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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Geheimnis zweier Ozeane 02

Abenteuer unter Wasser

Der Kampf ging seinem Ende zu. Der Tintenfisch wurde immer schwächer. Er klammerte sich mit zwei Fangarmen an einen schmalen Felsvorsprung und versuchte mit den anderen acht Armen, den schlüpfrigen, schlangenähnlichen Körper seines Gegners zu umschlingen. Die gewöhnlich graue, grüngestreifte und gesprenkelte Schutzfärbung des Tintenfisches, die ihn im Tangdickicht des Meeresgrundes fast unsichtbar macht, änderte sich jetzt ständig und zeigte ein prächtiges, irisierendes Farbenspiel.

Der elastische Hautring um den Kopf des Seeungeheuers dehnte sich; wie ein großer schwarzbrauner Papageienschnabel ragten daraus die gefährlichen, messerscharfen Kiefer des Tintenfisches hervor. Zwei große runde Glotzaugen funkelten bald rötlich, bald bläulich, bald silbergrün. Wie immer bei seinen Jagden auf Fische versuchte der Tintenfisch, den Gegner mit seinen Fangarmen, die mit zahlreichen Saugnäpfchen bedeckt sind, zu fassen und in die Nähe der Kiefer zu bringen, um seinem Opfer den Kopf zu zermalmen. Aber dieser Gegner, eine große, zwei Meter lange Muräne, war gewandt und kräftig. Das gelb glänzende plumpe Vorderteil des Fisches fuhr in einem rasend schnellen Wirbel hin und her, sein mit zahlreichen scharfen Zähnen bewehrtes, einem Entenschnabel ähnliches Maul zerfleischte den Kopffüßer.

Der alte, erfahrene Tintenfisch, einer der größten seiner Art, war offenbar zum ersten Mal mit einem so schrecklichen Gegner zusammengeraten. Er hatte schon fast den ganzen Vorrat seines Tintenbeutels abgesondert und damit das Wasser dunkel gefärbt. Die rechte Flosse und zwei Fangarme trennte ihm die Muräne mit ihren scharfen Zähnen glatt vom Rumpf.

In dieser kritischen Situation versuchte der Tintenfisch, seine altbewährte Methode im Kampf mit langmäuligen Fischen anzuwenden. Er wirbelte seine sechs freien Fangarme wie Geißeln durch das Wasser, umklammerte mit vieren den Leib der Muräne und versuchte mit den beiden anderen, eine Schlinge um das Fischmaul zu legen. Aber ein Arm geriet dabei zwischen die Zähne der Muräne und hing sogleich kraftlos, sich wie ein Wurm windend, herunter. Mit dem anderen Fangarm jedoch gelang es dem Kopffüßer, die furchtbaren Kiefer des Feindes zusammenzudrücken. Wütend versuchte die Muräne, sich aus dieser Schlinge zu befreien. Ihr langer walzenförmiger Körper krümmte sich heftig, und die dunkle Schwanzflosse traf mit furchtbarer Kraft den Tintenfisch, der sich an den Felsen geschmiegt hatte. Drei solcher Schläge genügten, und der betäubte Kopffüßer lockerte die Schlinge um das Maul der Muräne. Noch ein paar Schläge, und das Fischmaul konnte sich wieder öffnen und zuschnappen; der durchbissene Fangarm sank zuckend auf den Meeresgrund.

Der Tintenfisch löste sich vom Felsen und versuchte, in eine Sepiawolke gehüllt, zu entfliehen. Aber das gelang ihm nicht. Wahrscheinlich hatte er schon zu wenig Sepia im Tintenbeutel, denn die Schutzwolke war nicht genügend dunkel.

Einige Augenblicke später, als das Wasser wieder klarer wurde, konnte man die Muräne bei ihrem grausigen Mahle sehen …

Durch das blaugrüne Halbdunkel der Meerestiefe kam ein riesiger Fisch herangeschossen. Sein breites hechtähnliches Maul starrte von hakenförmigen Zähnen, rechts und links ragten wie Hauer zwei lange Zähne hervor. Der Bauch des Fisches schimmerte silberweiß.

Die Muräne erkannte die Gefahr zu spät. Kaum hatte sie sich mit aufgesperrtem Rachen dem Neuankömmling zugewandt, als auch schon ihr kurzer, dicker Hals im Schlund des Angreifers fast verschwand. Eine Barracuda 1‚ der Schrecken der Antillengewässer, hatte blitzartig die Muräne gepackt.

Ihre Leiber wie zwei riesige Stahlspiralen krümmend und wieder hochschnellend, wühlten beide Fische, in Wolken von Sand und Schlamm gehüllt, in wütendem Kampfe den Meeresboden auf. Nach allen Seiten flohen schokoladenfarbene, warzige Seegurken, schwarze Seeigel, rund wie Brotlaibe und von Stacheln starrend, sowie gelbe, grüne und rote Seesterne, Schlangensterne mit langen, geißelartigen Armen, verschiedenfarbige, bis dreißig Zentimeter lange Schwämme, die wie riesenhafte Kellerasseln aussahen. Rückwärts flüchteten Krebse, eilfertig suchten Krabben das Weite, komisch anzuschauen, wie sie auf dünnen Stelzbeinen seitwärts trotteten, ihre dicken, kräftigen Scheren hoch erhoben. Wie ein farbiger Sprühregen stoben bunte Fischchen nach allen Seiten.

Die Barracuda hatte ihre mächtigen Kiefer fest um den Hals der Muräne geschlossen. Immer tiefer drangen ihre schrecklichen Zähne in das Fleisch ihres Opfers. Plötzlich warf sie ihren Kopf herum, riss aus dem dicken Hals der Muräne einen großen Fetzen Fleisch heraus und verschlang ihn. Eine Spur blutgefärbten Wassers hinter sich lassend, versuchte die Muräne zu fliehen. Aber blitzartig wurde sie von der Barracuda eingeholt und buchstäblich zerfetzt.

