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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 6.4

Die beiden Männer eilten die Treppe hinab aus dem Haus. Als sie an jenem Rasenstück ankamen, welches der Détectives bereits vorher ausgemacht hatte, gingen sie in die Hocke und überprüften es genau. An der Seite des Rasens streckte eine große Rhabarberpflanze eines ihrer Blätter ein wenig überhängend fast parallel zum Erdboden aus. Nach einem kurzen Blick darauf war Juve im Begriff, es beiseitezuschieben und sich das nächste Blatt anzuschauen. Doch plötzlich gab er überraschend und voller Freude einen Aufschrei von sich.

»Hier ist etwas Interessantes!« Er lenkte die Aufmerksamkeit des Amtsrichters auf einige kleine Erdkrümel, mit welchen die Pflanze übersät war.

»Was ist das?«, fragte Monsieur de Presles.

»Erde«, sagte Juve, der mit der flachen Hand über den oberen Teil des Blattes gewischt hatte. »Normale Erde, wie die übrige unten auf dem Gras.«

»Nun, was ist damit?«, fragte der verdutzte Richter.

»Nun«, sagte Juve, »ich kann mir vorstellen, dass gewöhnliche Erde oder jeder Boden nicht die Kraft besitzt, um aus eigenem Antrieb heraus circa 25 Zentimeter in die Luft springt und sich auf einem Rhabarberblatt niederlässt! Daraus schlussfolgere ich, dass die Erde nicht von allein auf das Blatt kam, sondern gebracht wurde. Wie? Das ist ganz einfach! Jemand ist dort auf den Rasen gesprungen, Monsieur de Presles. Er hat seine Fußspuren beseitigt, indem er die Erde mit seinen Händen glatt strich. Die Hände wurden durch die Erde schmutzig, und er rieb sie aus Gewohnheit von den Händen. Die Erde fiel in kleinen Krümeln auf das Rhabarberblatt und lag darauf liegen, um von uns entdeckt zu werden. Und so ist es sicher, dass dies ein Beweis mehr dafür ist, auch dann, wenn der Täter nicht von außen ins Schloss gekommen ist, er auf jeden Fall die Flucht ergriff, nachdem er das Verbrechen begangen hatte.«

»Letzten Endes kann es also Charles Rambert nicht gewesen sein«, sagte der Amtsrichter.

»Es sollte Charles Rambert sein!«, war Juves verblüffende Antwort.

Der Richter wurde nervös. »Mein lieber Monsieur, Ihre ewigen Widersprüche enden ziemlich absurd! Kaum haben Sie mühsam eine Theorie aufgebaut, beginnen Sie damit, diese wieder erneut zu verwerfen. Ich verstehe Sie nicht.«

Juve lächelte über die plötzliche Nervosität des Monsieur de Presles, wurde aber schnell wieder ernst. »Ich bin sehr darauf bedacht, nicht von einer vorgefassten Meinung geleitet zu werden. Ich stelle die Hypothese auf, wer schuldig sein könnte, und prüfe alle Argumente zur Untermauerung dieser Theorie. Danach gebe ich zu bedenken, dass die Tat von jemand anderen begangen wurde und verfahre auf die gleiche Weise. Meine Methode erhebt sicherlich den Einwand, dass jedes Argument diametral mit einem anderen konfrontiert wird. Aber es geht nicht darum, einer Möglichkeit gegenüber einer anderen den Vorzug zu geben. Es ist die Wahrheit und nichts anderes, welche wir aufdecken müssen.«

»Und das ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass trotz der überwältigenden Indizien und der Tatsache, dass er weggelaufen ist, Charles Rambert unschuldig ist?«

»Charles Rambert ist der Täter, Monsieur«, antwortete Juve heiter. »Wenn er es nicht wäre, wen könnten wir sonst vielleicht verdächtigen?«

Die Gelassenheit und seine ewigen eigenen Widersprüche verärgerten Monsieur de Presles. Er hielt den Mund und dachte stillschweigend über den Fall nach, als Juve eine weitere Anregung machte.

»Es gibt eine letzte Hypothese, zu der ich mich verpflichtet fühle, diese Ihnen mitzuteilen. Sind Sie sich darüber im Klaren, Monsieur, dass es sich hierbei um ein typisches Fantômas-Verbrechen handeln könnte?«

Monsieur de Presles zuckte mit den Schultern, als der Détective diesen halbmythischen Namen aussprach.

»Auf ein Wort, Monsieur Juve, ich hätte nie erwartet, dass Sie sich auf Fantômas berufen! Warum ist Fantômas offensichtlich ein Vorwand, ein günstiges Investitionsmittel, um einen Fall zu verspotten. Unter uns gesagt, Sie wissen ganz genau, dass Fantômas lediglich eine juristische Fiktion, ein Scherz von Juristen ist. Fantômas existiert nicht wirklich!«

Juve hielt inne. Für einen Moment machte er eine Pause, bevor er darauf antwortete. Da sprach er mit zurückhaltender Stimme, jedoch mit einer Betonung seiner Worte, für die er bekannt war, in vollem Ernst.

»Es ist falsch, wenn Sie darüber lachen, Monsieur, sehr falsch. Sie sind ein Amtsrichter und ich nur ein bescheidener Inspecteur-détective. Sie haben drei oder vier Jahre Erfahrung, vielleicht weniger. Aber ich habe fünfzehn Jahre Arbeit hinter mir. Ich weiß, dass es Fantômas gibt. Ich tue alles andere als lachen, wenn ich sein Einmischen in einen Fall vermute.«

Monsieur de Presles konnte seine Überraschung kaum verbergen, und Juve fuhr fort.

