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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.8

Die Hyleg-Schädel – Teil 8

Hinter Dorkas und Little schlug die Zwischentür zu und schnitt die Posaunenklänge wie mit einem Messer ab. Über ihnen gab eine runde Milchglasleuchte ein mattes Licht. Dorkas schaute Little an, der schaute ebenso hilflos zurück. Unter ihren Sohlen knarrte der Parkettboden.

Endlich räusperte sich Dorkas und klopfte an die Glastür. Sofort zuckte sein Finger erschrocken zurück, denn die Scheiben saßen so locker im Rahmen, dass sie ein gefährliches Klirren von sich gaben.

Aber jetzt wurde auf der anderen Seite ein Lichtschein sichtbar und eine Stimme forderte sie auf, einzutreten.

Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend schob sich Dorkas, gefolgt von Little, durch die Glastür. Hinter ihr ging der Flur weiter, sein Verlauf war aber im Dunkeln nicht mehr erkennbar. Das Licht drang aus einer halbgeöffneten Doppeltür an der Seite.

 

»Hier bin ich, kommen Sie«, sagte die Stimme.

Also steckte Dorkas wie ein neugieriger Knabe, der am Weihnachtstag den Raum mit dem Gabentisch betritt, den Kopf durch die Tür und sah sich einem Schreibtisch gegenüber. Auf dem Schreibtisch lagen Stapel von Papieren, und hinter den Papieren, als würde jemand zwischen Eisschollen versinken, schaute ein weißhaariger Kopf hervor.

»Kommen Sie, kommen Sie, ich habe sogar zwei Stühle für Sie herschaffen lassen.« Nachdem er seine Gäste zu Gesicht bekommen hatte, schien Troiger seltsam enthusiastisch zu sein. Er winkte die beiden heran und dirigierte sie mit den Stühlen in die richtige Position. Er selbst blieb in seinem altmodischen hölzernen Schreibtischsessel sitzen.

Für einen Moment senkte sich peinliches Schweigen über die kleine Gesellschaft.

Dorkas räusperte sich, brachte aber keinen Satz heraus, und Troiger lächelte ein unsicheres, festgefrorenes Lächeln. Schließlich war er es, der die unbehagliche Ruhe beendete.

»Sie müssen verzeihen, wenn ich nicht zur Begrüßung aufstehe. Das fällt mir von Jahr zu Jahr schwerer. Mein Fuß …«. Damit schob er einen dick bandagierten Fuß in das Blickfeld seiner Gäste.

Dorkas erinnerte sich an die Einzelheiten der Biographie Troigers. Dort war ein Aufenthalt in einem Strafbataillon wegen Selbstverstümmelung erwähnt gewesen.

»Wir alle werden nicht Kinder … nicht Jugendliche … jünger, meine ich.«

»Wohl wahr«, antwortete Troiger. Und dann fügte er spontan hinzu: »All aperrogasi moi mykeo tenontes – im übertragenen Sinne natürlich.«

Plötzlich spratzte Dorkas vor den Augen des entsetzten Little seinen Speichel durch die Luft und wurde von wilden, röchelnden Krämpfen geschüttelt. Hinter seinen Brillengläsern zogen sich die Augen zu Schlitzen zusammen, aus denen die Tränen quollen.

»Verzeihung.« Tapfer unterdrückte Dorkas seinen Lachanfall, nur um im nächsten Moment wieder ungehemmt loszuquieken. »Im übertragenen Sinne, selbstverständlich …« Es folgte weiteres Wiehern, dem sich auch Troiger anschloss.

Für Little bot sich die kuriose Szene zweier alter Schulkameraden, die sich soeben über einen krachenden Eingeweihten-Witz schüttelten.

»Archilochos, immer für ein Zitat gut, der alte Schweinigel«, prustete Troiger.

Und Dorkas riss staunend die Augen auf: »Schwein … igel? Aaah, Schweinigel, ja, Archilochos der Schweinigel, sehr gut, ja, ja.«

Selbst wenn Little das altgriechische Zitat verstanden hätte (Die Übersetzung lautet, für die Minderheit, die es nicht kennt: Doch zerrissen sind mir meines Schwanzes Sehnen), wäre ihm dieser vulkanische Ausbruch jungenhafter Fröhlichkeit gänzlich fremd geblieben. Aber er bemerkte, dass sich hier etwas anderes abspielte, dass ein Boot diese verlassene Insel erreicht hatte, dass ein Wind durch diese dunklen Räume wehte und den lastenden Staub von Schuld und Scham und Angst forttrug.

Little nutzte die Zeit, in der sich Dorkas und Troiger in kumpelhaftem Verschwörertum angrinsten und dabei immer wieder losgockerten, um seinen Gastgeber genauer zu betrachten.

Zuerst fiel ihm Troigers Jackett auf. Dieser Schnitt, dieser Stoff mit kleinem Karomuster: Das war Mode der 50er Jahre. Auch die Krawatte wirkte so, als hätte sich Troiger aus einem Filmfundus bedient. Für Little war es jedoch leicht, den wahren Grund für diese Art der Kleidung zu erkennen. Troiger hatte sich für seine Gäste fein gemacht – soweit kam Little, auch ohne seine speziellen Fähigkeiten einzusetzen. Aber weil er die erstickende Einsamkeit gespürt hatte, die auf diesem Ort lagerte, als wären die Mauern der Villa ein Laborgefäß, in dem die reine Essenz des Verlorenseins geschaffen wurde, kannte er den Grund hinter dem wahren Grund. Troiger hatte diese Mauern seit beinahe einem halben Jahrhundert nicht mehr verlassen.

Little schloss die Augen und begab sich auf die Suche. Im nächsten Moment riss er die Augen wieder auf, musste sich vergewissern, dass er tatsächlich noch in diesem dumpfen Zimmer war und die beiden Männer sich immer noch durch glucksende Töne über ihre gemeinsame Amüsiertheit verständigten. Allzu trübe, allzu unerträglich weit und düster war das, was Little gesehen, vielmehr gespürt, hatte. Worte waren dafür nicht zu finden, aber hätte Little ein Bild dafür finden sollen, dann wäre es dasjenige einer endlosen flachen Weite gewesen, überspannt von einem sternenlosen Himmel.

Es erschien fast unglaublich, dass Troiger einer solchen seelischen Hölle widerstanden hatte, ohne dem Irrsinn zu verfallen oder Hand an sich zu legen.