Pawlik folgte dem Zoologen über den steilen Hang eines unterseeischen Berges. Er sah noch immer die scharfen Zähne der Barracuda vor sich, ihr breites Maul, die starren, runden Augen, die voll kalter Wut waren. Furchtsam schaute sich der Junge nach allen Seiten um.

Seine weichen, sonst glatt gekämmten und gescheitelten Haare waren etwas zerzaust. In den großen grauen Augen spiegelte sich Entsetzen. Das fein geschnittene Gesicht war blass. Die überall vorbeihuschenden Schatten jagten ihm Furcht ein. Aus dem grünen Halbdunkel der Bergspalte, Grotten und Senken, aus dem Dickicht der wehenden Tange und der Seelilien – von überall schienen schreckliche und unerwartete Gefahren zu drohen. Nur mühsam schleppte er sich vorwärts, seine Schritte wirbelten am Meeresgrund silbrige Wölkchen weißen Korallenstaubes auf. Er trat auf Seegurken, die friedlich Schlamm fraßen, auf Seesterne, die langsam über den Meeresboden dahinkrochen, auf marmorweiße, sackförmige Manteltiere, die unter seinen schweren Sohlen zerplatzten, auf die Sandröhrchen der Röhrenwürmer, die ihre roten Kiemen wie Fadenbüschel nach oben streckten.

»Siehst du«, sagte der voranschreitende Zoologe, »das Leben der Muräne fand ein jähes Ende. Aus dem Rachen einer Barracuda gibt’s kein Entrinnen.«

»Und uns … hätte sie uns nicht auch gefährlich werden können, Arsen Dawidowitsch … wenn wir uns nicht in einem Felsspalt versteckt hätten?«, fragte Pawlik stockend.

Der Zoologe schmunzelte und hob seine Hand, um sich gewohnheitsgemäß über seinen prächtigen assyrischen Bart zu streichen, aber sie glitt nur über die metallene Brust des Taucheranzuges.

»Gegen unsere Taucheranzüge sind nicht nur die Zähne einer Barracuda, sondern auch die des Beherrschers der Meerestiefen, des Pottwals, machtlos«, antwortete er. »Und dich habe ich nicht in den Felsspalt gezogen, weil ich Angst hatte. Ich wollte nur den Kämpfenden nicht im Wege sein. Aber selbst Skworeschnja würde ich nicht raten, der Barracuda im Badeanzug zu begegnen.«

Der Zoologe blieb plötzlich stehen, kniete nieder und betrachtete etwas auf dem Meeresboden.

»Pawlik!«, rief er. »Ein wunderbares Schauspiel! Komm schnell her, Jungchen!«

Seine Stimme klang in dem winzigen Empfänger, der in Pawliks Taucherhelm verborgen war, vergnügt und erregt zugleich.

Der Wissenschaftler blickte angespannt auf einen bunten Fleck, der sich langsam über den Meeresgrund bewegte, und hob abwehrend die Hand.

»Vorsichtig, Pawlik! Verscheuche ihn nicht! Bücke dich und schau dir das mal an.«

»Ein Krebs, Arsen Dawidowitsch!«, rief Pawlik. »Aber warum hat er sich zur Hälfte in einer Muschel versteckt? Und was ist das für eine Blume, die er auf seinem Rücken trägt?«

Trotz der sechzig Meter Tiefe, in der sie sich befanden, sah Pawlik ausgezeichnet, was sich hier unten auf dem Meeresboden zutrug und was dieser seltsame Krebs trieb.

Der Tag über dem Ozean war anscheinend klar und wolkenlos. Es musste bald Mittag sein. Die tropische Sonne stand sicher schon hoch am Himmel; denn ihre Strahlen durchdrangen das klare, durchsichtige Wasser fast senkrecht und wurden deshalb von unten kaum reflektiert.

»Das ist eine lebende Blume«, sagte der Zoologe. »Eine Aktinie oder Seeanemone, ein kleines Tier. Sie ist ein Räuber, ein ausgesprochenes Raubtier der Tiefe. Unter ihr in der Muschel befindet sich tatsächlich ein Krebs, aber kein gewöhnlicher, sondern ein Einsiedlerkrebs. Schau mal, jetzt ist er ganz aus der Muschel herausgekrochen. Nur sein Bruststück, der Kopf und die Scheren sind durch einen Panzer geschützt. Der weiche Hinterleib hingegen ist völlig ungeschützt. Deshalb trachtet dieser Krebs auch immer danach, ein passendes Muschelgehäuse von irgendeiner Molluske 2 zu finden, um darin seinen langen, weichen Hinterleib zu verbergen. Er schleppt die Muschel wie ein kleines Häuschen immer mit sich herum, und bei der geringsten Gefahr verbirgt er sich ganz darin.«

»Sehen Sie nur«, rief Pawlik, »jetzt kriecht der Krebs aus seinem Häuschen heraus! Wie komisch er ist! Eine Schere ist riesig, die andere winzig.«.

