Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Das Geheimnis zweier Ozeane 25

Zweites Buch
Dreizehntes Kapitel
Gewisse Überlegungen

Oberleutnant Bogrow drückte einen Hebel auf dem Pult herunter und drehte ein kleines Steuerrad einige Teilstriche nach rechts.

Die Pionier hob ihren Bug und schoss schräg nach oben. In dreihundert Meter Tiefe nahm der Schiffsrumpf wieder eine horizontale Lage ein und hielt weiter Kurs nach Süden.

»Ist es gut so, Iwan Stepanowitsch?«, fragte der Oberleutnant den Ozeanografen.

»Ausgezeichnet! Fabelhafte Sicht!« antwortete Schelawin mit leicht erkälteter Stimme, ohne den Blick der kurzsichtigen, etwas zusammengekniffenen Augen von dem großen Bildschirm zu wenden.

Über die Kuppel huschten riesige dunkle Schatten. Einige von ihnen nahmen auf der Oberfläche einen großen Raum ein, andere ragten bis tief in das Wasser hinunter. Manchmal schien es, als würden sie das U-Boot rammen, aber die Pionier schwamm sicher unter ihnen hinweg, nur von Zeit zu Zeit den Bug neigend und wieder aufrichtend.

Der Ozeanograf schaute unverwandt nach oben. Er fragte: »Auf welcher Breite sind wir, Alexander Leonidowitsch?«

»58° 40′ südlicher Breite, 80° westlicher Länge«, antwortete Bogrow.

»Es wimmelt ja hier von Eisbergen!«

»In dieser Gegend ist es schon Winter, Iwan Stepanowitsch!«

»Natürlich … Aber für den Wintersanfang sind es zu viele. Heute haben wir ja erst den 10. Juli.«

Beide schwiegen. – Ein paar Minuten später erschienen Lordkipanidse und Pawlik.

»Eisberge! Sehr interessant!« rief der Zoologe, den Bildschirm betrachtend.

»Hier sehen sie ganz anders aus«, meinte Pawlik. »Als wir an Bord der Diogenes dem Eisberg begegneten, konnte ich ihn gut sehen. Er war viel höher als das Schiff und glitzerte. Wie gemeißelt sah er aus, mit Verzierungen …

»Das ist verständlich«, sagte Schelawin. »Damals hast du nur das Stück wahrgenommen, das aus dem Wasser ragte, und jetzt siehst du die Unterwasserteile der Eisberge. Über dem Meeresspiegel wird das Eis von warmen Winden, von der Sonne und vom Regen zerstört, dagegen ist der Teil des Eisberges, der sich unter Wasser befindet, nur den warmen Meeresströmungen ausgesetzt. Übrigens ist der Eisberg unter Wasser sechs- bis sieben-, manchmal auch neunmal größer als seine Fortsetzung über der Oberfläche … Soeben ist die Pionier etwas tiefer getaucht, um einem solchen Unterwasserteil auszuweichen. Dabei ist zu bedenken, dass die Pionier in dreihundert Meter Tiefe schwimmt. Folglich ragt dieser Eisberg über dem Wasser etwa fünfzig Meter empor, und insgesamt ist er wohl vierhundert Meter hoch. Wissen Sie eigentlich, junger Mann, dass es Eisberge gibt, die sechs-, ja siebenhundert Meter hoch sind?«

»Ach du meine Güte!«, rief Pawlik erstaunt. »Siebenhundert Meter! Kann denn das Meer so tief einfrieren?«

Der Ozeanograf räusperte sich, dann zuckte er ärgerlich die Schultern.

