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Fantomas – Kapitel 7.1

Die Kriminalpolizei

»Entschuldigen Sie bitte, lebt Monsieur Gurn hier?«

Madame Doulenques, die Concierge der Rue Lévert Nr. 147, betrachtete den Fragenden und sah einen hochgewachsenen, dunklen Mann mit mächtigem Schnurrbart, der einen Filzhut und einen sorgfältig geknöpften Überrock trug, dessen Kragen bis hinauf zu seinen Ohren aufgeschlagen war.

»Monsieur Gurn ist fort, Monsieur«, antwortete sie, »er ist nun schon ein wenig länger fort.«

»Ich weiß«, sagte der Fremde, »aber ich will dennoch hinauf zu seinen Räumlichkeiten, wenn Sie so freundlich wären, mit mir zu gehen.«

»Sie möchten …«, setzte die Concierge mit Überraschung und Zweifel an. »Ah, ich weiß. Natürlich sind Sie der Monsieur von der wie-heißt-sie-noch-gleich Gesellschaft, um sein Gepäck zu holen? Einen kleinen Moment, wie war noch der Name dieser Gesellschaft? Etwas Seltsames … ein englischer Name, meine ich.«

Die Frau verließ die Tür, welche sie gerade halb offen hielt, und ging zurück in ihre Pförtnerloge. Sie sah die Fächer durch, in welchen sie die Post der Mieter sortiert bereithielt, und fischte eine an Monsieur Gurn adressierte, unsauber bedruckte Sendung heraus. Sie war damit beschäftigt, ihre Brille aufzusetzen, als der Fremde näher kam und über ihre Schulter hinweg einen flüchtigen Blick auf den Namen werfen konnte, den sie suchte.

»Ich komme von der South Steamship Company.«

»Ja, das ist sie,« bestätigte die Concierge, eifrig die Worte buchstabierend, »die South- wie Sie sagten. Ich kann niemals diese Namen aussprechen. Rue d’Hauteville, nicht wahr?«

»So ist es«, antwortete der Mann mit dem Filzhut in gefälligem, gemäßigtem Ton.

»Nun, es ist ziemlich deutlich, dass Sie dort nicht gerade übereifrig sind«, bemerkte die Concierge. »Ich erwarte Sie zur Abholung von Monsieur Gurns Sachen schon seit gut drei Wochen. Er sagte mir, Sie kämen wenige Tage nach seiner Abreise. Wie auch immer, das ist Ihre Angelegenheit.«

Madame Doulenques warf einen flüchtigen Blick durch das Fenster, welches auf die Straße zeigte, und musterte den Fremden von Kopf bis Fuß. Er schien eindeutig zu gut gekleidet für einen einfachen Träger.

»Aber Sie haben weder eine Handkarre noch einen Wagen dabei«, rief sie aus. »Sie denken doch wohl nicht daran, die Gepäckstücke auf Ihrer Schulter zu tragen? Herrje, es gibt mindestens drei oder vier Stück – und schwer.«

Der Fremde pausierte vor dem Antworten, so, als fände er es nötig, jedes Wort abzuwägen.

»In der Tat wollte ich zunächst einen Eindruck von den Ausmaßen der Gepäckstücke erhalten«, sagte er ruhig. »Würden Sie sie mir bitte zeigen?«

»Wenn ich muss, dann muss ich wohl«, sagte die Concierge unter einem heftigen Seufzen. »Folgen Sie mir hinauf. Es ist in der 5. Etage.«

Während sie die Stufen erklomm, murrte sie: »Wie bedauerlich, dass Sie nicht während meiner Arbeit kamen, dann müsste ich nun nicht die Hundert Stufen ein zweites Mal klettern. Das summiert sich am Ende des Tages und ich bin nicht mehr so jung, wie ich mal war.«

Der Fremde folgte ihr die Stufen hinauf, murmelte dabei einzelne Worte seines Mitgefühls und passte sich ihrem Schritt an. In der 5. Etage angekommen, zog die Concierge den Schlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Tür zu der Wohnung.

Es handelte sich um eine kleine, bescheidene Wohnstätte, die aber recht hübsch eingerichtet war. Die Tür vom Flur öffnete sich in eine winzige Art Vorzimmer, von welchem man in ein vorderes Zimmer gelangte, das mit nicht mehr als einem runden Tisch und einigen Lehnstühlen möbliert war. Außerdem gab es ein Schlafzimmer, das fast vollständig von dem großen Bett ausgefüllt war, welches man beim Eintreten als Erstes sah, und auf der rechten Seite war noch ein weiteres Zimmer, vermutlich ein kleines Büro. Sowohl das erste Zimmer, das als eine Art Wohnzimmer diente, als auch das Schlafzimmer hatten große Fenster, durch welche man in Gärten blickte, soweit das Auge reichte. Ein Vorteil dieser Wohnung war, dass ihr nichts gegenüberlag, sodass der Bewohner sich auch bei geöffnetem Fenster frei bewegen konnte, wenn er wollte, ohne die Neugierde von Nachbarn befürchten zu müssen.

