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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.11

Wo die Erde blutet – Teil 11

Tony hatte inzwischen etwas anderes entdeckt.

»Sag mal, das da hinten sieht aus wie ein Rolls?«, fragte er vorsichtig an.

»Sieht nicht nur so aus.«

Sie stiegen durch den Hindernisparcours aus Blech und Aluminium und standen dann vor dem gummibereiften Monument der spätkapitalistischen Klassengesellschaft. Tony Tanner empfand einen Anflug von Ehrfurcht, bis er die verheerenden Auswirkungen eifriger Bastelarbeit an diesem Glanzstück britischer Ingenieurkunst entdeckte.

Bevor er fragen konnte, hatte Pillbury seinen Blick richtig gedeutet.

»Da kommt eine Isotov rein«, erklärte er.

»Eine Iso … was?«

»Isotov. Russische Hubschrauberturbine. Hast du noch niemals beim Tractor-Pulling zugeschaut, Alter? Da fahren die stärksten Geräte sogar mit zwei Turbinen. Kriege ich aber leider nicht in die Karosserie rein.«

»Du willst mit diesem Rolls doch nicht etwa Gewichte durch den Schlamm ziehen, Pillbury?«

»Hab was viel Besseres vor. Ich fahre durch eine Radarfalle. Irgendwann um Mitternacht

-Wusch bin ich vorbei, oberhalb des Messbereiches. Damit kann ich den nationalen Rekord brechen.« »Und wo liegt der nationale Rekord.« »Keine Ahnung, war jedenfalls einer mit einem aufgemotzten Porsche.«

Jetzt sah Tony die Chance, endlich auf den Zweck seines Besuches zu sprechen zu kom­men. »So etwas wie einen aufgemotzten Porsche könnten ich jetzt auch brauchen«, erklärte er.

Pillbury war sofort ganz Ohr. »Kann ich dir besorgen, kein Problem, dauert nur eine Weile.«

»Eine Weile ist zu lange«, erklärte Tony Tanner, und dann zog er Pillbury ins Vertrauen und berichtete ihm einiges aus den vergangenen Stunden, wobei er den Diebstahl des Blazers besonders erklärtem was Pillbury jedoch »irgendwie cool« fand.

»Ist das krass, ihr habt also die Bullen und gleichzeitig die Mafia am Hals?«, fragte Pillbury schließlich bewundernd.

»Ich weiß nicht, ob es die Mafia ist. Jedenfalls eine Sorte von Menschen, die es mit dem Gesetz nicht so genau nehmen.«

»Genauso wie meine alten Kumpels Tony Tanner und Edmond Dorkas«, warf Pillbury fei­xend ein. Dann wurde er schlagartig ernst. Er kaute auf seiner Unterlippe, stieg schweigend zwischen Kurbelwellen und Ölfiltern umher und wirkte dabei wie ein missgelaunter, zerzaus­ter Storch. Nach einigem Kopfschütteln, leisem Brabbeln und Brauenrunzeln hellte sich seine Miene auf. Ohne auf Tonys fragenden Blick zu reagieren, ging er zu einem Uralt-Telefon, das an einer Wand hing, und führte ein Gespräch.

»Alles klaro«, sagte er schließlich zu Tony. »Ich hab meine Beziehungen spielen lassen.« Er nannte Tony eine Straße, die in nordwestlicher Richtung aus der Stadt führte. »Ihr seid um halb zwölf auf der Straße. Ihr werdet uns erkennen.« Pillburys Stimme bekam den energi­schen Unterton, der in mittelprächtigen Actionfilmen kultiviert wird. Selbst seine Haltung wurde straffer.

»Ich wiederhole: Zwo-Drei-Drei-Null. Exakt, wir können uns keine Fehler leisten. Jeder Fehler kann der Letzte sein. Noch was …« Pillbury spurtete in eine Ecke, wühlte in einem Karton und kam mit zwei Walky-Talkys zurück. Er stellte die Frequenz beider Geräte ein, prüfte die Batterien und überreichte das eine Gerät dem etwas verdutzten Tony Tanner.

»Die Dinger sind von einem Lastwagen gefallen«, erklärte Pillbury, »war ein Sonderangebot. Damit bleiben wir in Kontakt. Wir müssen regelmäßig die Frequenz wech­seln. Feind hört mit. Wenn ich den Befehl wechseln durchsage, wird dieser Knopf um eine Position weiter nach rechts gedreht. Ist das allen klar? Ich kann hier keine Versager brau­chen.«

»Knopf eine Position nach rechts«, wiederholte Tony artig. Pillbury fischte eine ganz ansehnliche Jacke aus einem Spind. Sie passte, und Tony Tanner schenkte ihm dafür großzü­gig den gelblichen Blazer, wobei Pillbury meinte, man könne gar nicht genug alte Lappen in der Werkstatt haben.

Als Tony schon aus der Halle war, hörte er seinen Namen rufen. Pillbury lief hin­ter ihm her. In der einen Hand schwenkte er einen Klumpen Packpapier.