Die beiden Taucher sahen sich an und lachten. In dem durchsichtigen Taucherhelm sah Pawlik den mächtigen glatt rasierten Kopf des Gelehrten, die große Nase, buschige schwarze Augenbrauen und einen blauschwarzen, glänzenden Bart, der sich im Kragenausschnitt des Taucheranzuges verlor. Vorn auf dem Helm strahlte wie eine Sonne eine kleine, aber sehr leistungsfähige Laterne. Der metallene Taucheranzug in der Farbe brünierten Stahls wölbte sich auf dem Rücken und an der Brust und machte so den Zoologen einem fantastischen Zwerg ähnlich. In diesen Buckeln befanden sich bei ihm und bei Pawlik kleine elektrische Akkumulatoren von großer Kapazität, Antriebsmechanismen und Sauerstoffgeräte. An einem elastischen Metallgürtel hingen ein Buschmesser, eine Reservelaterne, ein kleines langstieliges Beil, ein rundes Päckchen und etwas, das wie eine lange, flache Patronentasche aussah. Rechts am Gürtel hing ein rechteckiges Kästchen mit einem Griff und einem kurzen, pistolenähnlichen Lauf. Vom Griff des Kästchens führte zum Buckel auf dem Rücken eine Gummischnur. Am linken Arm waren in die metallene Manschette des Taucheranzuges, unter einer durchsichtigen Schutzhülle, drei für unterseeische Exkursionen sehr wichtige Geräte eingebaut: Uhr, Kompass und Lot.

Pawlik staunte besonders über die Elastizität dieses Metallanzuges, mit dem er heute seinen ersten größeren Ausflug machte. Er wusste kaum, was er zuerst betrachten und worüber er sich mehr begeistern sollte. Eine durchscheinende, wie ein Glasgebilde aussehende, rötlich-violette Qualle segelte langsam vorbei. Ihr g1ockenförmiger Gallertkörper war an seinem unteren Rande von zarten Fransen gesäumt. Wie eine Quaste aus verschiedenfarbigen Schnüren wehten seitlich lange Fühler. Die Qualle schwebte durchs Wasser, sie blähte abwechselnd ihren Glockenrand auf und zog ihn wieder zusammen.

Neben einem dieser zierlichen Lebewesen tauchte ein kleines silbriges Fischchen auf, und im Nu veränderte sich das Bild. Die Fühler einer Qualle blieben am Rücken des Fisches haften, der Fisch erstarrte wie gelähmt. Aus den an den Fühlern sitzenden zahlreichen Nesselkapseln waren lange feine Fäden hervorgeschnellt und in den Leib des Opfers eingedrungen; das ausströmende Gift betäubte die Beute sofort. Die Fühler der Qualle zogen sich zur Mundöffnung zusammen, und im nächsten Augenblick sah Pawlik in dem durchsichtigen Körper des Tieres die dunklen Umrisse des Fischchens. Es fand in seiner ganzen Größe darin keinen Platz, und so ragte sein Schwanz noch aus der Mundöffnung der Qualle heraus.

»Jungchen, schau mal, was der Einsiedlerkrebs macht!«

Pawlik drehte sich um. Der Krebs war ganz aus seiner wie ein Horn gewundenen Muschel herausgekrochen. Er bewegte sein nacktes, rosiges Körperende hin und her, kroch so an eine andere Muschel mit ähnlichem Gehäuse heran, steckte eine Schere hinein und zog ein paar Sandkörnchen heraus.

»Was macht er denn?«, fragte Pawlik erstaunt.

»Das wirst du gleich selber sehen. Ich beobachte das auch zum ersten Mal in der Natur.«

Der Einsiedlerkrebs untersuchte noch einmal das Innere der Muschel und war offenbar zufriedengestellt. Er kroch, den Hinterleib voran, in das Muschelgehäuse hinein und machte es sich darin eine Zeit lang bequem. Dann kam er wieder heraus und krabbelte zu seinem alten Häuschen zurück. Die prächtige Seeanemone stand stolz da, in raschem Wechsel blähte sie sich auf und zog sich wieder zusammen; dabei ließ sie ihre langen, in eine violettrote Spitze auslaufenden Fühler um ihren walzenförmigen, dunkelroten, schwarz gestreiften und gesprenkelten Körper wehen. Die Fühler bewegten sich wie bunte Schlangenleiber. Zwei kleine silbrige Fischchen wollten vorbeiflitzen, aber sie berührten die Fühler der Aktinie. Und schon waren sie von einem Fühlerknäuel umstrickt und blieben hilflos und unbeweglich darin hängen. Zusammen mit dem Knäuel verschwanden sie in der sich in der Mitte des Fühlerkranzes befindlichen weiten Mundöffnung. Noch ein Augenblick, und über dem Aktinienkörper blühte wieder eine prächtige zarte Blume.

Pawlik war von dieser ungewöhnlichen Jagd und von der Arglist, die durch soviel Schönheit getarnt war, derart beeindruckt, dass er immer wieder aufgeregt ausrief:

»Das ist ja toll! So ein schönes Ungeheuer! So schön und so böse!«

Der Zoologe versuchte mit seinen Achseln zu zucken.

»Weder böse noch gut, Jungchen. Die Seeanemone lebt und will ihr Leben erhalten. Auf Kohl und Kuchen hat sie niemand dressiert.«

Währenddessen war der Krebs an die Seeanemone herangekrochen, richtete sich auf und befühlte die Ränder ihrer runden Fußscheibe, mit der die Aktinie am Muschelgehäuse haftete. Dann begann er sie geschickt mithilfe seiner spitzen Füßchen von der Muschel zu lösen. Er strengte sich mächtig an, bis er die Seeanemone, die sich die Operation ihres Hausgenossen gern gefallen ließ, mit seinen Scheren hochheben konnte. Langsam kroch der Krebs, seine Schöne vorsichtig balancierend, zu seiner neuen Behausung zurück. Bei der Muschel angelangt, setzte er die Seeanemone darauf, drückte ihre Fußscheibe kräftig auf die gewölbte Oberfläche und hielt sie lange mit seinen Scheren fest. Pawlik beobachtete gespannt diesen Umzug in die neue Wohnung. Einige Minuten später, als der Krebs seine Scheren zurückzog, stand die prächtige Seeanemone in ihrer alten Schönheit fest auf der neuen Muschel und entfaltete ihre biegsamen, zarten Fühler im bunten Farbenspiel.