»Wie kann man nur solch dumme Fragen stellen! Im grimmigsten Winter erreicht die Eisdecke auf dem Meer keine größere Stärke als drei oder vier Meter. Außerdem ist das Meer salzhaltig, die Eisberge dagegen bestehen aus Süßwassereis. Sie bilden sich also nicht aus Meerwasser, sondern aus Süßwasser. Und solches Wasser findet sich nur auf der Erdoberfläche. Folglich entstehen Eisberge auf dem Land …

»Ja … aber warum sind sie denn hier?«, fragte Pawlik verwundert. »Wie kommen sie ins Meer?«

»Hast du überhaupt schon mal was von Gletschern gehört?«, polterte der Ozeanograf, den Pawliks naive Fragerei verstimmte. »Was lehrt man euch denn in euren Gymnasien?«

»Ich habe davon gehört …«, entgegnete Pawlik verlegen. »Gletscher, das sind Eisströme auf hohen Bergen, wo es sehr kalt ist. Sie rutschen nach unten, wo es wärmer ist … Nun, und dort schmelzen sie, und ihnen entspringen Bäche und Flüsse.«

»Eisströme … hm … Eisströme«, brummte der Ozeanograf. »Meinetwegen! Und in den arktischen und antarktischen Gebieten bedeckt das Eis nicht nur die Gipfel der Berge, sondern das ganze Land trägt einen Eispanzer. Dieses Eis heißt deshalb auch Inlandeis. Fast ganz Grönland, die größte Insel der Welt, die zwei Millionen einhundertachtzigtausend Quadratkilometer groß ist, ist bis auf einen schmalen Küstenstreifen mit Eis bedeckt. Von Jahr zu Jahr, viele Jahrhunderte hindurch, wurde die Schneedecke auf der Insel immer höher und verwandelte sich unter ihrem eigenen Gewicht in Eis. Diese Eisdecke wurde immer dicker, und jetzt liegt auf Grönland eine Eiskappe mit einer Dicke von zwei Kilometern, an manchen Stellen sogar noch mehr! Die gleiche Erscheinung wurde beispielsweise auf dem antarktischen Festland beobachtet. Von dieser Eisdecke erstrecken sich Eiszungen zum Meer, gleiten zuerst über dessen Boden, und wenn sie in tiefere Regionen kommen, tauchen sie auf. Wind und Wellen zerfressen sie, auch ihre eigene Schwere wirkt mit, und es kommt so weit, dass das Endstück der Eiszunge abbricht und als Eisberg ins offene Meer treibt. Wenn wir uns dem Festland nähern, können wir vielleicht so etwas beobachten … Oberleutnant Bogrow, wie weit kreuzen wir nach Süden?«

»Wie es der Kapitän bestimmt«, erfolgte die lakonische Antwort.

In diesem Augenblick betrat der Kapitän den Steuerraum.

Er nickte allen zu und verschwand in der Funkerkabine. »Immer noch kein Funkspruch von der Politischen Verwaltung?«, fragte er Pletnjow wie schon so oft in den letzten Tagen.

»Doch, Genosse Kommandant, gerade aufgenommen«, antwortete der Bordfunker und reichte dem Kapitän ein Blatt Papier.

»Endlich …«, sagte dieser halblaut, faltete das Papier zusammen, verwahrte es in der Brusttasche und kehrte in den Steuerraum zurück. Hier ging er auf den Zoologen zu und fragte ihn: »Morgen also, um acht, machen Sie Ihre erste Station in diesen Gewässern?«

»Ganz recht, Kapitän.«

»Wie viel Mann?«

»Schelawin, Siedler, Zoi, Pawlik und ich …, fünf Personen.«

»Gut. – Alexander Leonidowitsch«, Kapitän Woronzow wandte sich an den Oberleutnant, »haben Sie morgen im Steuerraum Dienst?«

»Jawohl, Genosse Kommandant!«

»Lassen Sie die von Arsen Dawidowitsch Genannten von Bord gehen. Kreuzen Sie um die Exkursionsteilnehmer in einem Umkreis von fünfzig Kilometern … Sonst darf niemand mehr das U-Boot verlassen.«

»Zu Befehl!«

Der Kapitän drehte sich um und trat in den Gang hinaus. Durch die für einen Augenblick geöffnete Tür drangen die feurigen Tanzrhythmen einer kaukasischen Lesginka in den Steuerraum.