»Hätte ich fast vergessen«, keuchte Pillbury und warf Tony den Klumpen in die Hand.

Der betrachtete angewidert das schmutzstarrende Papier, in dem sich ein schwerer Gegenstand verbarg.

»Was soll das?«, fragte er.

»Soll ich dir von deinem alten Kumpel Stalka geben. Mit den besten Grüßen.«

Stalka! Der Name erinnerte Tony an Erlebnisse, die weit zurückzuliegen schienen und die ihm manchmal noch so nah waren, dass er den Atem der Ereignisse förmlich spüren konnte.

»Stalka – wie geht es ihm?«, fragte Tony. Er musste sich überwinden, als könnte er mit der Erwähnung dieses Namens eine schützende Wand niederreißen, hinter der die Schrecken fins­terer Tunnel, stinkender Kanäle und brausender Abwasserströme lagen.

»Och, dem geht es eigentlich gut. Er sagt, sie haben ein bisschen Stress da unten. Irgendwas ist im Schwange, aber keiner weiß genau, was es ist. Er sagt, es tauchen Leute auf, die er noch nie gesehen hat. Miese Typen. Aber im Großen und Ganzen geht es ihm super. Er sagte mir, ich soll dir dieses Teil geben, es sei wichtig und du oder einer deiner Leute wüss­ten schon, was damit los ist. Alsdann, ich muss noch ein paar Sachen vorbereiten für die Party heute Nacht.«

Pillbury grüßte mit einem lässigen Antippen des Fingers an eine imaginäre Mütze und schlenderte zurück zur Halle.

 

Tony schaute ihm nach, dann befühlte er das Packpapier, konnte aber nicht feststellen, was für ein Gegenstand darin stecken mochte. Er wandte sich dem Tor zu. Die Nachrichten von Stalka waren beunruhigend. Er hatte zwar keine genaue Vorstellung, was sich dort unten, in dem Labyrinth der Schächte und Kanäle, abspielte. Aber schon eine Andeutung reichte, um wirre, nebelhafte Vorstellungen zu erwecken, eher Empfindungen als Bilder, die ihn nicht mehr losließen.

Die gesamte Zeit, während er mit Bus und Untergrundbahn zum vereinbarten Treffpunkt unterwegs war, bildeten diese Erinnerungen ein Hintergrundrauschen, ein ständiges Störgeräusch, das er nicht verdrängen konnte. Sie wurden drängender und eindringlicher, je heftiger er sich gegen sie wehrte. Sie wuchsen in seinem Nacken in die Höhe, bedrohlich wie eine Staumauer, hinter der unmessbare schwarze Fluten in schweigender Gelassenheit auf den ersten Riss, das erste Zeichen von Schwäche warteten.

»Sie sehen schlecht aus, Herr Tanner«, hörte Tony eine Stimme hinter sich. Er zuckte zusammen, fuhr herum und blickte in das besorgte Gesicht von Dorkas.

»Wenn Sie wie ich hier seit einer Stunde stehen würden, dann könnte auch Ihr äußerer Glanz leiden«, gab er unfreundlich zurück. Im Grunde freute er sich, endlich wieder in Gesellschaft zu sein und dadurch dem Mahlwerk seiner Erinnerungen zu entkommen. Auf der anderen Seite ärgerte er sich, dass er offensichtlich selbst von hinten gesehen einen bemer­kenswert schlechten Eindruck abgab.

Ziemlich ungnädig übergab er Dorkas das Paket, das er von Pillbury erhalten hatte.

»Es ist zwar an mich adressiert, aber ich vermute, Sie können mehr damit anfangen«, erklärte Tony.

»Bevor wir hier in die große Debatte einsteigen, fahren wir erst einmal eine Runde um den Block und suchen uns einen anderen Standort. Sie haben hier eine Weile herumgestanden, da ist es nicht gut, wenn wir anderen auch hier sind. Das ist eine Einladung für jeden, der hinter uns herschnüffelt. Wenn ich die Herren also bitten dürfte … übrigens – hübsche Jacke, Mr. Tanner«, höhnte ihm Jonathan Steele dazwischen.

 

Keiner hatte einen Einwand. Tony wurde erst jetzt bewusst, dass er tatsächlich auf dem Präsentierteller gestanden hatte.

»Wir sollten nicht gleich in Verfolgungswahn ausbrechen«, antwortete er dennoch mit einem instinktiven Anflug von Trotz gegenüber Steeles Befehlston.

»Stimmt, das müssen wir nicht«, konterte Steele trocken, »aber wir sollten Verfolgungswahn simulieren. So was kann das Leben nicht nur aufregender, sondern vor allem länger machen.«

Zu Tonys Erstaunen stand der weinrote Bentley Arnage an der Straßenecke, den er von ihrer Flucht aus der Kunstgalerie bestens kannte. Der Wagen glänzte, als käme er gerade aus der Werkshalle. Weder die Heckscheibe, die Steele selbst durchschossen hatte, noch der Kofferraum und die Kotflügel, in die sich die Projektile der Verfolger gebohrt hatten, zeigten jetzt irgendeine Beschädigung. Das Nobelauto wirkte, als hätte es gerade einen nagelneuen Maßanzug übergestreift.