Es wurde immer heller. Die im Zenit stehende Sonne sandte ihre Strahlen senkrecht in die Tiefen des klaren Sargassomeeres. Das unterseeische Gelände stieg steil an.

»Was hat das zu bedeuten, Arsen Dawidowitsch?«, fragte Pawlik den Zoologen, als sie ihren Weg über den Hang unterseeischen Berges fortsetzten. »Wozu braucht der Krebs eine Seeanemone? Liebt er denn Blumen so sehr?«

Der Zoologe fasste den Jungen unter.

»Das hat nichts damit zu tun, Pawlik. Was du gesehen hast, ist ein Beispiel der Symbiose. Die Symbiose ist ein enges, dauerndes Zusammenleben zweier Lebewesen verschiedener Arten zu gegenseitigem Nutzen wie etwa zur Verteidigung und zur Erlangung von Beute. Es ist also eine Lebensgemeinschaft im Kampf ums Dasein. Einer hilft dem anderen durch seine Fähigkeiten, die nur er allein besitzt.«

»Wieso hilft der Krebs der Seeanemone? Sie kann sich doch selbst ihre Nahrung erbeuten.«

»Das stimmt schon. Aber die Seeanemone kann sich fast gar nicht selbstständig fortbewegen. Und um genügende Nahrung zu erlangen, muss man sich bewegen und seine Nahrung suchen. Es ist unvorteilhaft, immer am gleichen Ort zu sein und zu warten, bis die Beute von selbst erscheint. Auf dem Rücken des Krebses jedoch, der ständig hin und her kriecht, fällt der Seeanemone reichliche Nahrung zu.«

»Sie reitet also auf dem Krebs! Schlau hat sie das angestellt.«

»Gar nicht so schlau, wie es dir scheint, Kleiner. Du hast es doch gesehen: Nicht sie klammerte sich an den Krebs, sondern er hat sie fast mit Gewalt auf sein neues Häuschen verpflanzt. Der Handelnde war in diesem Falle der Krebs. Er sucht sich eine Seeanemone, manchmal auch zwei. Dabei kämpft er oft mit anderen Krebsen, um sich eine Freundin zu verschaffen.«

»Welchen Nutzen hat denn nun der Krebs von ihr?«

»Erstens verbirgt sie ihn vor seinen nicht wenigen Feinden. Hat er auf seiner Muschel zwei oder sogar drei Mitbewohner angesiedelt, so sieht man ihn kaum; er ist dann fast in Sicherheit. Außerdem, wenn irgendein kleiner Fisch, der Krebsen nachstellt, ihn auch unter der Seeanemone bemerkte und ihn erbeuten möchte, so würde das dem Fisch schlecht bekommen. Er würde sofort mit den Nesselfäden der Seeanemone recht unliebsam Bekanntschaft machen. Diese Fäden, die aus dem Körper und aus den Fühlern der Seeanemone hervorschnellen, können ein kleines Tier lähmen und sogar einem großen Lebewesen erheblich zusetzen. Zweitens ist die Beute einer Aktinie, die auf einem Krebs reitet, meistens so reichhaltig, dass auch für den Krebs ein paar Brocken vom Tisch seiner Freundin abfallen. Und wenn der Krebs selbst irgendeine Beute findet, sei es ein toter Fisch oder der Kadaver eines anderen Tieres, dann bewirtet er oft auch seine schöne Reiterin.«

»Das ist ja fabelhaft, Arsen Dawidowitsch! Richtige Kameraden! Unter all den Tieren ist immer nur Krieg und Kampf, nur der Krebs hält mit der Seeanemone Freundschaft.«

»So ist es nun auch wieder nicht, Pawlik. Die Symbiose ist keine allzu seltene Erscheinung im Tier- und Pflanzenreich. Ich könnte dir eine Menge Beispiele anführen, darunter ganz wunderbare …«

Plötzlich blieb der Zoologe stehen, ließ Pawliks Hand los und hob etwas vom Meeresgrund auf. Pawlik sah, wie der Gelehrte eine große, schwarze, seltsam gewundene Muschel betrachtete, zwischen deren Schalenklappen er einen metallenen Finger geklemmt hatte.

»Wie schwer sie ist …«, murmelte der Zoologe. »Fast wie ein Stück Eisen … Seltsam … recht seltsam …«

»Was ist das, Arsen Dawidowitsch?«

»Pawlik!«, rief der Zoologe plötzlich aus. Er hatte die Muschelklappen mit Mühe geöffnet und betrachtete aufmerksam den zwischen ihnen eingeschlossenen gallertartigen Körper. »Pawlik, das ist eine neue Art aus der Klasse der Blätterkiemer, der Wissenschaft bisher völlig unbekannt. Nein, Pawlik!« Der Gelehrte war außer sich vor Begeisterung. »Was sage ich! Keine neue Art, nein! Pawlik, mein Teurer! Das ist eine neue Klasse! Jawohl, eine neue Klasse! Dieser Blätterkiemer besitzt einen Kopf! Begreifst du das? Das ist schon keine Lamellibranchiata mehr. Jetzt gibt es ein ganz neues Tier: Lamellibranchiata cephala Lordkipanidse!«

Der Zoologe hatte hier, auf dem Grund des Sargassomeeres, schon manche Entdeckung gemacht, die auch einen weniger begeisterten Wissenschaftler aus dem Häuschen gebracht hätte. Aber bis jetzt konnte er sich noch nicht an die Überraschungen gewöhnen, die der Ozean in so reicher Fülle bot. Als er der neuen Klasse der Weichtiere seinen Namen gegeben hatte, betrachtete er voller Staunen den Meeresgrund.