»Niemand hat jemals von mir gesagt, Monsieur, dass ich ein Feigling bin. Ich habe den Tod in die Augen gesehen. Ich habe oft Verbrecher, welche nicht im geringsten gezögert hätte, mich zu beseitigen, gejagt und verhaftet. Es gibt ganze Banden von Schurken, die meinen Tod geschworen haben. Alle Arten schrecklicher Rache drohen mir Tag für Tag. All dies ist mir völlig gleichgültig! Aber wenn man sich mit mir über Fantômas unterhält, wenn ich mir vorstelle, dass ich die Einmischung dieses Genies des Verbrechens in einigen Fällen beweisen kann, dann, Monsieur de Presles, schlottern mir die Knie! Ich sage Ihnen offenherzig, dass ich Schiss habe. Ich bin verängstigt, weil Fantômas ein Wesen ist, gegen das es nutzlos ist, gewöhnliche Waffen zu verwenden, weil er imstande ist, seine wahre Identität zu verbergen und sich seit Jahren allen Verfolgungen zu entziehen, weil seine Kühnheit und seine unermessliche Macht grenzenlos sind, weil er zugleich überall und nirgends ist. Und wenn er seine Hand in dieser Angelegenheit im Spiel hatte, bin ich mir sogar nicht sicher, dass er mir in diesem Augenblick nicht zuhört! Und schließlich, Monsieur de Presles, wurden alle, die davon wussten, dass ich Fantômas attackiere, meine Freunde, meine Kollegen, meine Vorgesetzten, alle miteinander, alle miteinander, Monsieur, im Kampf besiegt! Fantômas existiert wirklich, ich weiß es. Aber wer ist er? Ein Mann kann einer Gefahr mutig entgegentreten, die er abschätzen kann. Aber er zittert, wenn er mit einem Risiko konfrontiert wird, das er zwar vermuten, aber nicht sehen kann.«

»Aber dieser Fantômas ist kein Teufel«, warf der Amtsrichter sichtbar gereizt ein, »er ist ein Mann wie Sie und ich!«

»Sie haben recht, Monsieur, indem Sie sagen, dass er ein Mann ist. Aber ich wiederhole mich: Der Mann ist ein Genie! Ich weiß nicht, ob er allein arbeitet oder der Kopf einer Bande von Verbrechern ist. Ich weiß nichts über sein Leben. Ich kenne nicht sein Ziel. In keinem einzigen Fall ist es bisher möglich gewesen, den genauen Anteil zu ermitteln, welchen er hatte. Er scheint im Besitz der außergewöhnlichen Gabe zu sein, jemanden zu ermorden und keine Spuren zu hinterlassen. Sie sehen ihn nicht, Sie spüren seine Gegenwart, Sie hören ihn nicht, Sie erahnen ihn. Wenn Fantômas in die gegenwärtige Angelegenheit verwickelt ist, weiß ich nicht, ob wir jemals diese aufklären!«

Seiner Selbst willen war Monsieur de Presles von der Ernsthaftigkeit des Détectives beeindruckt.

»Ich nehme jedoch an, dass Sie mir nicht empfehlen, die Untersuchung fallen zu lassen, Juve?«

Gezwungenermaßen musste der Détective lachen, was aber nicht ganz glaubhaft klang.

»Kommen Sie, Monsieur«, antwortete er, »ich habe Ihnen eben erst gesagt, dass ich erschrocken war, aber ich habe niemals gesagt, dass ich ein Feigling war. Sie können ziemlich sicher sein, dass ich meine Aufgabe bis zum Schluss erfüllen werde. Als ich damit anfing, – und das war nicht gestern, auch nicht der Tag davor -, schwor ich, Monsieur, dass ich eines Tages seine Identität aufdecken und seine Verhaftung bewirken werde! Fantômas ist ein Feind der Gesellschaft, meinen Sie das? Ich ziehe es vor, ihn in erster Linie als meinen eigenen persönlichen Feind zu betrachten! Ich habe ihm den Krieg erklärt und bin bereit, wenn nötig meine Haut in diesem Krieg zu verlieren, aber bei Gott, ich werde seiner habhaft werden!«

Juve hörte auf. Auch Monsieur de Presles sagte kein Wort. Doch der Amtsrichter war trotz der befremdenden Äußerungen des Détective skeptisch und kam nicht umhin, einen leisen Protest und eine Bitte zu äußern.

»Fällen Sie bitte gegen jemanden ein Urteil, Monsieur Juve, denn ich möchte wirklich der Annahme sein, dass Ihr Fantômas ein Fantasiegebilde ist!«

Juve zuckte mit den Schultern, schien allem Anschein nach einen mächtigen Entschluss zu fassen und begann: »Sie haben vollkommen recht, Monsieur, von mir zu verlangen, dass ich einen endgültigen Schlussstrich ziehe, selbst wenn Sie von der Existenz eines Fantômas nicht überzeugt sind. So stelle ich die Behauptung auf: Der Mörder ist …«

***

Der Klang eiliger Schritte hinter ihnen veranlasste die Männer, sich umzudrehen. Ein Briefträger eilte schwitzend zum Schloss. Er hatte ein Telegramm in der Hand.

»Kennt einer der Herren Monsieur Juve?«, fragte er.

»Mein Name ist Juve«, sagte der Détective. Er nahm das Telegramm entgegen und öffnete den Umschlag. Er warf einen Blick darauf und reichte es danach dem Magistrat. Lesen Sie dies bitte, Monsieur!

Das Telegramm war vom Criminal Investigation Department und beinhaltete Folgendes: Sofort nach Paris zurück. Sind überzeugt, dass außergewöhnliches Verbrechen hinter dem Verschwinden Lord Beltham liegt. Streng vertraulich! Vermuten Fantômas Arbeit.