Auf der Rückbank hockte Little wie ein Häuflein Elend und nuckelte mit einem Strohhalm Mineralwasser, in dem Aspirin aufgelöst war. Seine verquollenen Augen ebenso wie sein Gesichtsausdruck qualifizierten ihn als Werbeträger für eine Kampagne der Heilsarmee. Little hob nur müde die Hand zum Gruß, als sich Tony neben ihn setzte.

Zwar wollte Dorkas auf seinen gewohnten Sitz auf der Rückbank, aber Steele scheuchte ihn auf den vorderen Beifahrersitz.

»Wir dürfen jetzt keine Routine zeigen«, erklärte er knapp. »Jede Veränderung kann bei einem Verfolger Verwirrung stiften, und wenn es auch nur ein anderer Beifahrer ist.«

 

Tony sank in die weichen Polster und schloss kurz die Augen. Er war sich nicht sicher, ob er Steeles entschiedene Maßnahmen als Beruhigung und Erleichterung begrüßen oder ob er sich im Gegenteil bedrängt fühlen sollte. In diesem Moment erschien ihm Steeles Vorsicht als aufgesetzt und übertrieben, eine Möglichkeit für Steele, sich selbst zu produzieren. Dann dachte Tony an ihre Flucht aus der Galerie und an Steeles eiskalte Gelassenheit, mit der er sie rettete. Also war es im Moment wohl am Besten, sich widerspruchslos allen Anweisungen zu beugen.

Neben sich hörte er das Schnorkeln, mit dem Little seine Wasserdose leerte. Es folgte ein vergeblich unterdrücktes Rülpsen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Tony Tanner.

»Ich schätze, ich bin inzwischen runter auf ein Promille«, antwortete Little undeutlich nuschelnd. »Ich kann fast schon wieder gerade gucken.«

»Dann sollte Dorkas die Bratpfanne bereithalten, für den Fall der Fälle, dass Sie auch wie­der klar denken können.«

»Das wird noch eine Weile dauern, fürchte … äh, hoffe ich.«

»Ich habe jetzt auch ohne Bratpfanne genügend Material zum Zuschlagen«, sagte Dorkas vom Vordersitz aus.

Tatsächlich wirkte er ein wenig wie eine altertümliche Bäuerin, die schwer bepackt vom Markt zurückkommt. Auf seinem einen Schenkel ruhte der eingeschnürte Grand Albert samt der darauf angebrachten Staue des Hermes Trismegistos. Es folgte eine noch halb volle Trage mit Mineralwasserdosen, an die sich das Paket von Stalka anschloss. Damit war allerdings selbst die flächenmäßig beträchtliche Aufnahmekapazität der Dorkas’schen Schenkel erschöpft.

Der Wissenschaftler fühlte sich auf dem Beifahrersitz sichtlich unwohl. Immer wieder griff er mit einer Hand zu einer imaginären Notbremse, wenn Steele die bullige Beschleunigung des Wagens nutzte, um in eine Lücke im fließenden Verkehr zu gelangen.

Schließlich parkte er nicht weit von einem Straßencafé entfernt.

»Dort können wir uns für eine Weile aufhalten«, sagte Steele.

 

Dorkas setzte den Fuß mit derselben Begeisterung auf den Gehsteig, als hätte er eine Über­fahrt auf stürmischer See hinter sich. Nachdem er dieses Gefühl eine Weile genossen hatte, drückte er Tony den Grand Albert in die Hand.

»Passen Sie auf das Buch auf. Sonst könnte es sein, dass ich böse auf Sie werde. Ich kann es nicht erwarten, dieses Ding anzuschauen, das Sie mir mitgebracht haben!«

Auf dem Weg zum Café riss Dorkas die Verpackung auf und warf das Papier in einen Müllkorb. Dann hob er den metallenen Gegenstand hoch, den er ausgepackt hatte. Es war ein chromglänzendes, rundes, röhrenartiges Ding. An einigen Stellen war die Oberfläche matt. Einige vollkommene Bohrungen durchbrachen die Vollkommenheit der glatten Rundung.

Dorkas hob den Gegenstand mit der Ehrfurcht eines Priesters, der eine Monstranz hält, in die Höhe. Auf seinem Gesicht zeigte sich der Glanz der Verklärung.

»Das … das ist gigantisch«, flüsterte Dorkas.

»Ich bin beeindruckt«, sagte Tony Tanner. »Aber – was ist das für ein … ein gigantisches … Ding?«

Dorkas schaute ihn pikiert an. »Herr Tanner«, sagte er strafend, »Sie sollten wissen, dass die Phase der emotionalen Betroffenheit vor der Phase der rationalen Analyse liegt, aber kei­nesfalls mit jener Geringschätzung zu betrachten ist, die ich in Ihrem Votum glaube erkennen zu müssen!«

Damit legte er den Kopf schräg und betrachtete hingebungsvoll jenen Gegenstand, der ihm über den Weg Stalka – Pillbury – Tony Tanner zugekommen war.