»Unbegreiflich! Vollkommen unbegreiflich …«, murmelte er. »Wo sind sie nur geblieben?«

Pawlik begriff nichts; er stapfte mit dem Zoologen durch die unzähligen Muscheln, Stachelhäuter und Manteltiere, die den Meeresgrund bedeckten, und blickte ratlos auf seinen gelehrten Freund. Schließlich fragte er:

»Was suchen Sie denn, Arsen Dawidowitsch? Bald werden wir hier alle Muscheln zertreten haben.«

»Was!« der Zoologe richtete seinen Körper auf. »Hast du noch nichts gemerkt? Ich finde doch hier kein einziges Exemplar dieser wunderbaren Weichtiere mehr. Was soll ich mit dem einzigen, das ich in meiner Hand halte, nur anfangen? Wer wird mir schon glauben, dass es der. Vertreter einer neuen Klasse ist? Zudem scheint mir nur wenig Leben in ihm zu sein. Ich sehe schon voraus, dass man meinen Fund als eine zufällige Entartung ansehen wird. Was soll ich nur tun? Weitersuchen können wir nicht, wir verspäten uns sonst …«

Der Zoologe setzte sich auf einen Felsvorsprung und schaute ratlos auf seine kostbare Muschel. Pawlik war auch sehr traurig, nicht so sehr wegen des wissenschaftlichen Misserfolges, sondern weil ihm der Gelehrte, den er gern mochte, leidtat.

»Wissen Sie was, Arsen Dawidowitsch?«, rief er plötzlich. »Wir wollen uns diese Stelle merken und kehren später mit Skworeschnja, Marat und Zoi hierher zurück und werden dann alles gründlich absuchen. Nicht wahr?«

»Ausgezeichnet!«, sagte der Zoologe befriedigt. »Du hast recht. Wir wollen ein andermal suchen. Und jetzt an die Arbeit. Wir wollen diese Stelle markieren. Die Muschel stecke in deinen Beutel, meiner ist schon bis zum Rande voll. Wenn wir aufs Schiff zurückgekehrt sind, geben wir sie Zoi zur Untersuchung und Beschreibung.«

Sie schichteten einen großen Haufen Steine auf, prägten sich die umliegenden Felsen ein und machten sich auf den Weg.

Einige Minuten gingen beide schweigend nebeneinander. Schließlich fragte Pawlik:

»Arsen Dawidowitsch, meinten Sie das mit dem Pottwal vorhin im Ernst? Wäre er wirklich nicht imstande, unsere Taucheranzüge mit seinen Zähnen zu zerfetzen? Haben Sie nicht gescherzt?«

»Keineswegs, Pawlik. Wir können ja mit unseren Taucheranzügen in größte Tiefen tauchen; tausend, fünftausend, ja sogar zehntausend Meter. Und das ist noch etwas ganz anderes als die Zähne eines Pottwals.«

»Sie scherzen, Arsen Dawidowitsch.« Pawlik blickte ungläubig auf den Zoologen. »Dort ist doch nur Wasser … weiches Wasser! Aber ein Pottwal! Wenn der zuschnappt! Sie sagten es mir doch selber, dass er solche Zähne hat.« Pawlik breitete seine Arme aus. »Ein solcher Rachen knackt einen Taucheranzug wie eine Nuss …«

Der Zoologe blickte Pawlik von der Seite an und schmunzelte.

»Du brauchst deine Arme nicht so weit auszubreiten, Kleiner, ein Viertelmeter reicht schon. Aber auch das ist schon gefährlich. Und das Wasser … stimmt schon, es ist weich … Aber weißt du, Jungchen, wie viel ein Kubikmeter Wasser wiegt?«

»Das weiß ich«, sagte Pawlik, »eine Tonne.«

»Siehst du! Eine zehn Meter hohe Wassersäule auf einer Unterlage von einem Quadratmeter wiegt also zehn Tonnen, oder, wie man sagt, der Druck einer derartigen Säule beträgt zehn Tonnen. Somit ist die durch eine solche Säule hervorgerufene Belastung eines Quadratzentimeters Fläche gleich einem Kilogramm. Dieser Druck entspricht dem Druck der atmosphärischen Luft auf einen Quadratmeter.«

»Das weiß ich, Arsen Dawidowitsch. Es ist ein ungeheurer Druck. Aber wir spüren ihn nicht, weil die Luft in unserem Körper den gleichen Gegendruck ausübt.«

»Gut. Dann wirst du leicht begreifen, dass der Druck des Wassers größer wird, je tiefer wir tauchen. In hundert Meter Tiefe wird der Druck dieses, wie du sagtest, weichen Wassers gleich hundert Tonnen auf jeden Quadratzentimeter Fläche oder gleich zehn Atmosphären sein. Die Oberfläche des menschlichen Körpers beträgt im Durchschnitt zwanzigtausend Quadratzentimeter, und so erreicht der Wasserdruck auf den ganzen Körper des Menschen in dieser Tiefe etwa zweihundert Tonnen; in fünftausend Meter Tiefe steigt er auf zehntausend Tonnen. Ist dir das klar? Das ist ein so gewaltiger Druck, dass unter ihm nicht nur ein Mensch, sondern auch ein hohler Stahlzylinder platt gequetscht wird. Aber in unserem Taucheranzug würde der Mensch dennoch heil und gesund bleiben.«

»Der Anzug ist also nicht aus Stahl?«, fragte Pawlik.

