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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 9.2

»Was genau taten Sie nach dem Verlassen des Schlosses?«

»Was jeder tut, wie ich denke, der wegläuft. Wir wanderten kläglich umher, durchquerten Felder und Wälder, während ich ihn beschuldigte und er sich verteidigte. Wir vermieden Ortschaften, wagten es schwerlich höchstens in den frühen Morgenstunden hinein, um Essen zu kaufen und bewegten uns schnell, mit dem Wunsch so weit weg wie möglich zu gelangen. Wir verbrachten die furchterregendste Zeit, die man sich nur erdenken kann.«

»Wie lange ging dies so?«

»Ich war mit meinem Sohn vier Tage zusammen, Monsieur.«

»Also haben Sie ihn am vierten Tage umgebracht?«

»Haben Sie Mitleid, Monsieur! Ich habe meinen Sohn nicht umgebracht. Ich war mit einem Mörder unterwegs, ein Mörder, den die Polizei jagte und auf den die Guillotine wartete!«

»Ein Mörder, wenn Sie es so bevorzugen,« bestätigte der Richter, gänzlich ohne Rücksicht auf die Einwände des unglücklichen Mannes. »Aber Sie hatten keinerlei Recht, den Henker zu geben. Nun kommen Sie schon, Sie geben zu, dass Sie ihn umgebracht haben?«

»Ich gebe es nicht zu.«

»Dementieren Sie, ihn umgebracht zu haben?«

»Ich tat, was mir meine Pflicht befahl!«

»Immer noch die gleiche Geschichte!«, stöhnte der Richter, wütend mit den Fingern auf das Pult trommelnd. »Sie weigern sich, zu antworten. Aber selbst im eigenen Interesse sollten Sie den Mut haben, eine eindeutige Theorie zu vertreten. Nun, wären Sie glücklich gewesen, wenn Ihr Sohn sich selbst das Leben genommen hätte?«

»Darf ich Sie inständig bitten, sich zu erinnern, dass mein Sohn tot ist!«, sprach Etienne Rambert ein weiteres Mal. »Ich kann nur der einen Tatsache gedenken, dass er mein Sohn war. Ich kann nicht behaupten, dass ich seinen Tod wünschte. Ich weiß nicht einmal, ob er schuldig war. Welchen Schrecken auch immer ich für ein Verbrechen empfinde, ich entsinne mich jetzt nur noch, dass Charles nicht bei Sinnen und dass er mein Sohn von meinem Fleisch und Blut war!«

Wieder ging ein Zittern voller Ergriffenheit durch den Gerichtssaal und wieder machte der Richter ein wütendes Zeichen, um dem Einhalt zu gebieten.

»Sie weisen es also zurück, irgendeinen der vornehmlichen Punkte aus der Anklageschrift zu beantworten? Die Geschworenen werden ohne Zweifel den Grund hierfür abwägen können. Nun, können Sie uns mitteilen, welchen Rat Sie Ihrem Sohn gaben? Wenn Sie seinen Selbstmord nicht ersehnten, und auch nicht seinen Mord, was wünschten Sie dann?«

»Vergessen«, antwortete Etienne Rambert schlicht, nun ruhiger. »Es oblag nicht mir, meinen Sohn aufzugeben, und ich konnte nur Vergessen für ihn ersehnen, und wenn dies unmöglich sein sollte, dann Tod. Ich flehte ihn an zu überdenken, welches Leben nun vor ihm lag, und die Zukunft voller Schande, und ich drängte ihn, für immer zu verschwinden.

»Ah, Sie geben zu, ihm den Freitod empfohlen zu haben?«

»Ich meine damit, ich wollte ihn zur Auswanderung bewegen.«

Der Vorsitzende tat, als sei er mit seinen Notizen beschäftigt, um der Wichtigkeit dieser letzten Aussage, die er Etienne Rambert abgerungen hatte, die Zeit zu geben, ins Gedächtnis der Geschworenen zu drängen. Dann, ohne sein Haupt zu heben, fragte er abrupt: »Waren Sie überrascht, von seinem Tod zu erfahren?«

»Nein«, sagte Rambert stumpfsinnig.

»Wie trennten Sie einander?«

»In der letzten Nacht schliefen wir im Freien unter einem Holzstoß. Wir waren beide erschöpft und verzweifelt. Ich betete zu Gott und bat um Gnade für uns. Das war am Ufer der Dordogne. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich allein. Er – mein Sohn – war verschwunden. Mehr weiß ich nicht.«

Der Richter unterdrückte die Gefühlsausbrüche im Saal mit einem bedrohlichen Blick und warf eine Frage gegen den Angeklagten, die ihn wie eine Falle beim Lügen überführen sollte.

