Der Mann mit dem gelben Koffer
Eines schönen Tages erschien ein unscheinbarer Mann, gekleidet in einen höchst langweiligen Anzug in der Stadt. Außer einem großen gelben Koffer trug er nichts bei sich. Zu groß für eine Aktentasche, zu klein als Reisegepäck. Sein schütteres Haar umgab den blanken Schädel gleich einem Kranz aus staubigem Stroh. Auf der Nase des Mannes saß eine dicke, schwarze Hornbrille, die längst schon aus der Mode gekommen war. Der Mund war so schmallippig, dass es ständig aussah, als würde er sich gewaltig anstrengen, ganz gleich, was er gerade tat.
Der Mann zog in einen der schönen, neuen Wohnblocks. Teuer waren die Wohnungen in diesen Gebäuden. Viel zu teuer für arme Menschen, aber der fremde Mann verfügte scheinbar über genügend Geld. Sie wurden üblicherweise von Menschen bewohnt, die etwas zu sagen hatten – meist unnützes Zeug und dreiste Lügen, aber sie hatten die Nase vorn.
Niemand wusste, wer dieser Mann eigentlich war, woher er kam, was und wo er arbeitete. Jeder Anwohner begegnete ihm mit etwas Misstrauen, denn wenn man über einen Menschen nichts wusste, hatte dieser Mensch auf jeden Fall etwas zu verbergen. Nicht zu vergessen, dass sich der Mann mit dem gelben Koffer freundlich gegenüber jedem verhielt. Verdächtig zuvorkommend.
Kein Zweifel, da musste etwas im Argen liegen.
Und dann dieser Koffer, mit dem er tagein, tagaus durch die Gegend wanderte. Man sah ihn niemals ohne. Einem Schwätzchen wich er oftmals gekonnt höflich aus. Die neuesten Geschichten aus der Nachbarschaft interessierten ihn nicht.
Solche Leute hatten doch Dreck am Stecken. Ganz bestimmt. Man musste nur lange genug danach suchen, dann fand man die Flecken auf der weißen Weste auch.
So entschloss sich nach einigen Wochen des Abwartens und Beobachtens ein Hausmeister dazu, der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Ihm war der Mann mit dem gelben Koffer von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Seitdem dieser eigenartige Kerl in die leere Wohnung nebenan gezogen war, fiel es Gunnar schwer nachts einschlafen zu können. Nicht, dass es zu laut gewesen wäre. Ganz im Gegenteil.
Kein Laut drang aus der Nachbarwohnung. Nie. Alles war still, wenn sich der Mann mit dem gelben Koffer zuhause aufhielt. Eine unheimliche Friedhofsstille. Gerade das machte ihn verdächtig. Leisetreter waren die Schlimmsten von allen. Die Schlimmsten.
Als Hausmeister oblag es Gunnar, für Ordnung zu sorgen. Das war er seinen Vorgesetzten und den Mietern schuldig. Allein hier wohnen zu dürfen zählte schon zu den wenigen Glücksgriffen in seinem Leben. Da war es ja wohl Ehrensache, zwielichtige Bewohner ganz genau unter die Lupe zu nehmen. Sein Block war sauber und anständig. Verkappte Perverse hatten da nichts zu suchen.
»Der Typ ist mir so was von unheimlich«, sagte Gunnar eines Morgens beim Frühstück zu Sandra, seiner Lebensgefährtin. Zuerst wusste die junge Frau nicht so recht, was sie mit dieser Bemerkung anfangen sollte. Entsprechend dämlich schaute sie auch drein.
»Sandra, Mensch! Merkst du das denn nicht? Der Kerl hat was zu verbergen.«
»Wer?«, fragte sie, ein Brötchen mit Erdbeermarmelade kauend.
Nichts klingelte unter der gelockten, Wasserstoff gebleichten Mähne. Bevor sie sich aber gänzlich der Unwissenheit ergab und ihren Freund dazu ermunterte, sie aufzuziehen, fügte Sandra mit unverfänglichen Worten rasch hinzu: »Kann schon sein.«
Gunnar gab sich damit zufrieden. Ihm gingen ganz andere Gedanken durch den Kopf. Er nippte bedächtig an seinem Kaffee und schaute aus dem Fenster. Gerade rechtzeitig, wie er feststellte, denn der neue Mieter verließ just in diesem Augenblick das Gebäude und ging den asphaltierten, säuberlich gefegten und von jedwedem Unkraut befreiten Weg zur Straße entlang. In seiner Rechten trug er den gelben Koffer. Fast nie sah man den Kerl ohne dieses Ding.