Die Räume waren nun seit einigen Tagen verschlossen gewesen, da der Mieter tatsächlich fort war, und sie hatten einen muffigen Geruch angenommen, vermengt mit der starken Ausdünstung von Chemikalien.

»Ich muss hier lüften«, brummte die Concierge, »oder Monsieur Gurn wird nicht erfreut sein, wenn er zurückkommt. Er sagt immer, es sei ihm zu heiß und er könne nicht atmen in Paris.«

»Er lebt hier also nicht dauerhaft?«, fragte der Fremde, während er beim Sprechen alles neugierig mit den Augen absuchte.

»Aber nein, Monsieur«, antwortete die Concierge. »Monsieur Gurn ist so etwas wie ein Handelsreisender und sehr häufig fort, manchmal für einen Monat oder sechs Wochen am Stück«, so begann die tratschende Frau eine lange und zusammenhanglose Geschichte, bis der Fremde sie mit einem Fingerzeig auf die silbern gerahmte Fotografie einer jungen Frau unterbrach, die er auf dem Kaminsims entdeckt hatte.

»Ist das Madame Gurn?«

»Monsieur Gurn ist Junggeselle«, entgegnete Madame Doulenques. »Ich kann ihn mir nicht verheiratet vorstellen mit seiner unsteten Lebensart.«

»Na, dann nur eine kleine Freundin von ihm?«, vermutete der Mann unter dem Filzhut, mit einem Wink und einem bedeutungsvollen Lächeln.

»Oh nein«, erwiderte die Concierge kopfschüttelnd. »Das Foto entspricht ihr in keiner Weise.«

»Also kennen Sie sie?«

»Ja und nein. Sozusagen. Wenn Monsieur Gurn in Paris weilt, erhält er nachmittags oft Besuche von einer Dame. Eine sehr elegante Dame, kann ich Ihnen sagen, solche sieht man hier im Viertel nicht häufig. Also, diese Dame ist aus der Gesellschaft, da bin ich sicher. Sie ist immer verschleiert und huscht so schnell an meiner Pförtnerloge vorbei, und sie spricht nie ein Wort mit mir, aber sehr großzügig. Es ist sehr selten, dass sie mir nichts gibt, wenn sie kommt.«

Der Fremde schien die Erzählung der Concierge sehr interessant zu finden, aber er ließ sich davon nicht bei der geistigen Aufnahme der Räumlichkeiten ablenken.

»Mit anderen Worten, Ihr Mieter achtet nicht zu sehr auf sein Geld?«, vermutete er.

»Nein, wirklich. Die Miete wird immer im Voraus gezahlt und manches Mal zahlt Monsieur Gurn sogar zwei Mieten vorab, weil er sagt, er weiß nie, ob seine Geschäfte ihn vielleicht fernhalten, wenn sie fällig wird.«

In diesem Augenblick rief eine tiefe Stimme in das Treppenhaus hinauf: »Concierge, haben Sie jemanden mit Namen Monsieur Gurn im Haus?«

»Kommen Sie in die 5. Etage«, rief die Concierge dem Mann zurück. »Ich befinde mich gerade in seinen Räumen.« Sie ging zurück in das Appartement. »Hier ist noch jemand für Monsieur Gurn«, exklamierte sie.

»Hat er viele Besucher?«, horchte der Fremde sie aus.

»Kaum jemanden, Monsieur. Darum bin ich ja so überrascht.«

Zwei Männer erschienen. Ihre blauen Hemden und die stahlverzierten Kappen wiesen sie als Träger aus. Die Concierge wandte sich an den Mann im Filzhut.

»Ich vermute, dies sind Ihre Leute, die Gepäckstücke zu holen?«

Der Fremde verzog leicht das Gesicht, schien zu zögern und entschied sich dann, still zu bleiben.

Die Concierge wollte schon fragen, was es zu bedeuten habe, dass sich die drei Männer offensichtlich nicht kannten, als einer der Träger sie direkt ansprach.

»Wir kommen von der South Steamship Company, um vier Gepäckstücke aus Monsieur Gurns Wohnung abzuholen. Sind das die Stücke?« Dabei nahm er keine Notiz von dem weiteren Besucher im Zimmer und zeigte auf zwei große Koffer und zwei kleinere Kisten, die sich in einer Ecke des Raumes befanden.

»Aber gehören Sie drei denn nicht zusammen?«, fragte nun die sichtlich nervöse Mme Doulenques.

Der Fremde blieb weiter still, jedoch antwortete der erste Träger sofort.

»Nein. Mit diesem Monsieur haben wir nichts zu tun. – Pack an, Kumpel! Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Den nächsten Schritt schon ahnend stellte sich die Concierge instinktiv zwischen die Träger und das Gepäck. So tat es ihr der Mann mit dem Filzhut gleich.

