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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 10.1

Das Bad der Fürstin Sonia

Vier Monate waren vergangen, seit Etienne Rambert vom Schwurgericht in Cahors freigesprochen worden war. Die Welt begann die Tragödie von Beaulieu zu vergessen, wie sie den geheimnisvollen Mord an Lord Beltham schon fast wieder vergessen hatte. Allein Juve ließ es nicht zu, die beiden Fälle als seine Tagesbeschäftigung aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Sicher, er hatte damit nicht mehr direkt etwas zu tun, und es gab auch keinerlei Anzeichen an einem Interesse an diesen Verbrechen mehr. Aber der Détective wusste sehr wohl, dass er es in beiden Fällen mit keinem normalen Mörder zu tun hatte. Er begnügte sich damit, im Schatten zu bleiben, in scheinbarer Inaktivität auf einige Pannen zu warten und zu beobachten, dass einige die Person oder Personen verraten, welche die zwei rätselhaftesten Morde begangen haben könnten, mit denen er es bisher zu tun gehabt hatte.

Der Juni neigte sich seinem Ende entgegen, und Paris begann sich zu leeren. Der Frühling kam in diesem Jahr spät und war kalt. Obwohl in wenigen Tagen der Monat Juli Einzug halten würde, blieb die Gesellschaft Frankreichs in der Hauptstadt des Landes. Luxuriös ausgestattete Wagen fuhren entlang der Champs Elysées, wenn sich das Publikum aus den Theatern und Konzertsälen ergoss. Modisch gekleidete Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen und versammelten sich vor den hell erleuchteten Cafés am Théâtre du Rond-Point. Selbst in dieser späten Stunde war die Champs Elysées belebter als in den geschäftigsten Stunden des Tages.

Im Royal Palace Hotel herrschte das größte Treiben. Das gesamte Personal eilte durch die weiten Eingangshallen und Prunkräume im Erdgeschoss. Es war die Stunde, in welcher die Gäste des Royal Palace Hotels von den Vergnügungen des Abends zurückkehrten. Die komfortablen Vestibüle des riesigen Hotels füllten sich mit Männern in Abendgarderobe, jungen Burschen in Smokings und Frauen in tief ausgeschnittenen Kleidern.

Eine junge und elegante Frau stieg aus einer perfekt ausgestatteten Viktoria. Monsieur Louis, der Personalchef, trat vor und verbeugte sich tief, um der Dame die höchste Ehrerbietung zu zollen. Diese antwortete mit einem freundlichen Lächeln, und Monsieur Louis rief einen Diener.

»Den Lift für Madame Fürstin Sonia Danidoff«. Und im nächsten Augenblick war die schöne Vision, welche bei dem Gang durch die Halle für Furore gesorgt hatte, im Aufzug verschwunden und wurde zu ihren Gemächern befördert.

Fürstin Sonia war eine der wichtigsten Kunden, die das Royal Palace Hotel besaß. Sie gehörte zu einer der größten Familien in der Welt, durch ihre Ehe mit Fürst Danidoff, Cousin des Zaren von Russland, mit vielen königlichen Persönlichkeiten verbunden. Immer noch knapp dreißig Jahre alt, war sie nicht hübsch, aber bemerkenswert schön, mit wunderschönen blauen Augen, die einen seltsamen und bezaubernden Kontrast zu den schwarzen Haaren bildeten, welche ihr Gesicht umrahmten. Als eine Frau von immensem Reichtum und eine typische Frau von Welt verbrachte die Prinzessin sechs Monate des Jahres in Paris, wo sie in den exklusivsten Kreisen eine weithin bekannte und sehr beliebte Persönlichkeit war. Sie war klug und kultiviert, eine erstklassige Musikerin. Ihr Ruf war makellos, obwohl es sehr selten war, dass sie von ihrem Ehemann begleitet wurde, dessen Aufgaben als Grand Chambellan des Zaren ihn fast ununterbrochen in Russland verweilen ließ. Während ihres Aufenthaltes in Paris bewohnte die Prinzessin eine Suite im dritten Stock des Royal Palace Hotel, welche konzeptionell und im Luxus denen jener Herrschaften entsprach, welche inkognito reisten.

Die Prinzessin schritt durch ihren Salon, ein riesiger, runder Raum mit einem herrlichen Blick auf den Arc de Triomphe und ging in das Schlafzimmer, wo sie das Licht einschaltete.

»Nadine«, rief sie mit ernster klangvoller Stimme.

Ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, sprang von einem niedrigen, in einer Ecke verborgenen Diwan auf.

»Nadine, nimm mir meinen Umhang ab und lockere mein Haar. Danach kannst du gehen. Es ist schon spät, und ich bin müde.«

Das kleine Dienstmädchen folgte den Anweisungen ihrer Herrin, half ihr in einen seidenen Schlafrock und lockerte ihre Haarpracht auf. Die Prinzessin fuhr mit einer Hand über ihre Augenbraue, als ob sie Kopfschmerzen wegwischen wollte.