Was er wohl darin versteckte?
Hektisch tippte der Hausmeister gegen die Fensterscheibe: »Da, schau doch, da ist er wieder. Schau dir nur diesen steifen Gang an. Immer einen Fuß vor den anderen. Einen vor den anderen. Und dann dieser Blick. Starr geradeaus als gäbe es links und rechts nichts zu sehen. Komm schon, Sandra, das ist doch richtig bedrohlich.«
»Ach«, entgegnete die vor sich hinkauende Blondine, »den meinst du. Der ist doch harmlos.«
»Harmlos? Der soll harmlos sein? So wie der sich aufführt? War ja klar, dass du wieder mal keine Ahnung hast.«
»Wieso Ahnung? Das ist wirklich ein ganz netter Kerl. Hat sich gestern mit der alten Frau Demmer aus dem Dritten unterhalten. Weißt doch, die Alte, um die sich keiner kümmert. Hat ihr sogar dabei geholfen, die Einkäufe hochzutragen.«
Mit weit geöffnetem Mund schaute Gunnar seine Freundin an. In seinen Augen stand blankes Entsetzen geschrieben.
»Er … er …«, keuchte der Hausmeister. »Er hat es gewagt und die alte Demmer belästigt?«
Das letzte Wort schrie er fast um so die Abscheulichkeit, das Grauen der begangenen Tat selbst noch einmal deutlich hören zu können.
Sandra glotzte ihn an und schüttelte ihren Kopf: »Nicht belästigt. Geholfen hat er der alten Frau. Geholfen.«
»Sag mal, ist in deinem Vogelhirn noch ein Rest von Verstand? Gott, Sandra! Wie naiv kann man denn sein? Was der da getan hat, gilt schon beinahe als sexuelle Belästigung. Na klar, zuerst trägt er ihr die Einkäufe nach oben, spioniert sie aus und dann, mitten in der Nacht, bricht er in ihre Wohnung ein und … und … ich will mir das gar nicht ausmalen.«
Als Antwort erhielt Gunnar ein Schulterzucken. Seine Sandra gehörte eben nicht zu den Gescheitesten, das musste er hinnehmen. Für sie stellte der Mann mit dem gelben Koffer einen einfachen, ruhigen Mieter dar. Gunnar hingegen wusste, wann ein Braten gammlig und faul stank.
Er konzentrierte sich wieder auf den gefährlichen Kofferträger und beobachtete ihn mit Argusaugen. Ohne wegzusehen murmelte er: »Ich wüsste zu gerne, wo der herkommt und was der überhaupt arbeitet. Das ist doch nicht normal.«
»Kannst ihn ja fragen.«
Wütend schlug Gunnar mit der flachen Hand so heftig auf den Tisch, dass Teller und Tassen sich lauthals beschwerten, Kaffee auf die Tischdecke schwappte und zwei Löffel in die Tiefe stürzten.
»Ja, bist du denn wahnsinnig?«, polterte er los. »Du bist komplett bescheuert, oder? Wenn der kriminell ist und ich unterhalte mich mit dem … was glaubst du, wo ich da reingezogen werde? Dann ist es aus mit dem schönen Leben hier, dann können wir ins Getto ziehen. Ja, ja. Denk mal nach, Sandra. Denk einfach mal nach. Ist so leicht wie Haare färben!«
Abermals zuckte sie lediglich mit den Schultern. Sich auf einen Streit einzulassen, brachte nichts. Wenn sich Gunnar in etwas festgebissen hatte, dann blieb er stur. Vor allem bei Dingen, die ihn nichts angingen. Oder wenn seine Fantasie begann, ein Eigenleben zu führen.
Wieder wandte sich der Hausmeister dem Fenster zu. Draußen war niemand mehr zu sehen. Der Mann mit dem gelben Koffer hatte sich aus dem Staub gemacht. Wie üblich. So war das immer mit den Kriminellen. Nur eine Sekunde ließ man sie aus den Augen, schon lösten sie sich auf als seien sie nichts weiter als kleine Rauchwölkchen.