»Entschuldigen Sie«, sprach er höflich aber bestimmt. »Bitte nehmen Sie nichts fort.«

Einer der Träger zog ein verknittertes und schmutziges Notizbuch aus seiner Tasche, blätterte in den Seiten, jedes Mal seinen Daumen befeuchtend. Sehr aufmerksam las er hinein und sagte dann »Das ist kein Fehler. Dies ist die Adresse, zu der wir kommen sollten.« Er signalisierte seinem Partner: »Lass uns loslegen!«

Die Concierge war verwirrt. Zuerst schaute sie auf den geheimnisvollen Fremden, der ruhig und still war wie zuvor, und dann auf die Träger, die sich von den unverständlichen Komplikationen irritieren ließen.

Madame Doulenques Misstrauen wuchs und sie bedauerte ernsthaft, mit diesen Fremden allein in der 5. Etage zu sein, denn die übrigen Mieter dieses Geschosses waren längst zu ihrem Tagwerk aufgebrochen. Plötzlich flüchtete sie aus dem Zimmer und schrillte in das Treppenhaus hinunter »Madame Aurore! Madame Aurore!«

Der Mann mit dem Filzhut eilte ihr nach, packte sie behutsam, aber fest am Arm und führte sie zurück in den Raum.

»Ich bitte Sie, Madame, bleiben Sie ruhig, schreien Sie nicht!«, sagte er in gedämpftem Ton. »Alles wird gut sein. Ich bitte Sie nur, keinen Aufruhr zu verursachen.«

Jedoch war die Concierge vollständig beunruhigt über das wirklich eigenartige Verhalten all dieser Männer und schrie erneut mit sich überschlagender Stimme: »Hilfe! Polizei!«

Der erste Träger war aufgebracht.

»Es ist unerfreulich, für Diebe gehalten zu werden«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Schau, Auguste, renne schnell zur nächsten Straßenecke und bringe einen Gendarmen mit. In seiner Gegenwart werden wir die Sache klären und dann sollten wir so frei sein, unseren Job erledigen zu können.«

Auguste beeilte sich zu gehorchen und einige angespannte Augenblicke verstrichen, währenddessen nicht ein Wort zwischen den drei Menschen fiel, die zusammen zurückgeblieben waren.

Dann waren schwere Schritte zu hören und Auguste kam mit dem Gendarmen zurück. Letzterer stolzierte mit aufgesetzt majestätischer Miene in den Raum und verlangte mit wichtigtuerischem Ernst zu wissen: »Nun denn, was geht hier vor sich?«

Beim Anblick des Beamten klärte sich jegliche Haltung der Anwesenden. Die Concierge vergaß das Zittern. Der Träger verlor sein verdächtiges Auftreten. Beide begannen mit ihren Erklärungen gegenüber diesem Repräsentanten der Autorität, als der Mann mit dem Filzhut sie beiseite winkte, auf den Friedenswächter zuging und ihm mit einem direkten Blick in die Augen sagte: »Kriminalpolizei! Inspecteur Juve!«

Der Gendarm, der auf diese Offenbarung nicht vorbereitet war, tat einen Schritt zurück und richtete seine Augen nun vollständig auf den Monsieur, der ihn angesprochen hatte. Plötzlich grüßte er mit seiner Hand am képi und nahm Haltung an.

»Bitte um Entschuldigung, Inspecteur, ich habe Sie nicht erkannt! Monsieur Juve! Sie waren in dieser Abteilung ja auch lange Zeit!« Er wandte sich wütend an den ihm nahestehenden Träger. »Kommen Sie, bitte, keinen Unfug jetzt!«

Juve, der nun also seine Identität als Détective preisgegeben hatte, lächelte bei der Annahme des Gendarmen, der Träger der South Steamship Company sei ein Dieb.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Lassen Sie den Mann. Er hat nichts falsch gemacht.«

»Wen soll ich denn nun festnehmen?«, fragte der verwirrte Gendarm.

Die Concierge, sehr beeindruckt von Auftritt und Titel des Fremden, warf nun ein: »Hätte mir der Monsieur gesagt, woher er kommt, hätte ich sicherlich niemanden nach einem Gendarmen gesendet.«

Inspecteur Juve lächelte. »Wenn ich Ihnen gesagt hätte, wer ich tatsächlich bin, Madame, hätten Sie mir, so aufgebracht Sie waren, nicht geglaubt. Sie hätten weiter gerufen. Nun, ich bin gerade höchst bemüht, jeglichen Skandal oder Gerüchte zu vermeiden. Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion!« Er drehte sich zu den Trägern um, die stumm vor Erstaunen waren und nichts mit der Angelegenheit anzufangen wussten. »Was Sie beide betrifft, meine Burschen, bitte ich Sie, Ihre Arbeit hier bleiben zu lassen, sofort zu Ihrem Büro in die Rue d’Hauteville zurückzukehren und Ihrem Geschäftsführer – wie lautet sein Name?«

»Monsieur Wooland«, antwortete einer der beiden Männer.

»Also, sagen Sie Monsieur Wooland, dass ich ihn umgehend hier sehen möchte. Und sagen Sie ihm, er solle alle Dokumente mitbringen, die mit Monsieur Gurn zusammenhängen. Und kein Wort hierüber zu irgendjemandem, bitte, insbesondere in dieser Nachbarschaft. Überbringen Sie Ihrem Geschäftsführer meine Nachricht, das wäre alles.«

***