Das ominöse Stück Metall stand in der Mitte des runden Tisches, umgeben von Teetassen und einer Teekanne (Dorkas und Tony Tanner), einer inzwischen leeren Tasse schwarzen Kaffees, neben der noch das ungenutzte Zuckerstück lag (Jeremy Steele), und zwei Gläsern, in denen sich Tomatensaft mit grünem Pfeffer befunden hatte (John Little).

 

Für eine kurze Zeit hatte sich die lockere, südländische Atmosphäre, die durch den Sonnenschein und das Sitzen in einem Straßencafé auch auf die Gesellschaft der vier Männer übertragen. Steele war nicht unbedingt der passende Partner für einen netten Plausch, aber er fuhr wenigstens für eine Weile die Giftstacheln seiner ständigen Wachsamkeit etwas ein, sodass Tony nicht mehr die Empfindung haben musste, einen zähnefletschenden Dobermann neben sich zu haben, der jeden Moment auf irgendeinen Gegner losstürzen könnte.

Dorkas hingegen war in besserer Stimmung als je in den letzten Tagen und auch Little tauchte aus seinem alkoholbedingten Tran wieder aus und entpuppte sich als ungeahnt unter­haltsamer Gesprächspartner, der sogar einige Geschichtchen über Suff und Partys an der Westküste zum Besten gab, die auf weitaus größere Kenntnisse in diesem Bereich schließen ließen, als Tony oder Dorkas dem Amerikaner zugetraut hätten.

Auf diese Weise verplemperten sie eine ganze Stunde auf das Angenehmste.

»Was ist denn überhaupt bei Ihrem Besuch bei diesem Typen herausgekommen? Hilft er uns?«, fragte Steele plötzlich.

Die Frage verblüffte Tony Tanner. Einerseits erinnerte sie ihn in unerfreulicher daran, dass dies hier kein zwangloses Treffen von Männerfreunden war, die bald wieder in ihren ebenso banalen wie erfreulich unspektakulären Alltag untertauchen würden. Und zum Zweiten wurde ihm bewusst, dass ihm bisher keiner diese so wichtige Frage gestellt hatte. Nun, der Blick, den Dorkas ihm zuwarf, signalisierte, dass der Wissenschaftler vollstes Vertrauen in Tonys diplomatische Fähigkeiten gesetzt hatte.

»Pillbury hilft uns heraus«, bestätigte Tony also die vorgefasste Meinung von Dorkas.

»Ist dieser Pillbury vertrauenswürdig?«

»Absolut«, hörte sich Tony Tanner sagen. Und schweigend ergänzte er, wenn es sich nicht gerade um die Bewachung von Bierdosen oder die Einhaltung von gesellschaftlich notwendi­gen Regeln handelt.

»Schön, und wie macht er das?«, forschte Steele weiter nach. Das Thema spiegelte sich in seiner ganzen Haltung wider. Kaum merkbar verlor er die Lässigkeit, mit der er eben noch auf seinem Stuhl gesessen hatte, und seine Blicke begannen, unruhig die Umgebung abzusuchen.

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, musste Tony zugeben. Jetzt, im Angesicht Jeremy Steeles, überkam ihn der Verdacht, schlampig gewesen zu sein. Ein Grund mehr, diesen Steele nicht zu mögen!

»Pillbury gab mir eine Adresse und eine Uhrzeit – 23 Uhr 30. Wir würden ihn schon erken­nen. Außerdem habe ich dieses Funkgerät, mit dem ich um die angegebene Zeit auf Empfang gehen soll.«

»Funkgeräte sind dazu da, um abgehört zu werden.«

»Wir haben ein System ausgemacht, nach dem wir die Frequenzen in unregelmäßigen Abständen wechseln«, erklärte Tony. Seine Erklärung klang etwas besser als das, was Pillbury ihm gesagt hatte, aber diese kleine Ausschmückung wäre sicherlich in Pillburys Sinne gewe­sen. Steele schürzte denn auch in merklicher Anerkennung die Lippen.

»Klingt ganz gut«, bekannte er. »Trotzdem, ich hasse, wenn ich mich fremden Menschen in Wohl und Wehe ausliefern muss.«

»Oh, das kann ich nachvollziehen«, bestätigte Tony mit übertriebenem Enthusiasmus. Ein Seitenblick verriet ihm nicht, ob Steele die Ironie bemerkt hatte. Jedenfalls verzog der keine Miene.

»Haben Sie denn wenigstens eine Idee, auf welche Weise uns dieser, dieser Pillbury aus der Stadt bringen will?«, forschte Steele weiter.

Tony musste passen. »Ich kann nur soviel sagen – Pillbury – also er arbeitet wohl noch daran, aber ich bin sicher, dass wir ihm vertrauen dürfen.«

Hier brach Dorkas in zustimmendes Nicken aus.