Natürlich wusste Gunnar, dass der getarnte Verbrecher nicht einfach verschwunden, sondern ganz normal seines Weges gegangen war. Trotzdem, man konnte verrückt werden. Wieso meinte es das Schicksal mit zwielichtigen Gestalten immer gut?
Aber ja doch, damit es die ordentlichen Leute nicht ganz so leicht hatten. Lorbeeren wollten verdient werden, die lagen nicht auf der Straße herum. Aber ärgerlich war es doch, den Mann mit dem gelben Koffer aus den Augen verloren zu haben.
»Verdammte Scheiße. Nur wegen dir hab ich das jetzt verpasst«, fluchte er, schaute dabei aber nicht zu Sandra. Lieber wachsam bleiben, vielleicht machte der mysteriöse Nachbar ja kehrt, weil er noch etwas vergessen hatte.
»Was verpasst?«
»Na, den Kerl da, wie er auf den Bürgersteig tritt und dann weitergeht. Ich wollte doch sehen, welche Richtung er heute einschlägt.«
Sandra verstand Gunnars Probleme nicht. Es war doch egal, wohin der Mann mit dem gelben Koffer ging. Er verhielt sich vorbildlich, war leise und zahlte pünktlich die Miete. Nichts war an seinem Verhalten auszusetzen. Wenn alle Mieter so wären wie er, gäbe es keine Schwierigkeiten.
Sie zuckte zum dritten Mal mit den Schultern – eine Geste, die Gunnar irgendwann in den Wahnsinn treiben würde, dessen war er sich sicher – und meinte beiläufig zwischen zwei Schluck Kaffee: »Er wird zur Arbeit gehen, wie viele andere Leute das auch tun. Du verrennst dich da in etwas. Lass ihn doch einfach in Ruhe.«
Bescheuerte Kuh, dachte Gunnar, sprach es jedoch nicht aus. Statt dessen widmete er sich mürrisch seinem Frühstück. Seine Chance hatte er verpasst, jetzt musste bis morgen gewartet werden. Bis dahin konnte weiß Gott was passieren. Von Vergewaltigung über Raubmord, bis hin zu einem gigantischen Gemetzel an Unschuldigen war da alles möglich. Und wenn es sich um einen Auftragskiller handelte, der in dem gelben Koffer sein auseinander gebautes Gewehr mit sich trug? Was, wenn er jetzt gerade auf dem Weg war, einen hohen General oder wichtigen Staatsmann zu töten?
Dann trug seine Freundin die alleinige Schuld daran und würde es nicht einmal begreifen. Weiber! Immer nur mit Weiberkram beschäftigt und mit Weibergedanken. Kein Wunder, dass sie unfähig waren die Welt zu retten. Manche Dinge sollten in Männerhand bleiben, davon ging Gunnar nicht ab. Dieses Gewäsch von Gleichberechtigung konnten die in den Talkshows ja ruhig bereden, Hauptsache er blieb davon im wahren Leben verschont. Wer sich für Geschichte interessierte, der wusste um die Unersetzbarkeit der Männer. Ohne sie … aber nein, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Viel wichtiger war es, sich um den Mordbrenner von nebenan zu kümmern.
Es musste doch möglich sein, etwas über ihn herauszufinden. Nur durfte der Mann mit dem gelben Koffer nichts davon merken. Meine Güte, dachte Gunnar, wenn der herausfindet, dass ich etwas über ihn herausfinden will, ist es aus mit mir. Dann kommt er und schlachtet mich ab. Sandra vermutlich auch, aber was interessiert mich das. Ich wäre dann tot. Tot!
Soweit durfte es nicht kommen. Er musste seinem Nachbarn das Handwerk legen. Je früher, desto besser.
Still und ruhig zu sein war im Grunde eine feine Sache. Es gab genügend Mieter, die einem mit ihrem Krach den letzten Nerv rauben konnten. Feierten Partys bis spät in die Nacht hinein, ließen ihre Bälger überall umherspringen oder hörten bei voller Lautstärke klassische Musik. Bah! Doch das waren trotz allem anständige Leute. Keine Kannibalen wie der merkwürdige Fremdling von nebenan.
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