Das Äußere Troigers spiegelte auf ihre spezielle Weise diese endlose innere Wanderung wider. Seine gebeugte Gestalt wirkte ausgezehrt, das Gesicht mit der charaktervollen Hakennase war fleischlos, es bestand nur aus weißer Haut, die fest über den Schädel gezogen war, sodass sich die vielen Falten nur als feine Linien auf der Stirn, um die Augen und den Mund erkennen ließen. Als junger Mann musste Troiger ausgesprochen gut ausgesehen haben. Nun hatten das Alter und die Umstände zu einer seltsamen Umkehrung der äußeren Erscheinung geführt. Es war nicht so, dass Troiger hässlich oder abstoßend wirkte. Aber sein Anblick hatte etwas Unheimliches, und auch hier spürte Little das Unbehaustsein, die Einsamkeit des fremden Wanderers, die auf jeden, der irgendwo auf der Welt und sei es im eigenen Herzen, eine Heimat hatte, wie eine grausige Krankheit wirken musste.

 

»Nun«, sagte Troiger, nachdem er einen kurzen Blick auf den Empfehlungsbrief geworfen und ihn dann achtlos zur Seite gelegt hatte, »nun nennen Sie mir doch bitte den eigentlichen Zweck Ihres Besuches, Herr Dorkas.«

»Ja, nun …« Dorkas druckste herum und warf einen hilfesuchenden Blick auf Little. Er fürchtete nicht, dass es zu Missverständnissen kommen würde, in deren Folge Troiger sie mehr oder weniger freundlich herauskomplimentieren könnte. Dennoch ahnte er, dass gegenüber einem Mann wie Troiger ein äußerst schonendes Vorgehen angebracht war.

»Nun«, setzte Dorkas neu an, »Ihr Artikel über den alten Garten. Diese Form von Akupunktur. Um Schäden aus der Umwelt zu heilen. Ich drücke mich hoffentlich verständlich aus.«

»Durchaus, durchaus, Ihr Deutsch ist ausgezeichnet, sehr ungewöhnlich für einen Angelsachsen«, nickte Troiger. »Sie arbeiten also über Gartenkunst? Da kann ich Ihnen ein ausgezeichnetes Werk eines niederländischen Kollegen empfehlen, Jan-Klas Kartopp …«

 

Troiger hatte eine recht hohe, heisere Stimme, die wie ein zu selten genutztes Instrument klang. Jetzt schwieg sie, weil Dorkas energisch den Kopf geschüttelt hatte.

»Verzeihung, Missverständnis«, rief Dorkas erregt. »Wie ärgerlich, ich kann mich wohl doch nicht recht ausdrücken. Es geht uns um … Energie.«

»Energie?« Troigers straff gespannte Gesichtshaut konnte Überraschung nur unvollkommen ausdrücken, umso deutlicher trat sie in seinem Blick zutage.

»Sie meinen Erdgas, Öl?«, vergewisserte er sich, nur um erneutes Kopfschütteln eines schon ziemlich nervösen Dorkas zu ernten.

»Nicht diese Art von Energie. Ich meine Erdenergie.«

»Erdenergie? Erdwärmenutzung? So wie das in Island gemacht wird?«

Dorkas atmete tief durch. Jetzt brauchte nicht nur Troiger Schonung, sondern auch er selbst.

»In Ihrem Artikel«, erklärte Dorkas und wählte jedes Wort genau, »sprachen Sie expressis verbis von einer Akupunktur durch die Steine, die dieser Künstler, Zoran Mitchich war der Name, in dem Garten oder dem Park durchgeführt hatte. Das ist richtig oder?«

 

»Ja«, bestätigte Troiger, »das ist richtig.«

»Gut. Aber – Akupunktur, das ist aus der Medizin. Altes China. Und es geht dabei um Energieströme im Körper. Richtig?«

»Richtig.«

»Also haben Sie, weil Sie von Akupunktur reden, doch auch unterstellt, dass es in der Erde solche Energieströme gibt, so wie im Körper. Richtig?«

Troiger ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er betrachtete Dorkas nach wie vor voller offensichtlicher Sympathie, aber ohne jedes Anzeichen von Verständnis. Obwohl Little dem Gespräch kaum folgen hatte, wuchs in ihm doch die Befürchtung, dieser Besuch könnte sich als Missverständnis entpuppen.

»Sie selbst unterstellen mir etwas, wenn Sie sagen, ich hätte mit dem Begriff Akupunktur zugleich die Existenz irgendwelcher Energien vorausgesetzt.«

Nach einer Weile, die er brauchte, um den Satz völlig zu verstehen, stemmte Dorkas die Hände auf die Oberschenkel.

»Ich unterstelle nichts!«, rief er empört. Seine lauter gewordene Stimme brachte die Staubteilchen, die im Kegel der Schreibtischlampe tanzten, in wirre Bewegung. »Ich berufe mich auf das, was Sie schreiben.«

Troiger hob beschwichtigend eine Hand. »Bitte, kein Grund zur Aufregung. Ich will nicht leugnen, dass ich mit der Hypothese solcher Energieflüsse gearbeitet habe. Ich will allerdings auch nicht leugnen, dass ich mich damit lächerlich gemacht habe.«

»Lächerlich?«, fragte Dorkas verblüfft und wischte sich über die Stirn.

»Völlig lächerlich. Die wenigen, die sich die Mühe machten, meine Artikel zu lesen, bezeichneten mich als Rutengänger. Unwissenschaftlich war noch das Freundlichste, was über mich gesagt wurde. Dabei bezog ich mich immer auf eine Reihe von Quellen und ich beschränkte mich streng auf die objektive Darstellung und nicht auf eine Bewertung.«

»Das kann ich bestätigen«, nickte Dorkas.

»Sie haben meine Artikel gelesen?«

»Alle. Nun, der Umfang Ihres veröffentlichten Werkes ist nicht groß.«

»In der Tat«, nickte Troiger mit einer unbestimmten Müdigkeit in der Bewegung. »Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich wohl nur noch in kuriosen Zeitschriften publizieren können. Aber wozu? Eine wissenschaftliche Karriere hatte mich nie interessiert. Und wenn man einen guten Gedanken hat oder zumindest einen Gedanken, den man für gut hält, dann muss man ihn doch nicht auf dem Marktplatz hinausposaunen und sich dabei lächerlich machen?«

»Es gibt vielleicht bessere Orte als den Marktplatz.«

»Nennen Sie mir welche. Ich weiß von keinen.«

»Nun«, in Dorkas’ Stimme war nun die Nervosität oder eine unbestimmte Spannung unüberhörbar, »ich würde zuerst gerne auf das erste Thema zurückkommen. Sie sind nicht ehrlich.«

»Wie bitte?«, schnappte Troiger, eher erstaunt als empört.

»Ich habe studiert, was Sie schreiben. Und ich weiß, dass Sie an Erdströme glauben. An Erdenergie, Energielinien, Knoten und an … an … Hylegs.«

Ein elektrischer Stoß schien Troiger getroffen zu haben. Er zuckte zusammen, sein verbundener Fuß schlug gegen den Schreibtisch. Dann starrte er Dorkas mit herausquellenden Augen an. »Wie kommen Sie auf diesen Begriff?«, fragte er tonlos, nachdem er sich gesammelt hatte.