»Bevor du gehst, lasse für mich noch ein Bad ein. Ich glaube, dass es mir gut tun wird.«

Zehn Minuten später schlich Nadine wie ein Schatten zurück und fand die Prinzessin träumerisch auf dem Balkon stehend vor. Mit tiefen Atemzügen atmete sie die reine Nachtluft ein.

Das Kind küsste die Fingerspitzen ihrer Herrin. »Ihr Bad ist eingelassen«, sagte sie und zog sich zurück.

Es waren einige Minuten vergangen, als Prinzessin Sonia, halb entkleidet, in ihr Ankleidezimmer ging, sich plötzlich umdrehte und geradewegs in die Mitte des Schlafzimmers begab, welches sie kurz zuvor verlassen hatte.

»Nadine«, rief sie, »bist du noch da?«

Sie bekam keine Antwort.

»Ich muss wohl geträumt haben«, murmelte die Prinzessin, »aber ich glaubte, jemanden gehört zu haben.«

Sonia Danidoff war nicht übermäßig nervös. Aber wie die meisten Menschen, welche viel allein und in großen Hotels leben, war sie es gewohnt, vorsichtig zu sein, und vergewisserte sich, dass sich keine verdächtige Person in ihren Zimmern aufhielt. Sie verschaffte sich einen raschen Überblick von ihrem Schlafzimmer, warf einen Blick in den hell erleuchteten Salon, wandte sich ihrem Bett zu und sah, dass die elektrische Klingeltafel, welche ihr es ermöglichte, einen ihrer oder einen Diener des Hotels zu rufen, völlig in Ordnung war. Zufrieden ging sie in ihr Ankleidezimmer, schlüpfte rasch aus ihrer restlichen Kleidung und tauchte in das parfümierte Wasser ihres Bades.

Voller Wonne genoss sie den Moment, als sich ihre müden Glieder nach einem langen Abend im warmen Wasser entspannten. Auf einem Tisch in der Nähe der Badewanne hatte sie einen Band mit alten Moskauer Volksmärchen gelegt. Sie wollte im abgedunkelten Licht einer Lampe in diesem Buch kurz etwas lesen, als erneut ein Geräusch zu vernehmen war. Sie setzte sich schnell im Wasser auf und sah sich um. Niemand war zu erkennen. Ein kleiner Schauer schüttelte die Prinzessin. Mit einem Lachen über ihre eigene Nervosität tauchte sie wieder ins warme Bad ein. Als sie mit dem Lesen fortsetzen wollte, drang plötzlich eine fremde Stimme, mit einem Ton von Bosheit, in ihr Ohr. Jemand blickte über ihre Schulter und las die Worte, welche sie gerade erst begonnen hatte, vor!

Bevor Sonia Danidoff Zeit hatte, um einen Schrei auszustoßen oder eine Bewegung zu machen, verschloss eine kräftige Hand ihre Lippen, und eine andere ergriff ihr Handgelenk, um sie davon abzuhalten, den Knopf der elektrischen Klingel zu erreichen, welcher zwischen den Wasserhähnen befestigt war. Die Prinzessin war einer Ohnmacht nahe. Sie erwartete so etwas wie einen furchtbaren Schlag, erwartete, eine schreckliche Waffe zu fühlen, die ihr das Leben, wenn sich der Druck auf ihre Lippen sowie der Griff um ihr Handgelenk allmählich lockerten, nehmen würde. Und im gleichen Moment hatte sich die mysteriöse Person, welche sie so überrumpeln konnte, um die Badewanne herum bewegt und stand nun direkt vor ihr.

Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren und sehr gut gekleidet. Ein perfekt geschnittener Smoking bewies, dass der seltsame Besucher kein schmutziger Bewohner in den Pariser Slums Paris war, kein Apache, wie die Prinzessin die furchterregenden Beschreibungen in den reißerisch illustrierten Zeitungen gelesen hatte.

Die Hände, die sie regungslos festgehalten hatten und ihr die Bewegungsfreiheit wieder zurückgegeben haben, waren weiß, gut manikürt und mit einigen einfachen Ringen geschmückt. Das Gesicht des Mannes war ein ausgezeichnetes, von einem sehr feinen schwarzen Bart umrandet. Seine Kahlköpfigkeit trug zu einer natürlich großen Stirn bei. Aber was die Prinzessin am meisten auffiel, obwohl sie wenig Mut aufbrachte, um den Mann sehr genau zu betrachten, war die anomale Größe seines Kopfes und die vielen Falten, die direkt über seinen Geheimratsecken im Anschluss an die Augenbrauen verliefen.