»Wenn Sie zu dieser Zeit nicht mehr wussten, wie kam es dann, dass Sie wenige Tage später bei Inspektor Juve vorstellig wurden und ihn ausfragten, was über den Leichnam Ihres Sohnes bekannt sei? Der Körper war erst in den ein oder zwei vorangegangenen Stunden geborgen und noch nicht zweifelsfrei identifiziert worden. Die Zeitungen, wenn überhaupt, konnten nur die Identität vermuten, mit äußerstem Vorbehalt. Aber Sie, Monsieur, hatten keinen Zweifel in dieser Hinsicht! Sie wussten, dass es sich um den Leichnam Ihres Sohnes handelte! Warum? Wie?«

Dies war einer der verhärtendsten Punkte, der in Unterstützung der Theorie, Etienne Rambert habe seinen Sohn umgebracht, hervorgebracht werden konnte, und der Angeklagte erkannte augenblicklich die Schwierigkeit, die er haben würde, eine adäquate Antwort zu geben, ohne sich selbst zu kompromittieren. Er wandte sich an die Geschworenen, als habe er mehr Hoffnung in diese als in den Richter.

»Meine Herren«, weinte er, »dies ist Folter! Ich kann es nicht mehr ertragen! Ich kann nicht weiter antworten. Sie wissen nun genug von mir, um sich Ihr Urteil zu bilden! Tun Sie es jetzt! Sagen Sie mir, ob ich in meiner Pflicht als Ehrenmann und Vater versagt habe. Ich zumindest kann keine weiteren Fragen beantworten!« So sank er wie ein geschlagener Mann auf seinen Sitz zurück, niedergeschmettert von dem Leid, das durch all diese schmerzhaften Erinnerungen wieder hervorgerufen worden war.

Der Richter nickte den Geschworenen mit der unerbittlichen Selbstgefälligkeit eines jenen Mannes zu, der sein Spiel platziert hat.

»Diese Verweigerung der Beantwortung meiner Fragen ist gleichbedeutend mit einem Geständnis«, bemerkte er beißend. »Wir werden nun mit den Zeugenbefragungen fortfahren. Ich sollte erwähnen, dass der interessanteste Zeuge zweifelsohne Bouzille ist, der Landstreicher, der den Leichnam von Charles Rambert geborgen hat. Aber unglücklicherweise konnte der Aufenthaltsort dieses Individuums nicht ausfindig gemacht werden und es war nicht möglich, ihm eine Vorladung zuzustellen.«

Ein Zeuge nach dem anderen folgte in den Zeugenstand, jedoch ohne irgendein neues Licht auf die Angelegenheit zu werfen. Es gab Kleinbauern, welche die Ramberts beim Verlassen des Schlosses getroffen hatten, Dorfbäcker, die ihnen Brot verkauft hatten, Wächter, die den treibenden Leichnam gesehen hatten, aber nicht in der Lage waren, ihn zu bergen. Die Zuschauer im Saal ermatteten zusehends beim Prozessverlauf, insbesondere da vertraulich gemunkelt wurde, dass Etienne Rambert stolz darauf verzichtet hatte, eigene Zeugen zu berufen, und sogar darauf, von seinem Anwalt eine rhetorische Ansprache an die Geschworenen richten zu lassen. Es mochte unbesonnen sein, aber es lag etwas Vornehmes in seinem Trotz.

Jedoch gab es einen weiteren Nervenkitzel des Interesses für die Öffentlichkeit. Der Richter hatte es für nicht erforderlich erklärt, dass Inspektor Juve aufgerufen werden sollte, insofern als all seine Informationen bereits in der umfangreichen Anklageschrift enthalten waren, aber da Madame de Langrunes Enkelin vor Gericht erschienen war, würde er seinen Ermessensspielraum ausüben und sie bitten, ein oder zwei Fragen zu beantworten. Und überrascht von dieser unerwarteten Zurschaustellung folgte Thérèse Auvernois dem Gerichtsdiener in den Zeugenstand.

»Mademoiselle Thérèse Auvernois, ich muss Sie wohl kaum fragen, ob Sie Monsieur Rambert wiedererkennen. Aber erkennen Sie in ihm die Person wieder, die das Gespräch mit dem jungen Charles Rambert führte, welches Sie in der fatalen Nacht auf dem Château Beaulieu verfolgten?«

»Ja, Monsieur, dies ist Monsieur Etienne Rambert«, antwortete sie schüchtern, mit einem langen und mitfühlenden Blick auf den Angeklagten.

»Würden Sie uns bitte alles erzählen, was Sie wissen und mit der Klage gegen den Angeklagten zu tun hat, der Anklage, seinen Sohn ermordet zu haben?«

Thérèse bemühte sich sichtlich angestrengt, ihre Bedrängnis zu unterdrücken.

»Ich kann nur dies sagen, Monsieur, dass Monsieur Rambert in Tönen furchtbarster Verzweiflung mit seinem Sohn sprach, dass ich merkte, dass sein Herz von dieser Tragödie gebrochen war. Ich habe soviel von meiner lieben Großmutter über Monsieur Etienne Rambert gehört, dass ich mich nur erinnern kann, wie sie ihn als Mann hehrster Prinzipien lobte, und ich kann ihm an dieser Stelle nur sagen, wie schrecklich Leid mir dies alles für ihn tut und dass jeder hier ihn so bemitleidet wie ich.«

Der Richter hatte erwartet, dass Thérèse dem Angeklagten gegenüber feindlich eingestellt sein würde, wohingegen alles, was sie sprach, offensichtlich zu seinem Vorteil gereichte. Er unterbrach sie.