»Wieso nicht«, hob Dorkas mit scheinbarer Lockerheit jetzt die Schultern, »er stammt aus der Astrologie, bisher hat noch nicht einmal eine New Yorker Anwaltskanzlei Markenschutz für den Begriff eingefordert.«

»Wir sprachen aber nicht über Astrologie.«

»Ganz recht, wir sprachen nicht über Astrologie. Sondern über Erdenergien. Ein Thema, das Sie seit Langem studieren. Zumindest ist das jetzt klargestellt. Und wieso ich den Begriff Hyleg gebrauche? Ein ziemlich hässlicher Begriff, finde ich übrigens. Also, wieso brauche ich ihn? Weil auch wir …« Damit deutete Dorkas auf den neben ihm sitzenden Little und patschte sich dann hörbar die Hand auf den eigenen Bauch. » … weil auch wir uns mit diesem Thema beschäftigen.«

 

Dorkas wartete eine Weile, um seinen weiteren Worten einen größeren Nachdruck zu verleihen. Gerade, als er ansetzen wollte, ertönte aus dem Flur ein lautes Räuspern.

»Milena, kommen Sie doch bitte herein«, rief Troiger.

Hinter einem schwer beladenen Tablett, das sie pustend stemmte, erschien die schon bekannte Wärterin der Troigerschen Eingangstür.

Troiger bemühte sich linkisch, auf seinem überfüllten Schreibtisch Platz für das Tablett zu schaffen. Dabei gerieten einige Papierstapel ins Rutschen und fielen auf den Boden. Sofort ging Dorkas auf die Knie und sammelte die verteilten Blätter ein. Auch Little kroch auf dem Boden, um zu helfen.

Bei dieser Gelegenheit warf Dorkas, und das war der eigentliche Grund, warum er sich so engagiert am Aufräumen beteiligte, schnelle Blicke auf die Unterlagen. Das alles wäre nicht aufgefallen, wenn Dorkas nicht plötzlich gestutzt hätte und, auf den Knien, den Stapel Papier unter dem Arm geklemmt, fasziniert ein Blatt überflogen hätte.

»Ain wänik Ärfrischunk für die Härrään«, erklärte die Frau und machte sich wieder davon.

»Sie können die Papiere hier auf den freien Platz legen, vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Troiger und schlug etwas ungeduldig mit der flachen Hand neben das Tablett.

Little reagierte sofort, aber Dorkas schien die Worte gar nicht gehört zu haben. Er hatte sich – immer noch auf den Knien – aufgerichtet und arbeitete sich nun, mit gerunzelten Brauen und Lippen, die leise buchstabierten, durch den Text.

Little lächelte entschuldigend, nahm den Stapel Papier, den Dorkas unter dem Arm geklemmt hatte und erst auf energisches Ziehen hin freigab, und legte ihn auf den Schreibtisch. Dann betrachteten Troiger und Little den knienden Dorkas, der jetzt so wirkte, als würde er einen Eid ablegen.

Schließlich stieß Troiger ein grollendes Räuspern aus, das Dorkas zusammenzucken ließ.

»Ich bin sehr erfreut, in Ihnen den einzigen Leser meiner Aufzeichnungen gefunden zu haben«, sagte Troiger lächelnd. »Trotzdem sollten Sie hier eine Pause einlegen und dem Imbiss, den die gute Milena bereitet hat, die ihm zukommende Ehre angedeihen lassen. Nehmen Sie Kaffee oder lieber Tee?«

Beim Stichwort Tee zuckte Dorkas zusammen und wachte aus seiner Versunkenheit auf. »Tee!«, rief er entschieden, um dann vorsichtig zu fragen. »Welche Sorte?«

»Ein früher Darjeeling. Sehr kräftig. Ich würde Sahne dazu empfehlen.«

Mit schneller Hilfe von Little kam Dorkas wieder auf seinen Stuhl, rieb sich die schmerzenden Knie und schaute begierig auf den sonstigen Inhalt des Tabletts.

»Greifen Sie bitte zu, meine Herren«, forderte Troiger sie auf. »Milena wird sich gefreut haben, ihre Künste auch einmal anderen Gästen zu präsentieren als einem langweiligen Allesesser wie mir.«

»Wirklich ausgezeichnet«, lobte Dorkas eine lange Weile später und stippte mit dem angefeuchteten Zeigefinger den letzten Krümel von seinem Teller. Das Tablett war so leer wie ein mitternächtlicher Parkplatz vor einem Einkaufszentrum.

»Ja,«, nickte Troiger, »Milena Kollar ist die gute Seele dieses Hauses. Sie ist seit Jahrzehnten meine Haushälterin. Wie lange, weiß ich selbst nicht einmal mehr.«

»Sie gehen nicht gerne in Gesellschaft«, bohrte Dorkas vorsichtig nach.

Troiger lächelte, ein Lächeln, das seine Worte Lügen zu strafen schien. »Ich habe kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Um ehrlich zu sein, habe ich dieses Haus seit vielen Jahren nicht mehr verlassen. Diese Welt da draußen reizt mich nicht so sehr, als dass ich ihre abschreckenden Aspekte in Kauf nehmen würde. Nein, meine einzige Verbindung nach draußen ist Milena. Sie stammt übrigens aus Prag, ein Flüchtling, ebenso wie ich. Oder vielleicht doch nicht so sehr ein Flüchtling, denn im Grunde lebe ich wie auf einer Raumstation. Ich verlasse auch nur selten meine Räume. Das Gehen fällt mir schwer, mein Fuß, wissen Sie … manchmal humpele ich nach hinten auf die Terrasse und setze mich in die Sonne. Aber das mache ich eigentlich nur, weil es mir der Arzt geraten hat. Wegen des Vitamins D. Ansonsten kann mich selbst die Natur nicht mehr reizen. Wenn ich draußen sitze, sehe ich immer mehr diese weißen Streifen von den Flugzeugen am Himmel. Früher gab es das gar nicht, heute kann man nirgendwo hinschauen, ohne diese Streifen sehen zu müssen. Und überall ist es laut – Autos, Flugzeuge, Radios, Rasenmäher, Maschinen, nur Dampfloks hört man nicht mehr. Die habe ich gemocht. Es gibt auch kaum noch Mauersegler und Schwalben im Sommer. Früher haben sie hier gebrütet. Das war schön …«

Troiger verstummte und schaute auf seine Handflächen, als hätte dort etwas gelegen, das ihm Antwort auf seine Fragen geben konnte.