»… und seine Lösungen sind so wie er selbst.«

»Schön, und wie ist Pillbury?«

»Ähh, ja, er ist … eben … etwas …« Das war die Stimme von Dorkas. Der Wissenschaftler stockte, verstummte und versteckte sich hinter einem Räuspern, weil er nicht mehr weiter wusste. Tatsächlich konnte er sich Pillbury nur als Pillbury vorstellen. Homo sapiens cock­neyensis, ein Londoner Unikat.

»Pillbury ist ein Gentleman«, half ihm Tony Tanner aus der Verlegenheit.

Steele war unbeeindruckt, aber er hatte Gefallen an dem Versteckspiel.

»Ein Gentleman? Ich bin wirklich überwältigt. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass jährlich Tausende von Gentlemen aus aller Welt nach Thailand fliegen, um dort Minderjährige zu vögeln. Was ich damit sagen will – Gentleman ist für mich kein Qualitätsmaßstab.« Jeremy Steele ließ in einer Anwandlung von Boshaftigkeit einen klirrenden irischen Slang hören.

»Sie sind eben kein … Engländer«, begehrte Tony Tanner auf, vergeblich bemüht, den pat­zigen Ton aus seiner Stimme zu tilgen. In diesem Augenblick fühlte er sich in seinen inners­ten Werten getroffen. Allerdings wäre es anders gewesen, wenn sie über Daniel Heathercroft gesprochen hätte, der sich selbst eindeutig als tausendprozentiger Gentleman definierte und in Tonys Überzeugung das unschlagbare akademische Beispiel für ein hypergeiles, arrogantes, schleimiges End-Arschloch abgab.

»Wir können davon ausgehen, dass Pillbury … unkonventionell vorgeht. Er ist in seiner Art etwas exzentrisch.«

»Unkonventionell ist immer gut«, schnarrte Steele. »Alles, was uns dorthin bringt, wo man uns nicht erwartet, ist gut. Nun denn, warten wir die Sache also einfach ab!«

Tony erhob sich.

»Ich muss mal eben telefonieren«, erklärte er.«

»Kein Handy«, kam es sofort von Steele. »Zu leicht abzuhören. Außerdem kann man Ihre Position schnell feststellen.«

»Dann werde ich die Sex-Nummer eben über Festnetz anrufen«, blaffte Tony und ging in das Café.

 

Das Mädchen hinter der Theke wies Tony mit einer Daumenbewegung zur Telefonzelle. Sie war hübsch – klein, hell, blond, die Haare im Nacken geknotet. Hinter ihr war eine Spiegelwand und darin sah sich Tony selbst, neben der Rückansicht des Mädchens. Sie hatte unter ihrem weißen Kittel einen perfekt zur Figur passenden Po.

Tony blies die Backen auf und wandte sich zur Telefonzelle. Das Mädchen klapperte mit einer Tasse, dann zischte die Espressomaschine.

Du hast sie nicht beeindruckt, sagte Tony zu sich selbst. Und du kannst es ihr nicht mal übel nehmen. Wenn du wirklich so aussiehst, wie eben im Spiegel – für solche Typen wurden Callgirls oder Klöster geschaffen.

Er stellte sich in die Telefonzelle und klappte die mehrteilige Tür zu. Das Zischen der Espressomaschine und die Gesprächsfetzen der Gäste waren ausgesperrt. Die Situation hatte Tony Tanner schon immer verabscheut – diese Abgeschlossenheit in dieser schallgedämpften Zelle, in der man so allein war wie auf einem fremden Planeten. In der Enge der Zelle roch er den süßlichen Mief, den Pillburys Jackett verströmte.

Er hörte die Münze fallen, nahm den Hörer ab, aus dem das auffordernde Tuten erklang. Seine Finger tippten automatisch die Nummer seiner Eltern.

Mit klopfendem Herzen lauschte er auf das Freizeichen. Blöde, diese Telefonzelle mach­te alles so dramatisch, als wäre man in einem alten Schwarz-Weiß-Film, in dem gerade der Schnüffler den entscheidenden Hinweis erwartet.

»Hier bei Tanner?«

»Oh mein Gott«, entfuhr es Tony. Die Luft zischte aus seiner Lunge, als hätte er gerade einen Faustschlag von Herbie-Hide-Format kassiert.

Francine!

»Ja, bitte?«, kam es etwas ungeduldig aus dem Hörer.

Mein Gott, diese Stimme, diese Stimme, die er ebenso genau kannte wie den Duft ihrer Haare, den Geschmack ihres Schweißes, die Weichheit ihrer Haut unter den Fingerspitzen. Diese Stimme, die er schmeichelnd, bettelnd, bestimmend, fragend, Lust stöhnend, Hilfe suchend kannte …

Tony Tanner schnappte nach Luft, als wäre er zu lange unter Wasser geblieben. Ein gewal­tiger Schmerz, eine Explosion in seinem Herzen, eine Invasion schwirrender, schnarrender Heuschrecken in seinem Bauch, bitter und süß zugleich, eine Pyramide voller widerwärtig kitschiger Vokabeln, in Halblicht bei Rosenduft zu stammeln und doch alles so wunderbar wahr und wirklich.