»Das reicht, Mademoiselle. Vielen Dank.« Und während Thérèse zurück zu ihrem Platz ging, sich die Tränen wegwischend, die ihr trotz ihrer mühevollen Anstrengung, diese zu unterdrücken und angesichts der vielen Fremden die Kontrolle über sich zu behalten, in die Augen traten, verkündete der Richter, dass keine weiteren Zeugen angehört würden, und forderte den Staatsanwalt auf, sich an das Gericht zu wenden.

Dieser erhob sich umgehend und erließ seine selbstverständlich beredte Tirade, die keine neuen Gesichtspunkte zum Fall beitrug. Er verließ sich auf sein Gesetz anstelle der Fakten. Schnell fasste er die Widersprüche des Angeklagten zusammen und seine bemitleidenswert schwachen Argumente, falls diese denn so genannt werden könnten, stellte fest, dass die Tatsachen bewiesen waren trotz der ständigen Verweigerung des Angeklagten, die Fragen zu beantworten, und bestand darauf, dass der Angeklagte keinerlei Recht habe, das Gesetz in seine Hand zu nehmen, weder den Sohn zu töten noch ihm die Flucht einzureden und ihn dabei zu unterstützen. Schließlich beendete er sein Plädoyer mit der Forderung nach Verurteilung sowie einer lebenslangen Haftstrafe.

Ihm folgte der Verteidiger des Angeklagten, dessen Kürze der Rede für sich stand. Er verzichtete auf jeglichen Appell ad misericordiam, stattdessen bat er die Geschworenen lediglich zu entscheiden, ob der Angeklagte nicht handelte, wie jeder Vater von höchsten Prinzipien gehandelt hätte, der entdeckte, dass sein Sohn in geistiger Umnachtung ein Verbrechen begangen hatte. Er forderte damit lediglich eine unvoreingenommene Entscheidung aufgrund der Tatsachen, von Herren mit hohen Prinzipien, und nahm wieder Platz im Bewusstsein, dass er die Angelegenheit auf das angemessene Argument fokussiert und somit die Sympathie des Publikums gesichert hatte.

Die Richter zogen sich in ihr Büro zurück, die Geschworenen ebenfalls, um das Urteil abzuwägen und Etienne Rambert wurde zwischen zwei Wächtern abgeführt. Juve hatte sich während des gesamten Prozesses nicht einmal gerührt oder auch nur ein Zeichen von Zustimmung oder Ablehnung zu irgendeiner der ausgetauschten Fragen und Antworten gezeigt. Nun saß er unauffällig auf die Gespräche lauschend, die sich um ihn zu dem Fall abspielten.

Président Bonnet meinte, dass Etienne Rambert einen groben Fehler begangen habe, indem er abgelehnt hatte, eine Verteidigung aufzubauen. Damit habe er Missachtung gegenüber dem Gericht gezeigt, was immer unklug sei und das Gericht werde hier kein Mitleid üben. Dollon war da anderer Meinung. Für ihn hatte Etienne Rambert das Schicksal herausgefordert, er verdiente daher eher Mitleid als Strenge, und das Gericht würde nachsichtig sein. Ein anderer Herr erklärte, dass Etienne Rambert in einer ausweglosen Situation gewesen sei. Wie sehr auch immer er seinen Sohn geliebt habe, könne er nur noch gehofft haben, dieser würde Selbstmord begehen. Sollte ein Freund ein Vergehen gegen die Ehrengesetze begangen haben, so würde man ihm auch nur noch eine Pistole an die Hand geben. Und so ging es weiter. Die einzige Gemeinsamkeit in all diesen Feststellungen lag in der einhelligen Sympathie für den Angeklagten.

Ein scharfes Signal ertönte; gravitätisch und ungerührt kamen die Geschworenen zurück, die Richter fügten sich erneut auf ihre Plätze, Etienne Rambert wurde von den Wächtern wieder in den Gerichtssaal geführt.

In die angespannte Stille wandte sich der Sprecher der Geschworenen: »Im Angesicht von Gott und Mensch, bei meiner Ehre und meinem Gewissen erkläre ich, dass die Antwort der Geschworenen zu allen Anklagepunkten »Nein« lautet und dies die Antwort aller ist.«

Es war ein Freispruch!

Kein Applaus erhob sich, aber es schien, als hätten die Worte, die den Angeklagten befreiten, jede Brust von einer überwältigenden Furcht erleichtert. Die Luft schien leichter zu atmen, und niemand von den Anwesenden schien nicht besser dran und glücklicher diesen Schiedsspruch zu hören, der das allgemeine Mitleid rechtfertigte, das alle für den traurigen Angeklagten, einen Mann von Ehre und so unglücklichen Vater, empfanden!

Mit diesem Spruch hatten die Geschworenen Etienne Rambert stillschweigend Beifall und Mitgefühl zuteilwerden lassen. Aber er saß noch immer reglos auf der Anklagebank, gebrochen und niedergedrückt von dem schrecklichen Elend, unverhohlen schluchzend und ohne Bemühen, seine unermessliche Trauer zu verbergen.