»Ich kann Sie verstehen«, antwortete Dorkas zögernd. »Aber Sie hatten doch Kontakt mit Kollegen, ich meine, mit anderen Forschern. Schließlich haben wir diesen Empfehlungsbrief bekommen.«

»Ach der Brief«, erwiderte Troiger, wieder etwas munterer. »Das ist ein vorgefertigter Wisch, so was in der Art habe ich schon oft gesehen. Ich scheine in der letzten Zeit eine große Anziehungskraft auf eine bestimmte Sorte von Spinnern zu haben.«

»Spinner?«

»Na ja, Sie können es sich denken. Diese Leute, die so eine Mischung aus Langhaarigen und Naturburschen sind. Manche hatten heidnische Zeichen als Schmuck oder nannten sich selbst Druiden. Das alles ist nicht ernst zu nehmen.«

»Aber trotzdem haben Sie doch Kontakt mit Kollegen?«, beharrte Dorkas.

Troiger hob wie resignierend die Hände. »Was man Kontakt nennt. Ich bekam früher schon mal Besuch. Aber diese Leute sind entweder tot oder selbst so alt, dass sie keine Lust mehr haben, durch die Weltgeschichte zu reisen, um einem anderen Mummelgreis einen Visite abzustatten. Aber ich korrespondiere noch eifrig.« Eine Hand Troigers bewegte sich über den Schreibtisch. »Ich glaube, das Briefeschreiben ist eine Mitteilungsform, die mir sehr gelegen kommt. Heute macht man das über Elektronenrechner, habe ich mir sagen lassen, aber ich halte viel mehr davon, mit der Hand und einem schönen altmodischen Füllfederhalter zu schreiben. Meine Handschrift ist zwar in den letzten Jahren nicht besser geworden, aber sie ist lesbar. Ja … manchmal ruft mich auch jemand an. Aber selten. Ich mag Telefone nicht. Ja, so ist das.«

Troiger starrte mit hängenden Schultern vor sich hin. Er sah alt, sehr zerbrechlich und ungeheuer verloren aus.

Little hatte kaum je einen Menschen gesehen, der von der Kälte solcher Einsamkeit umschlossen war.

Dorkas seufzte tief und wedelte dann mit dem Papier, dessen Inhalt ihn so fasziniert hatte. »Sie nutzen den Begriff Hyleg-Paradoxon für Stellen, an denen Ihrer Berechnung nach Hylegs sein müssten, aber nicht sind. Sie nennen auch eine Stelle in Zentralaustralien.«

»Es gibt mehrere solcher Stellen. Aber sie werden weniger. Ich nahm an, das hängt mit dem veränderten Klima zusammen.«

 

Dorkas steckte verschwörerisch den Kopf vor und schaute nach links und rechts, als könnten sich dort Lauscher verbergen. Aber rechts saß nur Little und links verbargen sich in der Dunkelheit hohe Schränke. »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass diese Veränderungen nicht auf natürliche Weise, sondern durch Manipulationen zustande kommen?«

Eine Antwort war nicht nötig, denn Troiger schaute ausreichend verständnislos, um Worte völlig zu ersetzen.

»Ich will es so sagen«, fuhr Dorkas fort. »Es gibt viel Interesse für diese Erscheinungen. Was uns angeht, Herrn Little und mich, so dürfen wir uns durchaus auch zu so einer Interessengruppe zählen. Es gibt andere Gruppen. Was wichtig ist … die Flüsse der Erdenergie sind zu manipulieren. Man kann sie verändern und damit Wirkungen erzielen. Wir wollen diese Veränderungen verhindern.«

Troiger schüttelte verständnislos den Kopf. »Wovon reden Sie? Von einem Konzern, einer Firma. Oder von einem Geheimdienst, mein Gott, das klingt so absurd, Verzeihung, ich nehme das zurück.«

»So ganz absurd war das nicht. Geheim stimmt, Dienst stimmt auch. Ansonsten würde ich von einer Gemeinschaft sprechen.«

»Das ist mir alles viel zu hoch.«

»Kein Problem.« Dorkas stand auf, klopfte sich in wachsender Panik seine Taschen ab. Dann erhellte Erleichterung sein Gesicht. Schwungvoll wie ein mittelalterlicher Herold zog er einen Brief hervor. »Darf ich etwas mehr Licht haben?«, bat Dorkas, als er sich wieder gesetzt hatte.

Troiger drehte die Schreibtischlampe ein wenig in die Richtung seines Gastes. Sorgsam entfaltete er das schwere Papier, auf dem Little jetzt handgeschriebene Zeilen entdeckte. Er hatte keine Vorstellung davon, was Dorkas nun vorhatte.

Der säuberte seine Kehle mit einem vernehmlichen Räuspern und verneigte sich in Richtung Troiger. »Da im Vorfeld unseres Besuches genau jener Punkt erwartet worden war, an dem wir uns nun befinden, erlaube ich mir, Ihnen hier ein Grußwort des Conte Ercole di Saloviva, des Herrn von Collesalvetti zu verlesen. … Nein … unterbrechen Sie mich bitte jetzt nicht. Alle Fragen werden sich beantworten, wenn Sie die folgenden Zeilen vernehmen.«

Dorkas holte tief Luft und las:

 

»Hochverehrter Doktor Troiger. Wenn Ihnen diese persönliche Nachricht verlesen wird, haben Sie sicherlich schon ein längeres Gespräch mit meinen Freunden und Mitstreitern, den Herren Little und Dorkas, gehabt. Ich vermute, dass Ihnen, lieber Herr Troiger, eine Reihe von Dingen mitgeteilt wurden, die Ihnen vielleicht beim ersten Anhören etwas verwirrend, abgehoben, vielleicht sogar phantastisch und irreal erscheinen mögen. Es ist mir darum ein Herzensanliegen, Ihnen durch den Mund des ehrenwerten Dorkas einige Tatsachen über eine Gemeinschaft mitzuteilen, von der Sie wohl noch nie etwas gehört haben, der Sie aber, das sagt mir ein sicheres Gefühl meines Herzens, ohne es zu wissen, schon lange als ein wichtiges Mitglied angehören. Wir nennen uns, obwohl Namen nichts sind als Schall und Rauch …«

 

Weil er völlig damit beschäftigt war, die klare Handschrift des Conte in möglichst eindrucksvoller Weise vorzulesen (was ihn ein wenig einer Kindergartenmärchentante ähneln ließ), bemerkte Dorkas es nicht. Aber Little sah das feuchte Schimmern in Troigers Augen und die Tränen, die silbrige Spuren über die abgemagerten Wangen des Greises zogen.

Nachdem Dorkas geendet hatte, herrschte ein langes Schweigen.

»Das ist alles sehr überraschend«, sagte endlich Troiger, mit einer brüchigen Stimme, der man anhörte, wie schwer es ihm fiel, die Fassung zu bewahren.