Den Hörer auf Armlänge gehalten, räusperte sich Tony ausführlich, bevor er sprach.

»Guten Tag. Kann ich bitte meinen Vater sprechen?«

»Ihren Vater? Sicherlich, einen Moment …« Rauschen in der Leitung, Stille, herzklopfen­des Warten. Konnte sie das? Konnte sie ihn derart kalt abservieren? Dann hatte sie einen Neuen. Francine hatte einen neuen Kerl, oh verflucht, ich gönne keinem Menschen auf dieser Welt, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gleich welcher Rasse und Geschlecht das Gefühl, dass Francines Finger über seinen Nacken fahren, dass Francines Fingernägel wie Perlen über seinen Rücken gleiten, ich gönne

Rauschen in der Leitung. Klappern im Hörer, er wurde auf der anderen Seite schnell auf­genommen. Ja, sein alter Herr hatte eben immer noch Energie.

»Ihren Vater? Bist du das, Tony? Tony! Verzeihung, dass ich deine Stimme nicht sofort erkannt hatte, ich konnte es einfach nicht glauben, Verzeihung, ich bin ein bisschen, ich stehe gerade ein bisschen neben mir, Tony, wie schön dich zu hören!«

Tony Tanner lehnte sich an die Wand. Seine Beine zitterten ein wenig. Es war das köstli­che Gefühl, als wäre er gerade aus einer Achterbahn gestiegen. Sie freute sich, ihn zu hören. Mehr noch, Francine war total aus dem Häuschen. Er konnte es förmlich hören, wie sie neben dem Telefon hüpfte, vor Freude kleine Kieckser ausstieß und begann, Locken in das Kabel zu drehen.

Jetzt war es an der Zeit, den Charme heraushängen zu lassen, aber nicht zu offensichtlich. Mittleres Interesse, lange Leine, Mann will sich ja nichts vergeben.

»Ja, schön dich zu hören, Francine. Wir hatten ja wirklich eine ganze Weile Funkstille.«

»In der Tat, ja … Ich hatte vor langer Zeit auf deinen Anrufbeantworter gesprochen, aber du hast dich ja nicht gemeldet. Um ehrlich zu sein, habe ich zwischendurch immer mal wie­der versucht. Ich musste nur aufpassen, damit deine Mama mich nicht erwischte. Die sagt immer, lass den Kerl erst mal zappeln …«

Francine kicherte verschwörerisch, und Tony konnte nichts anders, er musste in dieses Kichern einstimmen und schon waren sie wieder ganz nahe beisammen, sie beide gegen den Rest der Welt. Diese Frau wickelt dich um den Finger, warnte ihn sein männlicher Überlebens­sinn, obwohl er sicher sein konnte, dass er längst schon verloren hatte.

Das Bild stand zu deutlich vor Tonys Augen. Francine war immer noch ein Teil seines Lebens und nun wusste er, wie sie neben dem Telefon stand, den Kopf leicht zur Schulter geneigt, mit der Oberlippe (weiße, kleine Zähne, perfekt) an der Unterlippe (rosenrot, geschwungen, weich, perfekt) nagte, dabei mit dem linken Fuß (klein, geschwungen, gepflegt, Nagellack in Pastellfarbe, perfekt) über ihre rechte Wade (schmal, glatt, wohlge­formt, perfekt) strich und mit ihren Fingern das Kabel knetete oder eine Haarsträhne einer Locke drehte.

Süß. Ein Klasseweib. Supersonderextremsüß.

»Ja, Mama hat ihre Prinzipien. Aber du kannst sicher sein, dass sie mich bearbeitet hat, um … na ja, du weißt schon.«

»Ja, ich weiß.«

»Ach, du weißt?«

»Nun ja, sie hat es mir zwischendurch mal erzählt. Kann sogar sein, dass ich mal gefragt habe …«

Francines Stimme bekam einen ganz weichen Klang.

»Du hast doch nicht etwa die Nummer gewechselt. Ich meine bloß, weil ich dich nie errei­chen konnte.«

»Nein, nein, ich habe immer noch diesselbe Nummer, die wir freuen … äh,« beeilte sich Tony zu versichern. Er war ein wenig aus dem Konzept gebracht. Alter Charmebolzen, beherrsche dich!

»Ja, es war eben so, dass ich ziemlich in der Weltgeschichte unterwegs war, mal beruflich, mal privat …«

»Ach so … privat.«

»Nun ja, privat kann man so eigentlich nicht sagen. Im Auftrag und nicht zum Vergnügen war es, aber das Büro hatte nichts damit zu tun.«

»Ach so … daher also die Funkstille. Na ja …« Rauschen in der Leitung.

»Und sonst?«

Jauchzet, frohlocket – und sonst bedeutet im internationalen Mann-Frau-Code-System nichts anders als: Hast du eine neue Freundin und wenn es so ist, sage es mir bitte schonend.