»Bald geht’s los!«, rief Pawlik, in die Hände klatschend und fügte flüsternd, als handle es sich um ein Geheimnis, hinzu: »Heute Abend will die Schiffsbesatzung Skworeschnja feiern. Er wird aus dem Lazarett entlassen.«

Der Kapitän betrat seine Kajüte und verschloss hinter sich die Tür. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm aus dem Geheimfach das Chiffreverzeichnis heraus. Lange Zeit brauchte er zum Entschlüsseln des Funkspruchs. Als er dann damit fertig war, lehnte er sich ärgerlich im Stuhl zurück. Dann beugte er sich wieder über den Schreibtisch und las den Funkspruch noch einmal aufmerksam durch. Er lautete:

 

Antwort wegen Kontrolle bereits bekannter Daten und wegen neuer Nachprüfungen in Tokio und Nagasaki verzögert. Während der ersten Dienstreise, vor fünf Jahren, hatte Gorelow in der japanischen Hafenstadt Nagasaki zu tun. Seinen Auftrag führte er glänzend aus, wofür er nach Rückkehr eine Auszeichnung erhielt. In Nagasaki, wo er zwei Jahre verbrachte, arbeitete er viel, besuchte manchmal Theater, Kinos, Museen, Tempel und lernte die Sehenswürdigkeiten des Landes kennen. Er verbrachte oft seine Freizeit in Gesellschaft von Angehörigen der sowjetischen Kolonie Nagasakis und Tokios.

Die zweite Dienstreise, vor zwei Jahren, führte Gorelow nach Tokio. Hier war er des Öfteren Gast seines Onkels Nikolai Petrowitsch Abrossimow. Mit dessen Tochter Anna Nikolajewna besuchte er Theater, exklusive Restaurants, Cafés und Bälle. Lebte auf großem Fuß. Sein Gehalt war ziemlich hoch, für seine Lebensführung jedoch wohl kaum ausreichend. In dieser Zeit traf er sich mit den Mitgliedern der sowjetischen Kolonie nur selten. – Abrossimow ist ein ehemaliger Zarengeneral. Die Kerenski-Regierung hatte ihn damals nach Japan zum Einkauf und zur Abnahme von Kriegsmaterial gesandt. Nach der Revolution von 1917 kehrte er nicht nach Sowjetrussland zurück. Die Tochter ist in Japan geboren. Seine Frau starb vor zehn Jahren. Abrossimow lebt ziemlich verschwenderisch. Seine Einnahmequellen sind nicht bekannt. Man sagt, er mache Börsengeschäfte. Er hat viele Bekannte in japanischen Offizierskreisen.

Zum zweiten Mal in Tokio, dem Ziel seiner dritten Dienstreise, lebte Gorelow ebenso großzügig und war ständiger Gast bei Abrossimow. Gerüchteweise soll er sich mit dessen Tochter verlobt haben, eine Verlobung wurde jedoch nie bekannt gegeben. Über irgendwelche geschäftlichen oder geheimen Beziehungen zwischen Gorelow und Abrossimow liegt kein Material vor.

 

Der Kapitän spielte nachdenklich mit einem Bleistift, warf ihn auf den Tisch und erhob sich.

»Daraus soll man nun irgendwelche Schlüsse ziehen können«, murmelte er und begann nach seiner Gewohnheit, die Hände auf dem Rücken, in der Kajüte auf und ab zu gehen. Seine Schritte wurden immer schneller; manchmal blieb er stehen, setzte aber dann wieder seine Wanderung fort.

Ein General … hm … dieser General war ihm verdächtig. Eine schöne Frau war auch dabei … bester Romanstoff, Teufel noch mal! Aber auf welche Weise klappt die Verständigung vom U-Boot aus? Dazu gehört doch eine Funkstation! Und dann die riesigen Entfernungen … und doch verriet jemand die Fahrtroute! Wachsam sein, Kapitän! – Die Kajüte durchsuchen? Aber warum gerade bei ihm, bei Gorelow! Unter sechsundzwanzig Männern ausgerechnet bei ihm? Und nur, weil er eine so verdächtige, richtiger gesagt, zweifelhafte Stelle in seinem Lebenslauf hatte … Ein Mann, der mit einem Orden ausgezeichnet wurde! – Wenn man es sich überlegt, ist im Grunde genommen gar kein Anlass vorhanden. Und dennoch! Es ist besser, einen Mann zu kränken, als das Leben der ganzen Besatzung zu gefährden, als das U-Boot der Möglichkeit einer Vernichtung auszusetzen … Das wäre ein harter Schlag für das Vaterland. Ein furchtbares Unglück.