»Nun, ich kann sagen, wir waren alle überrascht. Mehr oder weniger. Aber eigentlich eher mehr. Obwohl ich schon seit Längerem, aber das tut nichts zur Sache …«

Als Milena eintrat, weckte die seltsame Stimmung unter den drei Männern sofort ihr Misstrauen. Sie stemmte die Arme in die Hüften und beäugte kritisch die Gäste. »Hat äs nicht gäschmäckt odär ist Gäspräch unärffreilich?«

»Danke, danke, es hat ausgezeichnet gemundet und wir unterhalten uns prächtig, wenn auch über überraschende Themen. Nein, unser Problem ist …«

Hilfesuchend schaute sich Troiger um.

Dorkas hob halb schüchtern, halb neckisch die Hand. »Wir haben leider nichts mehr von dem ausgezeichneten Tee.«

»Ha, ist das kein Probläm, mach ich doch gleich noch wälchen.« Befriedigt nahm Milena ihr Tablett und verschwand für eine Weile.

 

»Sie sagen also, dieses Buch, wie war noch einmal der Name …«, nahm Dorkas den unterbrochenen Gesprächsfaden, an Troiger gewandt, wieder auf.

»Wahrhaftige Beschreibung der Elbenwege und ihrer Kreuzungen von Sebastian Trautmann, erschienen 1674 in Augsburg. Trautmann berichtet von einem jungen Holzknecht, der ihm selbst von einem solchen Elfenweg erzählt hat. Nur Eingeweihte können solche Wege erkennen, manchmal können besonders sensible Menschen die Linien im Mondlicht schimmern sehen. Trautmanns Gewährsmann, der zu der Zeit schon ein Greis war, berichtet, wie er einmal einen Elf beobachtete, der auf einem dieser Wege lief. Der Holzknecht prägt sich den Weg ein und am nächsten Tag lief er selbst dort entlang. Da merkte er, dass er mit jedem Schritt eine Strecke zurücklegte, wie sonst nur in zwei Stunden. Mühelos kam er an sein Ziel, eine Woche früher als erwartet. Aber weil er auf diese Weise seine Liebste in den Armen eines anderen erwischte, in einen tödlichen Streit geriet und fliehen musste, war der Holzknecht sicher, dass die Elfenwege Teufelswerk seien, und Trautmann schloss sich dieser Meinung an. Nun gut, ich jedenfalls merkte, dass diese Geschichte eine seltsame Parallele zu Erzählungen über tibetische Mönche bot, von denen auch gesagt wird, sie könnten mit ungeheurer Geschwindigkeit bestimmte Kraftlinien entlang laufen.«

Mit sichtlicher Mühe erhob sich Troiger. Er beugte sich vor und drückte auf einen Schalter. Neonröhren begannen zu zirpen und hüllten den Raum dann in ihr kaltes Licht.

Mit Staunen bemerkten Dorkas und Little, dass sie sich in einer Bibliothek befanden. Aus der Dunkelheit traten nun eng gestellte, bis zur Decke reichende Regale hervor. Sie waren über und über mit Büchern beladen, es gab keinen Fleck, auf dem sich kein Druckwerk gestapelt hätte. Zwischen den Regalen blieb gerade genügend Platz für einen schmalen Mann, um sich hindurchzuschieben und eventuell mittels einer Leiter die obersten Bücher erreichen konnte.

»Wenn Sie mir bitte Ihre Hilfe angedeihen lassen wollten?«

»Sicherlich!« Dorkas stürzte herbei und bot Troiger seinen Arm als Stütze. So zogen sie langsam durch die Regalreihen, als durchquerten sie eine Gebirgsschlucht. Auch die Wände waren verstellt, wie Little jetzt bemerkte. Kein Wunder, dass das Haus von außen unbewohnt wirkte.

»Hier durch«, sagte Troiger eifrig. »Ich will Ihnen etwas zeigen, das Sie sicherlich interessieren wird!«

 

Die Sonne wollte sich in den Staub sinken lassen.

Der alte Mann wirkte wie ein Tauchsieder in einer Teetasse. Es war nicht so, dass das Wasser sofort brodelte, aber eine erste Veränderung in der Temperatur wurde spürbar.

Die matte Erleichterung, endlich den Arbeitstag überstanden zu haben, endlich das Bier im Reichweite zu wissen und vor allem dem Ende des Arbeitskontraktes um einen weiteren Tag näher gekommen zu sein, bestimmte noch das Verhalten der Männer.

Müde schlurften sie zwischen den Hütten umher, eingehüllt in den Staub, den ihre Schritte aufwirbelten, und sie stierten den dunkelhäutigen Alten an. Es waren ungläubige Blicke aus Gesichtern voller Unverständnis und Verblüffung. Der Aborigine ignorierte alle Umstehenden und setzte seinen Weg fort. Er schien kein bestimmtes Ziel zu haben, sondern ging einfach durch die Senke hindurch, in der sich die westliche Zivilisation in all ihrer Hässlichkeit eingenistet hatte und murmelte etwas vor sich hin. Vielleicht sang er auch leise.

Dann hörte Tony in der Nähe eine Bemerkung, vielmehr ein Schimpfwort. Es wurde nicht geschrien, sondern einfach gesagt und nur wenige konnten es gehört haben. Aber es wirkte wie eine Initialzündung, es stachelte die Männer an und machte ihnen deutlich, was überhaupt geschah: Dass in diesem Moment einer dieser dunkelhäutigen Affen mitten durch ihr Territorium stolzierte.

Steele und Tony Tanner schauten sich an. Ohne sich abgesprochen zu haben, wussten sie, auf welcher Seite sie standen und welche Konsequenzen das für sie beide haben würde.

In der kurzen Zeit dieser wortlosen Verständigung hatte sich die Szene entscheidend gewandelt. Für einen außenstehenden Beobachter wäre der Umschwung kaum bemerkbar gewesen. Tony Tanner registrierte ihn sofort und sein Herz begann zu poltern. Es war, als würde sich durch den Dunst Dutzender verschwitzter Männerkörper etwas anderes, schärferes in die Nase drängen – der Raubtiergeruch einer jagdbereiten Meute. Aus den Augen wurde die Ungläubigkeit verdrängt und ein hartes Glitzern trat an ihre Stelle. Die dumpfe Verblüffung hängender Unterlippen und offener Mäuler wich den exakt geschnittenen Zornesfalten zwischen zusammengezogenen Brauen. Die Männer, eben noch im Trott ihres schon eingeübten Weges wichen den ersten Millimeter zur Seite, ließen sich von dem Ereignis ergreifen, drehten sich dem Fremden, dem so obszön fremden und anderen Menschen zu, für den sie spezielle Schimpfwörter hatten.