 

Tony Tanner wackelte mit dem Kopf und fletschte triumphierend die Zähne. Eine ältere Dame, die auf dem Weg zur Toilette vorbeikam, schaute ihn entgeistert an.

Francine, ich habe dich! Ich könnte mit den Fingern schnippen und du würdest sofort kommen, um mir den Nacken und sonst was zu massieren.

Jetzt galt es nur, den Triumph in der Stimme nicht durchklingen zu lassen. Gelassen blei­ben.

»Sonst? Och, das Übliche …«

»Keine wesentlichen Veränderungen?«

»Nichts Wesentliches, nein.«

»Und sonstige Veränderungen?«

Francine, du reitest ja eine Attacke wie die schwere Kavallerie! Du verkaufst dich unter Wert, selbst wenn du dich einem Tony Tanner an den Hals wirfst.

»Doch, leider.«

Rauschen in der Leitung, Stille, aus der er die Nervosität Francines wie Schweißperlen tropfen spürte.

»Und, was ist es? Oh Tony, nun spann mich doch nicht auf die Folter, verdammt, soll ich mich als Paket verschnürt bei dir zu Hause abgeben lassen oder nackt aus der Torte springen oder wie? Ein klein wenig Selbstwertgefühl kannst du mir schon lassen.«

»Ich bekomme graue Haare an den Schläfen.«

Sie lachte ihr unnachahmliches Lachen, frei und zugleich kehlig, warm und irgendwie mollig, sodass Tony es heimlich immer mit einem schönen Busen unter einem Mohairpullover verglichen hatte. Aber er konnte auch die Veränderung hören, oder besser, er war als einziger Mann auf der Welt in der Lage, diese Veränderung zu empfinden: Zuerst war diese Lachen pure Erleichterung und dann begann es seine Selbstvergessenheit zu verlieren und wurde ein wenig kokett und war ein Lachen, das sich selbst im Spiegel betrachtet und sich fragt Bin ich schön für dich.

»Schlechte Pflege, Tony. So was kommt von so was.«

»Wird wohl sein.«

»Mach dir nichts draus. Du bist der Typ, der mit dem Alter attraktiver wird. Dein Vater ist ja auch noch sehr annehmbar.«

»Nun mach mich nicht eifersüchtig.« Hoppla, das war Tony so rausgerutscht. Am liebsten hätte er gerufen: Aus dem Protokoll streichen.

»Könnte ich das denn noch, Tony?«

Klar doch, auf so eine Vorlage steigt Francine voll ein. Was nun? Abbiegen oder ignorie­ren?

Ignorieren!

»Sag mal, du warst eben so außer Atem, bist du zum Telefon gerannt?«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Tony. (Stimmt, will ich aber auch nicht!) Aber da du so sehr um meine Lungenfunktion besorgt bist, (du süßes Miststück, ich weiß, dass du weißt, dass ich ablenke!) kann ich dir mitteilen, dass ich gerade vom Joggen komme. Nach der … ähh, ja, nach der Geburt war ich ein wenig aus der Form geraten. Ich sage nur Hefekuchen. Aber das ist vorbei. Ich bin besser in Form denn je. Außerdem, ganz unter uns

– keine Spur von Schwangerschaftsstreifen. Deine Mutter hat mir so eine Salbe besorgt, mit der ich mich jeden Morgen und jeden Abend einreibe …«

Damit war Francine ein Volltreffer gelungen. Die Vorstellung, dass sie sich, sorgfältig und hingegeben, mit irgendeiner Creme massierte, war geeignet, Tonys Hormonhaushalt in beträchtliches Ungleichgewicht zu bringen. Das Bild ihrer Fingerspitzen, die über ihre leicht glänzende Haut mit den kaum sichtbaren blonden Härchen glitten, stand vor ihm wie ein Wahlplakat und verlangte äußerste Disziplin, bis es sich wieder verflüchtigte. Tony räusperte sich ausführlich.

»Hast du einen Frosch im Hals?«, kam es neckisch von der anderen Seite. Francine spür­te den Nachhall ihres Volltreffers sehr genau. Und wie die Sache lag, musste sich Tony jetzt auch das spöttische Lächeln vorstellen, zu dem sich ihre perfekt geformten Lippen und so weiter und so fort.

»Das mit der Figur glaube ich nicht«, sagte er und taperte genau auf dem Weg, den ihm seine Ex-(?)-Liebste gewiesen hatte.

Er kannte ihre Antwort schon, bevor er sie hörte.

»Du kannst dich ja selbst überzeugen, du ungläubiger Thomas.«

»Kann ich das?« Der Schlenker war zwar überflüssig, aber zum Erhalt seines Selbstbewusstseins notwendig.

Francine gab sich keine Mühe, die Sache unnötig zu komplizieren. Eine Trennung bedeu­tet noch nicht, dass man alles vergisst, was man über den Menschen gelernt hat, mit dem man seine Jahre verbrachte. Und indem sie genau das tat, was er forderte, oder vielmehr erhoffte, zeigte sie ihre Überlegenheit – Tony Tanner wusste das sehr wohl. Und Francine ebenso.