Mit geballten Fäusten und entschlossenem Gesicht ging der Kapitän auf den Schreibtisch zu.

Der große Aufenthaltsraum war voller Menschen. Eine kleine Jazzkapelle spielte ununterbrochen die neuesten Schlager. Die Stimmung war auf dem Höhepunkt.

Der Maschinist Kosyrew und der Kameramann Siedler, die besten Tänzer an Bord, legten einen feurigen »Russischen« aufs Parkett. Sie zeigten die schwierigsten Tanzschritte und Luftsprünge. Die Zuschauer applaudierten begeistert. Ab und u blickte der eine oder andere ungeduldig zur Tür. Trotzdem geschah es, dass sich die Tür unbemerkt für alle öffnete, gerade in dem Augenblick, als Siedler sich auf einer Fußspitze wie ein Kreisel drehte und das wilde Furioso der Kapelle ihm kaum folgen konnte.

In der Türöffnung stand der kleine zapplige Maschinist Romejko. Er verkündete:

»Ich habe die Ehre, dem hochverehrten Publikum den berühmten Athleten, Bezwinger der Berge, Bändiger der Haifische und anderer Meeresungeheuer, das Deichselpferd der Tauchertroika, den Stolz der Schiffsbesatzung, unseren unbesiegbaren Andrej Wassiljewitsch, vorzustellen, der …«

»Genug der Faxen, du Flederwisch!«, hörte man aus dem Gang eine bekannte Bassstimme dröhnen, und in der Türöffnung zeigte sich die riesige Gestalt Skworeschnjas. »Guten Abend, Jungens!«

Der Taucherälteste trug einen weißen Kittel und eine weite schwarze Hose. Sein Gesicht sah noch etwas blass aus, aber der lange blonde Schnurrbart war wie immer gepflegt, und die kleinen Augen blickten lustig und verschmitzt.

Die Kapelle spielte einen Tusch, die Anwesenden applaudierten und begrüßten ihn stürmisch. Fünf Mann mit Gitarre, Mandoline und Balalaikas traten vor. Sie stellten sich vor Skworeschnja auf, verneigten sich nach altrussischer Sitte tief und sangen in der Manier einer volkstümlichen Ballade:

 

Das weite Meer erfüllt ein Rauschen,

wir Taucher alle verwundert lauschen:

Ist’s einer Woge brausender Lauf,

oder peitscht ein Sturmwind das Wasser auf?

Doch nein! Voll Kraft stürmt dort heran

Andrej Wassiljewitsch, ein kühner Mann.

Wandelt er auf dem Grund des Meeres –

nie sah’n wir etwas Stärk’res, Hehres;

denn holt er aus mit dem rechten Arm,

bahnt er sich eine Gasse im Haifischschwarm,

und schiebt er nur vor das linke Bein,

so stürzen Felsengebirge ein.

Ein wahrer Recke ist unser Tauchält’ster doch!

Und darum lebe er hoch, hoch, hoch!

 

Einen Augenblick sah Skworeschnja verlegen auf die Sänger dieses »Heldenliedes« und sagte dann bittend: »Hört doch auf mit dem Gesinge! Ich kriege ja Zahnschmerzen davon. Was Besseres ist euch wohl nicht eingefallen: Recke … rechter Arm … linkes Bein …! Felsengebirge stürzen ein …! So war es gar nicht.«

»Nein, du hast damit nicht das Geringste zu tun, nicht wahr?«, rief Marat lachend. »Man will dem armen Andrej nur etwas anhängen!«

»Aber so meine ich es doch gar nicht, meine lieben Freunde!«, verteidigte sich Skworeschnja. »Ihr habt nur die wichtigsten Tatsachen vergessen. Ohne diese wäre es schiefgegangen.«

»Na, dann heraus mit der Sprache! Lüfte deine Geheimnisse!«, rief man von allen Seiten.