»Wenn er aus Stahl wäre, dann müsste man ihn aus so dicken Platten machen, dass ein Mensch in diesem schweren Taucheranzug sogar in einer Tiefe von nur fünfhundert Metern nicht einen Schritt gehen könnte. Die in solchen gepanzerten Taucheranzügen in Tiefen bis zu achthundert Metern arbeitenden Taucher bewegt man auf dem Meeresgrunde nur mithilfe von Hebewinden und Ketten. Angenehm ist das Arbeiten darin nicht! Die Ärmel und Hosen sind dick, man kann weder Beine noch Arme in den Gelenken biegen. Aus den Armstümpfen ragen eine Zange, eine Brechstange und ein Beil hervor. Diese Werkzeuge werden von innen mit der Hand des Tauchers betätigt. Kann man da viel schaffen?«

Pawlik bückte sich leicht, berührte die metallenen Gamaschen am Bein und sagte begeistert: »Unsere Taucheranzüge sind dagegen einfach prima, so leicht und bequem! Aber aus was sind sie denn gemacht, wenn nicht aus Stahl?«

»Aus einer unglaublich leichten überharten Legierung, die vor Kurzem von unseren Metallurgen erfunden wurde. Ungeachtet dessen, dass unsere Taucheranzüge aus sehr dünnen Platten dieser Legierung gemacht sind, können sie den kolossalen Druck aushalten, der in Tiefen bis zu zehntausend Metern herrscht. Hinzu kommt, dass der Anzug beweglich ist. Außerdem haben unsere tüchtigen Metallurgen ein Verfahren entwickelt, kleine Platten dieser Legierung elastisch zu machen. Mit solchen Platten ist der Taucheranzug an allen Gelenkstellen des Körpers versehen.«

»Und nicht nur das, Arsen Dawidowitsch!«, rief Pawlik. »Wie schnell wir uns im Wasser bewegen können! Wie richtige Fische, ja fast noch schneller, wie Vögel! Außerdem haben wir Telefon, Beleuchtung und Waffen in den Anzügen! Sogar heißen Kakao kann man zu sich nehmen!« Pawlik lachte beglückt. »Will man etwas essen … bitte sehr! Fleischbrühe, Schokolade sind vorhanden … Aber auch Trinkwasser.«

»Mit einem Wort, jeder ist ein wandelndes Büfett«, sagte lächelnd der Zoologe.

»Wie gut das alles eingerichtet ist.«

»Ja, Pawlik. Erinnerst du dich, was Skworeschnja dir über unsere Taucheranzüge erzählte? Im Rückentornister befinden sich einige kleine Akkumulatoren mit einem großen Vorrat Strom. Ebenfalls im Tornister sind eingebaut: ein Behälter mit Sauerstoff, ausreichend für achtundvierzig Stunden, ein Gerät zur Resorption von Kohlensäure, Feuchtigkeit und anderen schädlichen Stoffen und ein winziger, aber leistungsfähiger Motor für die Schraube, die uns die Bewegung im Wasser ermöglicht. Im Behälter, der auf der Brust befestigt ist, liegen Thermosflaschen mit heißer Bouillon oder Kakao und Trinkwasser. Von den Thermosflaschen führen dünne Gummischläuche mit festen Mundstücken zum Mund. Eine kleine Funkanlage, mit der man auf eine Entfernung bis zu zweihundert Kilometern gleichzeitig mit einigen anderen Funkstationen sprechen und von ihnen Nachrichten empfangen kann, befindet sich ebenfalls im Brustbehälter. Auf dem Helm, in Höhe der Stirn, leuchtet eine starke elektrische Lampe, deren Licht das Wasser bis zu fünfundsiebzig Metern durchdringt. Und alle diese Geräte und Mechanismen regierst du mit Hilfe von verschiedenen Knöpfen, Hebelchen und Steuerrädchen auf dem Steuergerät in deiner Tasche am Gürtel … Aber das alles kennst du ja; sonst könntest du ja jetzt nicht mit mir auf dem Meeresboden spazieren gehen.«

»Aber natürlich! Das weiß ich schon. Ich würde aber gern noch mehr hören. Zum Beispiel, wie speichert sich in den Akkumulatoren so viel Strom? Wie funktionieren unsere elektrischen Kampfhandschuhe? Womit schießen unsere Ultraschallpistolen?«

»Aha! Das willst du also wissen, Jungchen! Das sind schon kompliziertere Dinge«, antwortete der Zoologe. »Aber leider können wir darüber erst später sprechen; denn wir haben schon die Korallenriffe erreicht. Bald sind wir bei Skworeschnja.«

Vor ihnen, in einiger Entfernung, zeichneten sich im grünlichen Wasser, wie ein Waldrand, die undeutlichen Konturen kleiner Büsche und niedriger Bäume ab. Sie hatten kein Laub, ihre Stämme und Äste machten einen bizarren Eindruck; einige waren gekrümmt und knorrig, andere wieder dünn und gerade wie Weidengerten, und oft glichen sie wunderlichen Kakteen.

»Übrigens«, bemerkte der Zoologe, »ist es möglich, dass Skworeschnja seine Arbeit schon beendet und seinen Standort gewechselt hat. Wir werden es ja gleich erfahren.«

Er drückte auf eine kaum merkliche Erhöhung der Seitentasche. Die vordere Seite der Tasche klappte nach unten auf und gab eine Reihe von Knöpfen mit gewölbter Zahlenbeschriftung sowie einige Hebelchen frei, die unterhalb einer Skaleneinteilung angeordnet waren.

Während er weiterging, schob der Zoologe einen Knopf et was nach unten, ließ ihn einschnappen und drückte darauf. Dann blieb er stehen und horchte. Sein Gesicht verriet Ratlosigkeit und Unruhe.

»Verbinde du dich auch mit Skworeschnja«, wandte er sich an Pawlik. »Drücke auf den Knopf Nr. 12. Ich begreife es nicht … Was geht denn dort vor sich?«

Pawlik öffnete eilfertig seine Tasche und drückte auf den bezeichneten Knopf. Unter seinem Helm vernahm Pawlik das Geräusch pfeifenden Atems, das von einer Flut heiserer Flüche und Schreie, von einem unmöglichen Gemisch ukrainischer und russischer Worte unterbrochen wurde:

»Lass los! Loslassen, du Teufelsvieh! – Mich kriegst du nicht vom Fleck … nein, Brüderchen … mich nicht!« Dann ein gehender Schrei: »Halt! Wohin willst du, du Biest?«

Der Zoologe verlor die Nerven.