Aus der Menge erklang höhnisches Lachen, jemand rief etwas, ein anderer antwortete. Plötzlich war es geschehen, die ersten Blasen stiegen in der Teetasse auf, das Aufbrodeln war nur noch eine Frage von Augenblicken. Bisher waren die Männer vereinzelte Gestalten gewesen, jetzt orientierten sie sich, bildeten eine Gemeinschaft. Sie rückten zusammen, vor dem Alten bildete sich eine geschlossene Mauer von gereizten Männern.

Nur mit Mühe konnten sich Steele und Tony durch den sich schließenden Kreis schieben, um in der Nähe des Aborigine zu sein. Jetzt vernahm Tony durch das Gemurmel der Umstehenden hindurch die hohe, dünne Stimme des alten Mannes, der ein monotones Lied vor sich hersang. Bevor Tony oder Steele eingreifen konnten, fuhr aus der Menge eine Faust wie ein plötzlicher gezückter Stachel und schlug dem Alten ins Gesicht. Die Aktion wurde mit spontanem Gebrüll bejubelt, das im nächsten Moment in verblüfftes Raunen und dann in wütendes Johlen umschlug.

Der Alte hatte sich mit dem Reflex eines Weltklasseboxers abgeduckt, die Faust ging ins Leere, der Angreifer wurde durch den eigenen Schwung aus der Anonymität der Gruppe und gegen den Speer des Alten gerissen. Die stumpfe Seite des Speeres fuhr ihm in die Rippen, er schrie kurz auf und taumelte zurück, fiel nach hinten und wurde von den anderen aufgefangen und hochgerissen, als wollten sie ihm und sich die Schmach eines gefallenen Weißen ersparen.

Tony schaute sich um. Hinten standen die Ex-Soldaten und einige andere. Sie würden sich aus der Sache heraushalten, so und so. Von ihnen drohte keine Gefahr, es war aber auch keine Hilfe zu erhoffen. Sie bildeten die dünne Schale der neutralen Zuschauer, die sich vielleicht ihre eigenen Gedanken machten, aber zu klug waren, um sich in aussichtslose Händel einzulassen.

Dazwischen brodelte, siedete, kochte, sprudelte die Menge der Wütenden. Der Alte war das Zentrum, zu ihm drängten sie sich, schoben sich aneinander vorbei, warfen sich übereinander, gerieten miteinander in Streit, prügelten sich, weil jeder nach vorne wollte, jeder in die erste Reihe, an die Front strebte.

Jetzt brach der Damm, sie stürzten sich auf den Alten und wurden im Nu wieder zurückgetrieben, weil der Speer wirbelte und auf sie eindrosch. Der Aborigine benutzte den Speer wie einen Stock, der jedem, den er traf, eine schmerzhafte Mahnung lieferte, sich gefälligst zurückzuhalten.

Die Woge der Männer wich zurück. Nur um sich im nächsten Moment wütender aufzubäumen. Von drei Seiten sprangen sie auf den dunkelhäutigen Mann zu.

»Aufhören, was soll das!«, brüllte Steele und griff in das Handgemenge ein. Er schob und stieß, aber vor allem war es seine gewaltige Stimme, die die Männer zum Einhalten zwang. Sie wichen zurück, einen Fuß über den anderen, verwirrt und zögernd, und schauten auf den drahtigen Weißen, auf einen von ihnen, der sie eben unverhofft in bestem Kasernenhofton angeschnauzt hatte.

»Habt ihr einen Schuss im Socken oder was?«, schrie Steele. »Glaubt ihr vielleicht, hier gibt es keine Gesetze? Wollt ihr in den Knast wandern? Haut ab und holt euch euer Essen.«

Sie zogen die Köpfe ein, die ersten wendeten sich ab. Der Kreis von Wut, der sich um den Alten, um Steele und Tony schon fast geschlossen hatte wie eine Würgeschlinge, bröckelte an den Rändern ab. Es verlief so, wie Steele es Tony einmal gesagt hatte – die Männer brauchte jemanden, der ihnen die Richtung zeigte, dann waren sie ganz in Ordnung.

Steele richtete sich langsam wieder auf, seine Schultermuskeln entspannten sich. Bis jetzt war alles so gelaufen, wie er es vorhergesehen hatte. Und auch was nun kam, war nicht unerwartet. Denn in diesem Augenblick flog die Tür der Verwaltungshütte auf und schlug krachend gegen die Wellblechwand.

 

»Was ist hier los?«, trompetete eine bekannte Stimme und der blondierte, selbsternannte Oberaufseher schob seine Wandschrankschultern durch die Öffnung. Über den Köpfen der anderen Männer konnte Steele das blonde Haar sehen. Und der Blondierte sah Steele. Bei seinem Anblick ging ein verachtungsvolles Grinsen über das Gesicht des Aufsehers. Sein Instinkt hatte ihm schon gleich gesagt, irgendwo tief unten, wo die Weisheit der Krokodile im Rückgrat eines primitiven Mannes schlummert, dass dieser unterwürfige Hund zugleich ein falscher Hund war.

Die Art, wie Steele dort stand, breitschultrig, aufrecht und locker, umgeben von einem freien Raum wie ein Turm einer uneinnehmbaren Festung, ließ den Blondierten rot sehen. Es war die fleischgewordene Herausforderung. Der Aufseher reagierte sofort.

»Platz da!«, schrie er und schob sich wie ein Schneepflug durch die Reihen der Umstehenden. Seine Ellbogen rammten sich einen Weg, Männer kippten stöhnend zur Seite, wenn ihre Rippen unter dem Stoß bebten, die anderen waren klüger, sprangen zurück, schoben sich in Sicherheit. Die Menge geriet in neue Bewegung, wogte und wankte, platzte dann auseinander und bildete eine Gasse. Nur noch vier Personen befanden sich dort. Der Blondierte, der Alte, Steele und hinter ihm Tony.

Alles klar. Steele grinste den Blondierten herausfordernd an. Er wusste genau, was kommen würde. Wütendes Heranrauschen, abbremsen im letzten Moment, Nasenspitze an Nasenspitze, anstarren und dann würde Blondie die Nerven verlieren und versuchen, zuzuschlagen.

Aber – wie hatte sich Meister Ki ausgedrückt? Sicherheit nichts als das Gleichgewicht mehrerer Unsicherheiten ist.

Außerdem hatte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit gesagt: Lernen auch der Meister täglich muss noch.

So war es, und Steele bekam die Gelegenheit. Ihm blieb nicht einmal mehr die Zeit, das provozierende Grinsen aus seiner unteren Gesichtshälfte zu entfernen, da hatte ihn der Blondierte überrannt. Der Muskelprotz hatte beschleunigt, den Alten einfach weggestoßen und war mit verstärktem Tempo auf Steele zugesprungen.