Skworeschnja stellte sich breitbeinig hin und begann umständlich.

»Erstens, meine lieben Freunde, habt ihr ganz und gar das archimedische Prinzip vergessen: Jeder Körper, der in eine Flüssigkeit getaucht wird, verliert an Gewicht soviel, wie die von ihm verdrängte Flüssigkeit wiegt. Wie groß war das Volumen dieses Felsens? Höhe: etwa vier Meter, Länge: zwei Meter, Breite: zwei Meter. Zwei mal zwei mal vier sind sechzehn, folglich hatte er sechzehn Kubikmeter Wasser verdrängt oder genauso viel Tonnen. Bei einem spezifischen Gewicht des Granits von 2,65 wiegt der Felsen … Los, Mathematiker, greift mir unter die Arme!«

»Schätzungsweise zweiundvierzig Tonnen«, ließ sich Gorelow aus einer Ecke vernehmen.

Skworeschnja sah anerkennend auf den Ingenieur.

»Haben Sie das so schnell im Kopf ausgerechnet? Allerhand!«

Gorelow grinste. »Das bringt der Beruf so mit sich …«

»Na schön! Also … der Felsen wog zweiundvierzig Tonnen. Das verdrängte Wasser sechzehn. Folglich wog der Felsen im Wasser nur sechsundzwanzig Tonnen.«

»Nur? Ganz schön, finde ich!«, bemerkte Matwejew ironisch.

»Gehen wir weiter«, fuhr Skworeschnja fort. »Der Meeresboden vor dem Grotteneingang war stark abschüssig, und deshalb hatte sich der Schwerpunkt des Felsens stark nach außen verlagert. Das hat meine Aufgabe um mindestens die Hälfte erleichtert, mit anderen Worten, dieser Umstand hat das Gewicht des Felsens um weitere dreizehn Tonnen vermindert. Dann kommt noch hinzu«, Skworeschnja blickte sich im Kreise um, »dass meine Beine wie gute Hebel wirkten — das hat mir drei weitere Tonnen erspart.«

»Ich wette«, rief Leutnant Krawzow lachend, »noch ein bisschen, und vom Felsen bleibt überhaupt nichts übrig! Und überhaupt – es geschah nichts, und es ist nichts gewesen!«

»Aber nein!«, entgegnete Skworeschnja unter allgemeiner Heiterkeit. »Ich bleibe jetzt bei den zehn Tonnen stehen. Und trotzdem wäre ich damit nicht fertig geworden, wenn nicht noch ein vierter Faktor – die Angst – im Spiel gewesen wäre. Jawohl, ich gestehe es offen! Die Angst vor dem Tode! Man braucht sich dieses Gefühls nicht zu schämen … Die Angst hatte meine Kräfte verdoppelt. Aber ich gebe euch mein Ehrenwort, dass, obwohl der Felsen schon zu wanken begann, ich meine Kräfte schon schwinden fühlte. Und hier kam der fünfte Faktor hinzu. Der fünfte, entscheidende Faktor! Eine Kraft, die im letzten kritischen Moment meinen Kampf mit dem Felsen zu meinen Gunsten entschieden hat. Ratet mal, was das war?«

»Du erinnertest dich daran, dass du von mir noch nicht Abschied genommen hattest!«, rief Marat.

»Keine Spur!«, entgegnete der Akustiker Ptizyn energisch. »Ihm fiel ein, dass er mir noch zwanzig Rubel schuldete, und er wollte nicht als Betrüger aus dieser Welt scheiden. Geld auf den Tisch, Andrej Wassiljewitsch!«

Skworeschnja lachte schallend.

»Ich sehe schon, ihr kommt nicht darauf. Ihr habt keine Fantasie! Entscheidend war …‚ sagte er feierlich. »Wo ist er denn? Aha! Komm mal her! Brauchst dich doch nicht zu verstecken. Komm her, hab keine Angst …«

Skworeschnja packte Pawlik am Arm und zerrte ihn in die Mitte des Raumes.

