Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 1

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837

Erstes Kapitel

Wie Jacob das Leben im Haus satthat und davon will

Von einem kleinen Mann will ich erzählen.

Er hieß Jacob Fingerlang und war auch in der Tat nicht viel länger als mein Finger. Man hätte ihn bequem in ein Zigarrenfutteral stecken, man hätte ihm eine Nussschale als Helm aufsetzen, ein Krebsgehäuse als Panzer umschnallen, einen Bleistift als Speer und einen Zahnstocher als Degen in die Hand geben können. Dabei aber war er von gar zierlichem Wuchs, hatte ein überaus liebliches Angesicht, sonnenhelle Augen, schneeweiße Zähnchen, Locken wie die feinste Spinnwebe und so flinke Gliedmaßen, dass es ihm nach Verhältnis niemand im Laufen, Springen und anderen solchen Dingen gleichtun konnte. Auch hatte er, so klein er war, doch Kopf und Herz am rechten Fleck und zeigte sich überall verständig, lernbegierig und fromm.

Jacob stand eines Tages auf dem Fenstergesims seiner ländlichen Wohnung und schaute durch die runden Scheiben nachdenklich hinaus auf die Dorfgasse.

Es war gerade ein recht duftender und blitzender Maimorgen, wo alles aus- und aufflog und jubilierte. Fink und Grasmücke musizierten, die Schwalben trugen zwitschernd zu Neste, die Spatzen aber wussten vollends vor Lust nicht zu bleiben und flatterten in ganzen Scharen mit Geschrei von Baum zu Baum.

Des Nachbars wohlbeleibter Kater schlich behaglich hinaus vor die Tür und legte sich in den Sonnenschein. Daneben ergötzten sich zwei Böcklein mit wunderlichen Sprüngen und wetzten im lustigen Zweikampf die aufgeschossenen Hörner.

Jetzt kam, vom Blasen des Hirten gerufen, das bunt gefleckte Vieh aus allen Ställen und zog mit Geläut springend und brüllend der fetten Weide zu. Des Müllers Hans trabte mit zwei Hengsten daher, sie wieherten vor Lust, und er hatte nur zu halten an ihnen.

Auch manche stattliche Reisekutsche sah unser Jacob auf der Landstraße vorbeirollen und nach unbekannten Ländern hineilen.

Es machte ihm aber all dieses heute keine Lust, sondern er war traurig und nachdenklich und sprach mit Seufzen bei sich selbst: Wie doch da draußen alles nach Herzenslust singt und springt und sich mit seinesgleichen vergnügt! Nur ich Armer muss hier einsam zu Hause bleiben und all die Lust und Herrlichkeit wie ein Gefangener hinter dem Fenster mit ansehen! Wann werde ich dieser ewigen Beaufsichtigung loswerden! Ich bin nun den Jahren nach schon längst als ein Erwachsener zu betrachten, dennoch hätschelt und hütet mich die gute Muhme wie ein Kind und lässt mich nicht zum Haus hinaus, damit mich ja nicht etwa ein Schwein fressen oder eine Kuh zertreten könnte. Statt etwas Tüchtiges lernen und treiben zu können, muss ich hier Tag für Tag Erbsen lesen, Bohnen schnippeln, Flecklein zupfen, Zwirn wickeln und was dergleichen herrliche Geschäfte mehr sind. Ja es ist gewiss hart, so klein zu sein, mitten unter großen Leuten! Der kleinste ABC-Schütze hier im Dorf dünkt sich noch was Rechtes zu sein gegen mich, und lacht, wenn er sieht, dass ich in einer Oblatenschachtel schlafe, aus einem Fingerhut trinke, und dass ich mich nicht einmal der Fliegen erwehren kann, die ungescheut auf meinem Teller herumspazieren, wenn ich Mahlzeit halte! Wenn ich in meinem Gärtlein (freilich nur eine alte Schüssel voll Erde) etwas ansäe, so wächst es mir gleich über den Kopf. Und so geht es mir in allen Dingen. Nein, ich halte es nicht länger aus, ich muss hinaus, ich muss hinaus aus der dumpfen Keuche, gehe es, wie es wolle, ehe bei dem engen, kümmerlichen Leben mir Leib und Seele vollends zugrunde geht!

