, in verschiedenen Richtungen auseinander und ließen Hassan allein auf freiem Feld stehen. Er wollte schreien, sie zurückrufen. Doch sie waren im Nu wie vom Erdboden verschwunden.

Eine ganze Weile stand er unschlüssig da. Dann kam das alles andere beherrschende Gefühl der Freiheit über ihn, und infolge desselben die Zuversicht, sich nach Tuggurt, so weit es auch noch war, durchschlagen zu können.

Er hatte Geld, war der Sprache des Landes mächtig. Hollah! Aber die Verkleidung!

Nun wurde ihm das, was ihm bisher eine Last gewesen war, zum Segen. Er öffnete den Warenpack und fand darin nicht nur Lebensmittel, sondern auch einen vollständigen Anzug, wie ihn die Bewohner der Gegend bei Festlichkeiten tragen. Heißhungrig machte er sich zunächst über die Essvorräte her, wanderte dann zu einem nahen Olivenwäldchen, vertauschte die primitive Frauenkleidung mit dem gefundenen Anzug und legte sich zum Schlummer nieder.

Gestärkt erwachte er am Morgen und schritt rüstig nach Süden fürbass, hielt sich aus Vorsicht zunächst noch jeder menschlichen Behausung fern, durchwanderte die Pflanzungen und suchte stets sobald wie möglich die schützenden Wälder zu erreichen.

Er bedurfte ja einstweilen menschlicher Hilfe nicht, da er noch Lebensmittel aus dem Warenpack des alten Kabylen bei sich führte.

So erreichte er glücklich, immer dem Gebirgsthron des Dschebel Aures zustrebend, Batna, kam unter Begleitung freundlicher Araber nach El Kantara, der ersten Stadt in der Sahara, und setzte – in dem erhebenden Gefühl der Gewissheit, der Macht des Bey von Constantine und dem sicheren Tode entronnen zu sein, seine Reise bis Tuggurt fort, durch Wüste und Oase, durch unermessliches Sandmeer und tausendwipfelige Palmenwälder.