»Er allein hat meinen Streit mit dem Felsen entschieden! Pawlik und kein anderer!«

Man hörte von allen Seiten zweifelnde und anerkennende Ausrufe.

»Ja, ja«, rief Skworeschnja, »als ich fühlte, dass meine Kräfte erlahmten, sah ich wie im Nebel Pawlik, der mit lautem Hurrageschrei auf den Felsen stürzte und sich mit aller Kraft gegen ihn stemmte. Mich durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. Und der Felsen kippte um. Das war das Letzte, woran ich mich erinnere.«

»Hurra! Bravo, Pawlik! Ein tüchtiger Junge! Wir wollen ihn schaukeln! Schaukelt ihn! Hurra!«

Alle gerieten außer Rand und Band – schrien, klatschten in die Hände und warfen Pawlik hoch, der vor Freude und Angst kreischte. Die Kapelle spielte einen donnernden Tusch.

»Ein netter Junge«, sagte Kommissar Sjomin zu Zoi, der neben ihm an der Tür stand.

Zoi blickte besorgt auf den bis zur Decke emporschnellenden Jungen.

Plötzlich bemerkte er, dass die Freude aus Pawliks Gesicht wich und seine Augen sich angstvoll weiteten. Der junge Mann fühlte tiefe Besorgnis, er folgte Pawliks Blick in die eine Ecke des Raumes.

Dort stand Gorelow. Zoi drückte instinktiv Sjomins Arm. Der Kommissar blickte mit zusammengezogenen Brauen auf den Ingenieur. Gorelow, der sich mit dem Chefakustiker Tschishow unterhielt, hatte sich für einen Augenblick von seinem Gesprächspartner abgewandt und warf Pawlik, der gerade zur Decke hinaufflog, einen finstern, hasserfüllten Blick zu.

Pawlik war blass geworden und versuchte, sich den Armen seiner Freunde zu entwinden.

»Bist wohl schwindlig geworden?«, fragte Skworeschnja lachend, seinen langen Schnurrbart zwirbelnd.

»Ist ja klar«, bemerkte Marat, Pawliks Kopf streichelnd, »die Pionier schlingert doch nie, wie sollte er sich da ans Schaukeln gewöhnen?«

»Sogar ein echter Seebär kann auf dieser ruhigen Kiste schlappmachen«, pflichtete ihm Matwejew bei.

Zoi drängte sich zu Pawlik durch, fasste ihn um die Schultern und führte ihn zu einem breiten, weichen Sessel.

Sie nahmen beide darin Platz. Kommissar Sjomin setzte sich neben sie auf einen Stuhl.

Die Festteilnehmer begannen zu tanzen. Skworeschnja tanzte, trotz seiner massigen Figur, mit Matwejew leicht und beschwingt einen Walzer. Matwejew war »Dame«. Alle wollten mit Skworeschnja tanzen, und er konnte sich vor »Damen« kaum retten.

Zoi neigte sich zu Pawlik und fragte ihn leise: »Warum hast du dich so erschrocken? Was war denn los?«

Pawlik schmiegte sich an Zoi und schloss die Augen.

»Nichts …«, antwortete er kaum hörbar, »gar nichts …« Aber dann hob er den Kopf, und in seinen Augen leuchteten Zorn und Entrüstung auf. Seine Wangen röteten sich, und die Finger krampften sich zusammen.

»Er ist böse … ein böser, schlechter Mensch!«, sagte er mit stockender Stimme. »Bis jetzt trägt er es mir nach. Solche Kleinigkeit! Ich habe mich ja damals entschuldigt. Das war doch nur ein Versehen von mir …« Pawliks Lippen zitterten, und er schwieg wieder.

»Wer?«, fragte Zoi neugierig.

Der Junge antwortete nicht.

»Gorelow?«, fragte Zoi beharrlich weiter.

Pawlik nickte.