»Skworeschnja! Was ist los?«, rief er laut und aufgeregt. »Mit wem prügelst du dich?«

»Lord!«, hörten der Zoologe und Pawlik eine sich überschlagende Stimme »Schnell zu mir! Sonst zerreißt mir dieses Luder, noch den Schlauch. Beeilt euch! – Da hast du eins und noch eins … ist das ein zähes Vieh …!«

»Wir rennen!«, schrie der Zoologe. »Halte aus!«

Er lief voraus, auf das Korallendickicht zu.

»Los, Pawlik! Bleib nicht zurück! Brauchst die Schraube nicht erst anzuwerfen, wir sind gleich da!«

Es war aber nicht so leicht, schnell vorwärtszukommen. Das Wasser leistete großen Widerstand. Dennoch drangen beide schon eine Minute später in das Dickicht ein. Trotz seiner Besorgnis und obwohl er sogar etwas Angst hatte, blieb Pawlik entzückt stehen: Das, was von Weitem im grünlichen Halbdunkel wie Gestrüpp ausgesehen hatte, verwandelte sich in der Nähe plötzlich in einen üppigen Märchengarten. Die unbelaubten Äste und Zweige waren über und über mit Blumen in den zauberhaftesten Farben bedeckt: vom Zartrose bis zum Purpurrot, vom durchscheinenden zarten Hellblau bis zum Tiefblau und vom goldflimmernden Orange bis zum Smaragdgrün. Das waren Korallen, kleine, dünne, schwankende Äste, die sich an den Felswänden festklammerten.

Der Garten war voller Leben; er barg in seinen Spalten, Gängen, Grotten, in seinen großen und sogar in den kleinsten Höhlen sowie zwischen dem Flechtwerk der Stämme und Zweige eine reiche Tierwelt. Ganze Schwärme metallisch glänzender Fische, von den winzigsten Sardinen bis zu den großen, farbenprächtigen Papageifischen, belebten das Korallendickicht. Schöne, durchsichtige kleine Krebse krochen über die Zweige. Zahllose rote, gelbe und orangefarbene Seesterne bewegten sich langsam auf den Felsen am Meeresgrund und auf dem Geäst der Korallen.

Bunt gezeichnete Ophiuren, die nächsten Verwandten der Seesterne, suchten mit ihren außerordentlich beweglichen Armen im Korallenmoos nach Beute. Schwarze, blau gesprenkelte Seeigel krochen überall in ganzen Herden umher. Myriaden winziger Krebse, Würmer, Seespinnen, Schnecken belebten in buntem Durcheinander alle Ritzen, Spalten und Vertiefungen des Meeresbodens, krochen, hüpften oder stelzten im Ästegewirr des Korallenwaldes umher.

Unbeweglich schaute Pawlik auf dieses märchenhafte Schauspiel der Natur, auf diesen von funkelndem Leben erfüllten Blumengarten. Erschreckt durch sein plötzliches Erscheinen, erstarrte jedoch in seiner Nähe alles oder verschwand blitzschnell. Die Korallenblumen schlossen sich, die winzigen Lebewesen verbargen sich im Dickicht. Dieser Wechsel war verblüffend: Eine farblose tote Wüste umgab den erstaunten Jungen.

Er hob den Kopf und erblickte über sich, am Hang eines steilen Felsens, einen Schwarm großer Fische. Es waren Papageifische, sogenannte Scarien. Die Schönheit und die Harmonie der Farben auf ihrem Schuppenkleid waren nicht zu beschreiben. Etwas höher am Felsen bemerkte Pawlik drei große Papageifische, die von einem kleinen Schwarm winziger blaugestreifter Lippfische umgeben waren. Er begriff zuerst nicht, was die Lippfische neben den friedlich im Wasser hängenden großen Scarien trieben. Es schien ihm zunächst, als griffen die Lippfische die Scarien an, aber als er aufmerksamer hinschaute, musste er laut lachen.

»Ein Friseurladen! Ein Friseurladen für Fische!« rief er begeistert aus.

Die rundlichen Köpfe der Seepapageien, ihre Backen und großschuppigen Kiemendeckel waren mit einer Schicht weißen Korallenstaubes bedeckt. Es sah so aus, als ließen sich wohlbeleibte, reich gekleidete Herren ihre feisten, dick eingeseiften Wangen von flinken Friseuren rasieren. Die Lippfische schabten vorsichtig den Korallenstaub von den Backen ihrer reichen Verwandten, der Seepapageien, und verspeisten ihn anscheinend mit großem Genuss.

In Pawliks Lachen, in die russisch-ukrainische Schimpfkanonade des wütenden Skworeschnja mischte sich die Stimme des Zoologen: »Warum lachst du so, Jungchen?«

Und als Pawlik nicht antwortete, rief er voller Besorgnis: »Pawlik! Wo steckst du?«

Pawlik schaute sich um. Er war allein. Durch seine unbewegliche Haltung beruhigt, war das Leben um ihn wieder erwacht. Wie lange hatte er schon so verzaubert und bewegungslos in diesem prächtigen Garten gestanden? Eine Minute oder eine Stunde? Wo war Arsen Dawidowitsch? Wie sollte er ihn jetzt in diesem Dickicht wiederfinden? Wie kam er allein aus diesem Dschungel heraus?

»Arsen Dawidowitsch!«, rief er mit zitternder Stimme in die grenzenlose grüne Weite. »Arsen Dawidowitsch!«

»Sprich, Pawlik!« hörte er die Antwort. »Sprich nur, ich höre zu. Wo bist du? Schalte Skworeschnja ab, es stört.«

»Ich bin im Korallenwald, ich war zurückgeblieben, Arsen Dawidowitsch, nur eine Minute lang. Wohin soll ich jetzt geben?« Er schluchzte plötzlich laut auf.