In solchen Betrachtungen war Jacob versunken, als die Tür hinter ihm aufging und die Frau Muhme mit dem langen Gottlieb, ihrem Sohn, in die Stube trat.

Dieser Gottlieb war einst sein Spielgeselle gewesen, nun aber als ehrsamer Schneider auf der Wanderschaft begriffen, bei welcher Gelegenheit er seiner Mutter einen kurzen Besuch gemacht hatte.

Jetzt wollte er wieder fort. Der nahe bevorstehende Abschied hinderte den wackeren Burschen aber nicht, beim aufgetragenen Frühstück noch tapfer zuzulangen, sodass die gute Mutter, wie sie ihn so essen sah, erst recht gerührt wurde und einmal über das andere die Augen mit der Schürze abtrocknete.

Jacob tat es auch leid, ihn wieder fortziehen zu sehen, denn der Vetter hatte ihn, ungeachtet seiner derben Natur, immer schonend behandelt und durch seine lustigen Einfälle vielfach ergötzt. Er war aber, obgleich ihn dieser Vetter hieß, nicht mit ihm verwandt, sondern von dessen Vater, einem Matrosen aus fernen Landen, hierher gebracht worden. Woher und auf welche Weise konnte er nicht erfahren.

Als nun Gottlieb mit dem Frühstück aufgeräumt hatte, wandte er sich zu seinem kleinen Freund, hob ihn mit spitzen Fingern von der Fensterbank, küsste ihm das Lockenköpflein und nahm nach seiner scherzhaften Weise von ihm Abschied.

»Nun behüte dich Gott, Prinz Lilliput! Halte gut Haus und lass dir die Zeit nicht lang werden, bis wir uns wiedersehen. Dann sollst du wieder Wunderdinge von meinen Wanderungen hören, und ich bringe dir auch wohl ein paar ausgehöhlte Mandeln als Pantoffeln und eine Nürnberger Knackwursthaut als Zeug zu neuen Sommerhosen mit.«

Jacob, den sonst dergleichen Späße heimlich verdrossen, tat diesmal nicht dem also, sondern machte ein gar schelmisches Gesicht, erwiderte des Vetters Rede mit großer Freundlichkeit und sagte ihm mit wehmütigem Ton das letzte Lebewohl! Es war aber doch nicht so ernstlich damit gemeint, denn indes sich Gottlieb von ihm wandte, um die Mutter zu umarmen, schlüpfte mein Jacob behände und ohne Umstände in das Wanderbündel und kicherte, als ihn der Geselle nun aufhub und davon ging, vor Lust, den längst ersehnten Ausflug in die Welt mit so günstiger Gelegenheit ins Werk gesetzt zu sehen.

Die Muhme aber sah weinend dem abgehenden Sohn nach, solange wie sie konnte. Als er sich nun hinter den

Hecken verloren hatte, so schloss sie das Fenster wieder zu und rief den kleinen Jacob herbei, der schon so oft ihr Tröster im Leid gewesen war.

Heute aber ließ er vergeblich auf sich warten. Sie sah sich nach ihm um. Er war weder auf dem Gesimse noch auf dem Tisch, noch in seinem Garten!

»Jacob, wo bist du?«, rief sie einmal über das andere, indem sie die Reste des Frühstücks aufräumte. Kein Jacob antwortete. Nun wurde ihr bange, und sie begann jetzt gründlicher zu suchen, in der Brotschublade, wo er hineingefallen sein konnte, im nächststehenden Gemüsekorb, unter dem Tisch. Sie visitierte ihren Spinnrocken, in den er sich sonst bisweilen auch hineingemacht hatte, um mit ihr zu diskutieren, während sie spann. Da war nirgend etwas von ihm zu sehen noch zu hören!

Endlich nahm sie den Besen, kehrte das ganze Häuschen aus, zündete ein Licht an, setzte ihre Brille auf und suchte in allen Winkeln.

Jacob blieb unsichtbar. Als sie nun auch hinaus auf die Straße gegangen war und bei den Nachbarn vergeblich nach ihm gefragt und sich heiser gerufen hatte, fürchtete sie, dass ihm ein Anfall begegnet sein könnte, und jammerte und wusste vor Leidwesen nicht, wo aus, wo ein war.