»Was hat er dir nicht verziehen? Warum ist er böse auf dich?«

»Wegen einer Kleinigkeit! – Kannst du dich noch erinnern? Damals hatte ich in der Druckkammer mit Marat einen Streit wegen des Seeigels, und ich schlug ihm mit dem Exkursionssack über den Kopf. Der Sack gehörte dem Ingenieur … Ich habe es aber nicht absichtlich getan …«

»Hat er dir einen Verweis erteilt?«

»Nein … Er war nur sehr wütend … und hat mir das Kästchen von seiner Schreibmaschine aus der Hand gerissen. Dabei hat er mich so angeschaut, als wollte er mir am liebsten den Hals umdrehen … So wie vorhin.«

Der Kommissar beugte sich mit einem Ruck vor. »Was für ein Kästchen?«, fragte er.

»Nun, ich hab’s ja schon mal gesagt, von seiner Schreibmaschine … für Reserveteile«, antwortete Pawlik, der, nachdem er seiner Entrüstung Luft gemacht hatte, schon wesentlich ruhiger wurde und interessiert zu dem komischen Paar Skworeschnja und Marat hinüberschaute.

Marat erheiterte alle mit seinen Späßen. Er schnitt Grimassen, verrenkte die Glieder und trat seinem Partner auf die Füße. Skworeschnja wurde wütend, hob ihn wie ein Kätzchen in die Luft und tanzte weiter, seine zappelnde »Dame« über dem Boden schwingend. Marat versuchte vergeblich, sich dem eisernen Griff Skworeschnjas zu entwinden, und schrie schließlich um Hilfe.

Pawlik lief lachend auf Skworeschnja zu. »Jagen Sie diesen Clown zum Teufel, Andrej Wassiljewitsch«, rief er. »Versuchen Sie es mit mir! Ich werde bestimmt gut tanzen! Ehrenwort!«

»Dann los, mein Junge!«, rief der Riese erfreut. »Geht’s dir schon besser?«

Er setzte Marat ab, der heilfroh war, den Bärentatzen seines Freundes entronnen zu sein.

Die Kapelle spielte eine Polka, und Pawlik sprang wie ein Böckchen um seinen Tanzpartner herum.

Zoi saß nachdenklich im Sessel, unberührt von dem ausgelassenen Treiben um sich herum. Auch der Kommissar schwieg.

Nach dem Tanz las Pawlik »auf stürmisches Verlangen des Publikums«, wie sich der Ansager des Abends, Romejko, ausdrückte, sein Poem »Die Bezwinger der Tiefen« vor. Man spendete ihm begeistert Beifall, und er musste einige Stellen wiederholen. Schließlich gab der Kommissar das Unterrichts- und Unterhaltungsprogramm für die nächsten fünf Tage bekannt.

Es war Mitternacht, als alle, müde, aber in bester Stimmung, unter den Klängen eines flotten Marsches auseinandergingen.

In dem Raum blieben nur zwei Männer zurück – der Kommissar und Zoi. Einige Minuten schwiegen beide.

Dann sagte der Kommissar leise: »Was meinen Sie, Zoi, wie soll man das alles verstehen?«

Zoi strich langsam über seine glänzenden schwarzen Haare und lehnte sich im Sessel zurück: »Ich begreife nichts! Feststeht nur, dass Gorelow aus irgendeinem Grund Pawlik nicht leiden kann. Aber warum? Ein so netter, harmloser Junge! Doch nicht des Rucksackes wegen …«

»Ja-a-a«, sagte der Kommissar gedehnt und starrte nachdenklich vor sich hin. »Und dann noch dieses Kästchen … Eine merkwürdige Geschichte! Übrigens, mir scheint, dass sie schon viel früher begonnen hat.«

Zoi schaute den Kommissar erstaunt an. »Früher? Aus welchem Grund denn?«

Der Aufwärter Stscherbina betrat mit einem Staubsauger in der Hand den Raum und unterbrach ihr Gespräch.

Der Kommissar erhob sich und sagte zu Zoi: »Gehen wir in meine Kajüte, dort können wir uns weiter unterhalten.«