»Hab keine Angst, Kleiner! Bleib ruhig dort stehen, wo du jetzt bist! Ich bin in der Nähe. Es können nicht mehr als fünf Minuten verflossen sein, seit wir uns getrennt haben. Schau dich um, Pawlik. Ich bin direkt durchs Korallendickicht gegangen. Vielleicht siehst du meine Spuren: abgeknickte Zweige von Bäumchen und Büschen … Schau dich aufmerksam um!«

»Ich … ich kann nichts bemerken, Arsen Dawidowitsch«, sagte Pawlik, sich hilflos umschauend, »sie sehen alle gleich aus … die Büsche und Zweige … alle sehen wie abgeknickt aus … ich kann nichts sehen … Arsen … Arsen Dawidowitsch …«

Die letzten Worte sprach Pawlik fast flüsternd. Seine Lage erschien ihm hoffnungslos.

»Nun, das ist nicht so schlimm, Kleiner! Hab keine Angst! Rühr dich nur nicht vom Platze! Ich laufe zuerst zu Skworeschnja, um ihm zu helfen, und eile dann sofort zu dir. In einer Viertelstunde bin ich zurück.«

»Gut, Arsen Dawidowitsch.«

»Beweg dich nicht, dir wird nichts passieren! Zieh dir aber auf alle Fälle deine Handschuhe an.«

Bei diesen Worten krampfte sich Pawliks Herz zusammen. »Gut, Arsen Dawidowitsch … ich ziehe sie an.«

»Vergiss nicht, wie man damit umgeht. Bei Gefahr also den Strom einschalten, den Gegner mit beiden Händen umfassen und die Handflächen fest an seinen Körper pressen. Ich bin schon auf dem Wege zu Skworeschnja und spreche mit dir im Laufen, damit du dich nicht ängstigst. Wenn du etwas Verdächtiges erblickst, sage es mir!«

Während der Zoologe ihm so Mut zusprach, nahm der Junge ein Päckchen vom Gürtel und öffnete es mit zitternden Händen. ‘Zwei seltsame weiße Gummihandschuhe kamen zum Vorschein. Sie hatten nur drei Finger; je einer war für den Daumen und den Zeigefinger bestimmt, der dritte für die übrigen Finger. Auf der gewölbten Handfläche befand sich ein dickes Metallplättchen. Die Stulpen reichten weit bis über die Handgelenke. Pawlik knöpfte sie am Ärmel des Taucheranzuges fest.

»Den Gegner mit beiden Händen umfassen … die Handflächen an seinen Körper pressen«, wiederholte er.

Er schaute sich um. Feinde? Wer mochten sie sein? Wohl schreckliche Ungeheuer … eine Barracuda … ein Hai. Einen Hai umfassen …?

Er hörte kaum dem Zoologen zu und beobachtete mit stockendem Herzschlag jeden Schatten, der im grünlichen Halbdunkel auftauchte.

Verschiedenfarbige, zart pulsierende Medusen schwammen einzeln oder in ganzen Zügen vorbei. In riesigen Schwärmen segelten mit breiten Flossen kleine Ruderschnecken durchs Wasser; sie trugen hauchdünne, fast durchscheinende Gehäuse. Flinke Barnelen machten Jagd auf Schnecken.

In der Ferne tanzte ein blaues Fünkchen hin und her, schnellte hoch, fiel abwärts und mischte sich unter andere rote, blaue, grüne Funken. Plötzlich waren es Hunderte, Tausende dieser vielfarbigen, nach allen Seiten sprühenden Funken. Jetzt war Pawliks ganze Umgebung von Millionen und Milliarden blitzender, aufleuchtender Pünktchen durchfurcht. Dieser tolle Wirbel winziger purpurner, smaragdgrüner, saphirblauer und goldfarbener Funken war der Tanz winziger Leuchtkrebse.

Pawlik war so im Banne dieses wunderbaren Schauspiels, dass er nur gelegentlich auf die Fragen des Zoologen antwortete.

Plötzlich schnellte aus dem Sand zu Pawliks Füßen ein riesiger viereckiger Körper empor, der samtschwarz und flach wie eine Bratpfanne war. In einer Ecke des Quadrats gähnte ein großer Rachen, darüber funkelten auf einem Wulst zwei starre Augen. Zwei andere Ecken bewegten sich wie Flügel, wellenförmig und schnell. Von der vierten Ecke hing ein dünner, peitschenähnlicher Schwanz herab, der mit einem langen scharfen Stachel bewehrt war. Dieses merkwürdig geformte Ungetüm war ein Rochen. Er schnappte beim Hochschnellen einen Fisch, verschlang ihn und fiel wieder auf den Meeresboden zurück. Blitzschnell wirbelte er dort eine Sandwolke auf und verschwand ebenso schnell, wie er aufgetaucht war.

Aber Pawlik sah das nicht mehr: Etwas Riesiges, Spindelförmiges, vorn Zugespitztes schnellte aus dem benachbarten hohen Busch hervor und schoss mit riesiger Geschwindigkeit auf Pawlik zu. Er fühlte einen furchtbaren Schlag gegen die Brust; unter seiner erhobenen Hand sah er einen zähnegespickten Rachen und riesige starre Augen. Umfassen …, schoss es ihm durch den Kopf.

Seine Hände umschlossen etwas, das sich wie ein dicker, schlüpfriger Balken anfühlte. Dann verspürte Pawlik einen noch furchtbareren Schlag, und alles versank in einem undurchdringlichen Dunkel …

Fortsetzung folgt …

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  1. Gehört zu den Pfeilhechten; sie wird bis 4 Meter lang und ist noch mehr gefürchtet als der Menschenhai.
  2. (lat.) Weichtier