Instinktiv versuchte Sonia Danidoff schweigend und mit bebenden Lippen, die Klingel zu erreichen. Doch mit einer schnellen Bewegung ergriff der Mann ihre Schulter und hielt sie davon ab, dies zu tun. Ein rätselhaftes Lächeln umspielte die Lippen des Fremden, und mit erbostem Erröten tauchte Sonia Danidoff wieder in das milchige Wasser der Badewanne zurück.

Noch immer stand der Mann schweigend vor ihr. Endlich beherrschte die Prinzessin ihre Emotionen und sprach ihn an.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Gehen Sie sofort, oder ich werde um Hilfe rufen.«

»Vor allen Dingen, schreien Sie nicht so laut, oder Sie sind eine tote Frau!«, sagte der Fremde barsch. Ein kleines ironisches Achselzucken folgte. »Bezüglich des Klingelns – es würde nicht leicht sein. Sie müssten das Wasser verlassen, um es tun zu können! Und außerdem, ich bin dagegen.«

»Wenn es Geld oder Ringe sind, die Sie wollen«, sagte die Prinzessin mit zusammengepressten Zähnen, »dann nehmen Sie diese! Aber gehen Sie!«

Die Prinzessin legte mehrere Ringe und Armbänder auf den Tisch an ihrer Seite. Der Mann warf einen Blick auf diese, jedoch ohne viel Aufmerksamkeit darauf zu legen, was die Prinzessin sagte.

»Jener Schmuck ist nicht schlecht«, entgegnete er, »aber Ihr Siegelring ist viel feiner.« Ruhig nahm er die Hand der Prinzessin in die seine und untersuchte den Ring, welchen sie an ihrem Ringfinger trug. »Erschrecken Sie nicht«, fügte er hinzu, als er das Zittern ihrer Hand spürte. »Lassen Sie uns ein wenig plaudern, falls Sie nichts dagegen einzuwenden haben. Es gibt nichts Verführerisches als Juwelen, abgesehen von ihrer Persönlichkeit.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Ich meine, abgesehen von der Person, welche diese gewöhnlich trägt. Aber das Armband an einem Handgelenk, die Kette um einen Hals oder der Ring an einen Finger ist eine andere Sache!«

Prinzessin Sonia war so blass wie der Tod und völlig ratlos, um zu verstehen, was in diesen außergewöhnlichen Besucher gefahren ist. Sie hielt ihren Ringfinger hoch und machte eine ängstliche kleine Entschuldigung.

»Ich kann diesen Ring nicht abziehen. Er sitzt zu eng.«

Der Mann lachte grimmig.

»Das ist nicht weiter schlimm, Prinzessin. Wer es wollte, einen solchen Ring zu bekommen, könnte es ganz einfach tun.« Nachlässig tastete er seine Westentasche ab und holte ein Miniaturrasiermesser hervor, welches er öffnete. Er ließ die Klinge vor den erschreckten Augen der Prinzessin aufblitzen. »Mit einer scharfen Klinge wie diese könnte ein geschickter Mann den Finger in ein paar Sekunden abschneiden, welcher ein solch herrlichen Juwel trägt.« Als er sah, dass die Prinzessin in panischer Angst an einen Punkt angelangt war, um loszuschreien, legte er wie ein Blitz seine Handfläche über ihre Lippen und sprach zu ihr in sanften Tönen: »Bitte seien Sie nicht so erschrocken. Ich nehme an, Sie halten mich für einen gemeinen Hoteldieb oder Straßenräuber. Aber, Prinzessin, können wirklich glauben, dass ich nichts dergleichen bin?«

Der Ton des Mannes war so ernsthaft und ein ehrerbietiger Blick lag in seinen Augen, sodass die Prinzessin etwas von ihrem Mut wiedererlangte.

«Aber ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte sie halb fragend.

Um so besser, antwortete der Mann. Es hat noch Zeit, einander kennenzulernen. Ich weiß, wer Sie sind, und das ist die Hauptsache. Sie kennen mich noch nicht, Prinzessin? Nun, ich versichere Ihnen, dass ich mich bei vielen Gelegenheiten unter die glückliche Gesellschaft Ihrer Verehrer mische!«

Die Wut der Prinzessin stieg stetig mit ihrem Mut.

»Monsieur«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob Sie scherzen oder ernsthaft reden, aber Ihr Verhalten ist merkwürdig, gehässig, abscheulich …«

»Es ist lediglich originell, Prinzessin, und es freut mich, zu reflektieren, wie zufrieden ich gewesen war, Ihnen auf die gewöhnliche Weise in den einen oder anderen der vielen Salons, welche wir häufig aufsuchen, präsentiert zu werden. Sie hätten sicherlich weniger Notiz von mir genommen, wenn Sie mich heute Abend getroffen hätten. An der Persistenz Ihres Blickes erkenne ich, dass von diesem Tag an kein einziges Merkmal meines Gesichts Ihnen nicht vertraut sein wird. Ich bin überzeugt, dass, was auch immer geschieht, Sie sich für eine sehr lange Zeit daran erinnern werden.«

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