Mit Entsetzen sah Tony, wie Steele gepackt wurde, als hätten ihn die Puffer einer Rangierlok erwischt, wie sich Steele bemühen musste, um nicht rückwärts zu stolpern. Denn dies wäre sein Ende gewesen und wie Steele dann scheppernd in die Wand einer Blechhütte einschlug. Der windschiefe Schuppen geriet ächzend ins Wanken, von dem schrägen Dach rieselten Staubfäden auf die beiden Männer.

Der Blondierte hatte Steele durch die schiere Wucht seines Anpralls zurückgedrängt. Steele sah Sterne, er wusste, dass er halbbetäubt war und nun für einige Sekunden eine Notsequenz zwischenschalten musste, um wieder klar im Kopf zu werden. Seiner Absicht stand der Instinkt des Blondierten gegenüber, der ihn zwang, so schnell und so brutal wie nur irgendmöglich zuzuschlagen, um die Sache zu erledigen. Denn das alte Krokodil im Rückgrat wusste genug von Schmerz, den es zu vermeiden galt und von Fähigkeiten, die man hatte oder eben auch nicht hatte. Eine Hand umklammerte Steeles Hals, drückte ihn wie der Gewalt einer hydraulischen Presse gegen die Hütte. Das Blech jammerte und quietschte, die Konstruktion geriet ins Wanken, bog sich zur anderen Seite, während der blondierte Hüne mit angeschwollenen Halsadern und einem Arm, am den die Muskeln die Haut sprengen wollte, sein Opfer wie ein Abbruchwerkzeug einsetzte, mit gefletschten Zähnen und kehligem Grollen stemmte und schob.

Steeles Augen quollen aus den Höhlen, er hörte das panische Trommeln des eigenen Herzens, spürte den würgenden Schmerz, spannte mit letzter Kraft seine Halsmuskeln, um zu verhindern, dass ihm die Kehle zerquetscht wurde.

Der Blondierte trat einen halben Schritt zurück, schwang den freien Arm und schlug zu. Die Hütte dröhnte, Steeles Umriss wurde in das gewellte Blech gestanzt. Der Anblick trieb den Zuschauern ein Stöhnen aus der Kehle.

Da fuhr der Kopf des Blondierten herum. Verwirrt glotzte er auf Tony Tanner, der einige Schritte entfernt bei dem Alten saß. Der Aborigine war durch den Rempler des Hünen offensichtlich ernsthaft verletzt worden. Er hielt sich stöhnend die Seite, Tony hatte ihn aufgehoben und soweit aufgerichtet, dass er sitzen konnte.

Nun brüllte dieser schwuchtelige Etepete-Komiker mit seinem hochnäsigen britischen Dialekt dem blondierten Oberaufseher etwas entgegen, das, übersetzt in Tony Tanners übliche Ausdrucksweise etwa Sei gegrüßt, du Anal-Ausgang geheißen hätte. (Nun gut, nutzen wir an dieser Stelle wenigstens einmal die Vorteile einer realistischen Darstellungsweise und geben die Übersetzung: Hallo, Arschloch.)

Der Blondierte bekam für den Moment einen geradezu Mitleid erregenden verwirrten Eindruck. Er hatte etwas von einem Stier, der in der Arena zum ersten Mal den Kerl mit dem roten Tuch zu Gesicht bekommt. Es gab Anlass zum Zweifel. Dieser schwuchtelige Europäer konnte, er konnte effektiv einfach nicht, so etwas gesagt haben. So abgrundtief bescheuert konnte selbst ein Engländer nicht sein.

Aber dann fand eine, von leichtem Surrealismus überpuderte, Vorstellung statt, denn Tony Tanner begann, in betontem BBC-Englisch einige der exklusivsten Schimpfwörter, die unter den Männern kursierten, in Richtung auf den Blondierten zu schmettern und sich zugleich aufzurichten und breitbeinig hinzustellen. Dabei wurde seine Stimme immer lauter und er äußerte für jeden der Umstehenden seine deutlichen Zweifel an der moralischen Integrität von Blondies Mutter, die er darüber hinaus zog, gegen Geld sexuelle Praktiken ungewöhnlicher Art mit Menschen beiderlei Geschlechtes sowie mit Säugetieren zu betreiben.

Obwohl Tony den Eindruck erweckte, diese Litanei noch unbeschränkt fortsetzen zu können, war er mit seinem Vorrat an Vokabular schon nach dem ersten Satz am Ende. Es reichte allerdings auch, denn der Blondierte ließ Steele los und wandte sich Tony zu.

Tony war nicht bei Meister Ki in die Schule gegangen, dennoch war er ein unbewusster Jünger des kleinen Japaners, hatte der doch gesagt: Überleben ist der größte Sieg.

Insofern befand sich Tony also völlig im Einklang mit den höchsten Prinzipien der Kampfkunst, als der Blondierte auf ihn zustürzte. Tony wartete bis zur letzten Tausendstelsekunde und machte dann einen Seitschritt. Ganz kam er nicht mehr aus dem Weg des Hünen, aber das entsprach seiner Absicht, denn sein Bein blieb stehen und darüber stolperte der Blondierte. Allerdings wurde Tony selbst umgerissen. Sein Knie schien aus dem Gelenk gesprungen zu sein, er hörte einen Schmerzensschrei und begriff erst beim Zuklappen des Mundes, dass es sein eigener gewesen war. Trotzdem richtete er sich auf, das eine Bein wie einen Stock steif haltend. Der Hüne war inzwischen mit vorgestreckten Armen zwei Schritte gewankt und dann in einer Staubwolke auf dem Boden gelandet. Als er sich aufrichten wollte, traf ihn der Tritt Tonys in den Allerwertesten und trieb seine Nase zurück in den Staub. Der Hüne brüllte vor Wut, wollte hoch und bekam den nächsten Tritt, der ihn noch einmal zurück auf den Boden trieb. Irgendwo in den roten Gewitterwolken seines blinden Zornes erkannte der Aufseher jetzt, dass er in Gefahr geriet, sich zur lächerlichen Figur zu machen. Tatsächlich, von den Zuschauern waren bereits glucksende Töne aufkommenden Lachens zu hören.

Diese Erkenntnis, diese größte aller Niederlagen, gab ihm ungeahnte Schnelligkeit. Er drehte sich um die eigene Achse, kam auf dem Rücken zu liegen und rammte die Ellbogen in den staubigen Boden. Das reichte, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Sein Anblick war Furcht erregend. Überzogen von rötlichem Staub, durch den der Schweiß Linien zog, mit gefletschten Zähnen und aufgerissenen Augen, in denen jetzt der Irrsinn loderte, schaute er sich nach seinem Gegner um. Ein Griff und er würde diesen Trottel zermalmen.

Aber Tony Tanner war nicht mehr zu sehen. Er hatte es vorgezogen sich auf allen vieren zwischen die Beine der Umstehenden zu verziehen.

 

Langeweile kam dennoch nicht auf. Denn jetzt kam Steeles Stimme von der anderen Seite. Der Kopf des Hünen schwenkte. Dort stand das besiegte Opfer, schwankend, blutig, aber mit provozierender Furchtlosigkeit.

Steele klatschte eine Faust in die Fläche der Hand. »Was ist? Komm schon, zweite Runde!«

»Ich mach dich platt, ich mach dich platt«, röhrte der Blondierte und setzte sich in Bewegung.

Hinter sich hörte er plötzlich eine Stimme laut schreien. Es war die Stimme Tony Tanners, aber seine Worte klangen nun so, als wäre er neben einer Känguruherde unter einem Eukalyptusbaum zur Welt gekommen.

»Der Tresor ist offen«, schrie Tony. »Die Lohngelder sind weg.«

Damit erschien er in der Tür der Verwaltungshütte und zeigte unbestimmt in eine Richtung. »Da, dort läuft er, haltet ihn«, schrie Tony wieder.

Der Blondierte konnte die Szene nicht sehen. Sie interessierte ihn nicht einmal. Er spürte, wie sich seine Nackenmuskeln zusammenzogen, während er auf Steele zurannte. Er war nur noch ein menschliches Geschoss, abgefeuert von der eigenen Wut.

Er erwischte Steele, aber jetzt ließ sich Steele auf den Boden fallen und schleuderte den Hünen mit einem kräftigen Stoß von Armen und Beinen über sich hinweg.

Der Blondierte flog durch die Luft, krachte, Kopf unten, Beine oben, gegen die Hüttenwand und stürzte. Der Aufprall stauchte ihm den Nacken zusammen und betäubte ihn kurzzeitig. Er schlug um sich, verschwand in einer Wolke von Staub, in die ein letzter Sonnenstrahl ein gerade Linien zog, als wollte er die Kälte der Geometrie dem ungehemmten Treten und Schlagen des wutentbrannten Mannes entgegensetzen.

Brüllend kam der Blondierte wieder hoch. Auch Steele war inzwischen wieder auf den Beinen, eigentlich war er schon wieder auf den Beinen, als sich der Blondierte noch auf dem Luftweg befand. Aber er wartete ab und verzichtete auf einen weiteren Angriff.

Der Kampf hatte kaum noch Zeugen, denn inzwischen war zuerst eine Panik, dann eine Massenprügelei ausgebrochen, die Tony Tanner noch durch lautes Da ist er, haltet ihn anheizte. Die Männer johlten, brüllten und fluchten, sie hielten sich gegenseitig fest, schlugen aufeinander ein und lösten sich dann voneinander, um gemeinsam auf einen neuen Gegner einzudreschen, der im nächsten Moment wieder zum Verbündeten werden konnte.

Tony drängte sich durch die tobenden Männer, fand den alten Aborigine und zog ihn mit sich. Der Alte humpelte, Tony musste den Arm um seine Hüfte legen und ihn halb stützen und halb mitschleifen.

Aus den Augenwinkeln erlebte er die dritte Runde der Begegnung blondierter selbsternannter Oberaufseher gegen Steele mit. Der Blondierte schüttelte den Kopf und rieb sich den Nacken, dann sprang er auf Steele zu.

Steele vermochte noch zu reagieren, sprang zurück, bekam den Nacken des Hünen zu packen und riss dessen Kopf nach unten. Zugleich rammte er sein Knie hoch und Kopf und Knie trafen sich mit fürchterlichem Krachen. Dann riss Steele den Kopf des anderen noch einmal hoch, um ihn wieder nach unten zu beschleunigen, während das Knie noch einmal den Weg nach oben angetreten hatte.

Tony hörte nur das erneute Krachen, achtete aber nicht weiter darauf, weil dem zweiten das dritte Krachen folgte, sodass sich schon ein gewisser Gewöhnungseffekt einzustellen begann.

Wesentlich erstaunlicher war nun die Aborigine-Frau, die hinter der Kochhütte hervorlugte und ihm zuwinkte.

Tony wusste nicht, was das sollte, aber es schien eine gute Idee zu sein, sich erst einmal aus dem Getümmel zu verziehen. Er zog den stöhnenden Alten mit sich und fragte sich zugleich, wie es nun weitergehen sollte.

Neben der ersten erschien nun eine zweite Frau, sie riefen etwas und winkten, und als Tony bei ihnen war, schoben sie ihn hinter die Hütten.

Plötzlich waren drei, vier Frauen um ihn, schoben ihn vorwärts, schrien und zeigten. Nein, dorthin wollte Tony gar nicht, aber die Frauen zwangen ihn, trieben ihn zu einem Pickup, einem verrosteten Wrack, das hinter einer Mauer von Ölfässern stand. Eine Tür wurde aufgerissen, ohne das Tony etwas tun konnte, wurde ihm der Alte von der Seite gezogen und auf die Ladefläche gelegt. Zugleich hoben ihn die Frauen mit erstaunlicher Kraft auf den Fahrersitz, dabei schrien sie unvermindert, plapperten und zeigten.

Der Schlüssel steckte. Tony startete den Wagen und schob krachend den Gang ein. Jetzt klatschten die Frauen und lachten. Tony gab Gas, zerbeulte ein Ölfass und lenkte dann den Wagen zwischen den Hütten hindurch.

Steele erkannte die Situation schneller als Tony.

»Los weiter«, schrie er Tony zu, griff nach der Türkante und ließ sich von dem Schwung des vorbeifahrenden Wagens auf die Ladefläche reißen.

Tony spielte Taxifahrer in Kairo, stemmte eine Hand auf den Hupenknopf und schaltete mit der anderen in den nächsten Gang. Der Wagen ruckte, schüttelte sich und sprang dann mit aufheulendem Motor vorwärts. Die Männer spritzten fluchend zur Seite.

Im zitternden Rückspiegel sah Tony noch eine hünenhafte Figur, unter deren blondiertem Haar nur eine rote Fläche war, die sich taumelnd aus dem Staub erhob.

Dann waren sie in der Steigung. Die Motorhaube wühlte sich in die weiche Erde, der Antrieb heulte.

Steele hämmerte wütend auf das Wagendach und schrie: »Untersetzung, verdammt«. Tony verstand gar nichts, zog aber instinktiv einen Hebel nach hinten und merkte das Rucken, das durch den Wagen lief. Eingehüllt in Staubfontänen fraß sich der Wagen die Böschung empor, sprang über die Kante und nahm den weiteren Weg unter die Räder.

Fortsetzung folgt …