»Oh, Tony, du bist immer willkommen. Nein, ich werde mich jetzt nicht völlig offenba­ren und die Wendung heiß ersehnt nutzen. Aber wenn du kommst, kriegst du garantiert eine Tasse Tee und darfst meinen Busen antatschen, versprochen.«

»Mich juckt es förmlich in den Fingern. Aber – du bist ja jetzt nicht mehr allein.«

»Ja, ich bin jetzt selbst Mama. Und ich finde es wirklich fantastisch. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich deswegen aufhöre, eine Frau zu sein. Ich meine, nur Muttertier ist auf die Dauer auch nicht so prickelnd.«

»Klingt überzeugend.«

»Ich könnte dir meine Lebensauffassung sicherlich persönlich besser erläutern als am Telefon.«

Tony scharrte mit den Schuhsohlen auf dem Boden. Am liebsten wäre er sofort losgerannt.

»Das Problem ist«, sagte er dann, und das Bedauern in seiner Stimme war sowohl echt als auch tränenanrühend deutlich, »dass ich heute wieder abreise. Ich hoffe, es dauert nicht so lange. Und dann stehe ich bei dir auf der Matte.«

Francine stieß einen kleinen, völlig ungekünstelten Jubelschrei aus. Der Triumph der Diana, die einen kapitalen Hirsch erlegt hat.

»Darf ich das als Versprechen in mein Tagebuch schreiben?«

»Ich bestehe darauf.«

»Und du meldest dich zwischendurch … bitte, bitte?«

»Ja, mach ich, aber jetzt muss ich Schluss machen, sonst ist mein Kleingeld futsch.«

»Ist das Tony?« Im Hintergrund hörte Tony Tanner die herannahende Stimme seines Vaters, die dann den Hörer übernahm. »Tony? Bist du gesund, Junge? Hör her, ich sage dir eine Telefonnummer, die angeblich wichtig ist, dein Büro hat sie hier hinterlassen, sag mal, was ist da los, dein Boss hat mir da so ein paar Andeutungen, also hör zu, du hast doch was zum Schreiben …«

Tony Tanner notierte die Nummer, murmelte ein paar Erklärungen, richtete Grüße an seine Mutter aus, verabschiedete sich, und schließlich legte er auf.

 

Tony musste tief durchatmen. Sein Leben begann eine neue Dimension zu bekommen. Die Francine-Dimension. Ein Puls von hundertachtzig kann nicht lügen. Sie hatte ihn verlas­sen und jetzt kratzte sie wieder an seiner Tür. Tony Tanner war geneigt, sie einzulassen, selbst mit ihrem blöden Balg, an den er sich schon gewöhnen würde, zumal er den mütterlichen Luxuskörpern nicht mit Schwangerschaftsstreifen verunziert hatte. Seine Mutter würde ihn dafür noch mehr lieben als jemals zuvor.

Unschlüssig wedelte Tony Tanner mit dem Zettel, auf dem er die Telefonnummer notiert hatte. Sollte er? Undeutlich warnte ihn ein Instinkt, dass ein Anruf Ärger bedeuten konnte. Er wischte diese Vorahnungen ärgerlich beiseite und wählte die Nummer. Es dauerte lange, bis die Verbindung stand, dann lauschte er dem Freizeichen und sagte sich von Sekunde zu Sekunde, dass er nun auflegen würde und dass damit die Angelegenheit endgültig vom Tisch wäre.

Noch eine Sekunde, noch eine, jetzt aber, noch eine, aber jetzt und …

»Hallo?«

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit entwich die Luft aus Tony Tanners Lunge.

Das war Lucille Chaudieu. Er hatte ihre Existenz … und alles, was damit zusammenhing … in den letzten Minuten erfolgreich verdrängt. Nun hatte er wieder dieses Organ im Ohr, tief, samten, eine Stimme wie ein leeres Buch, in das sich ein Mann tausend Psalmen der Verlockung dichten kann. Und mit ihrer Stimme war sie wieder ganz nahe bei ihm, ihre dunk­len, forschenden Augen, ihre seltsame, hinreißende Mischung aus offensichtlicher Unabhängigkeit, sogar Widerborstigkeit und dem Versprechen von grenzenloser Hingabe.

»Tony Tanner hier«, brachte er heraus.

»Tony. Welch ein Glück, dass du mich noch erreicht hast«, gurrte sie. Sie musste an einem Flughafen sein, denn ich Hintergrund vernahm er Lautsprecherdurchsagen und leise das Aufheulen von Flugzeugturbinen. Das war eine andere Welt als ein Garten mit Hunden und Kindern und es war die Welt, in der sich Tony Tanner so lange zu Hause gefühlt hatte. Wenn er noch in der Lage gewesen wäre, es zu fühlen, so hätte er jetzt einen weiteren Stich ins Herz gespürt.

»Ich habe die Nummer eben erst bekommen …«

»Ja, ich habe ein neues Handy, du weißt, wie das ist mit den Dingern, früher vergaß man Regenschirme … ich rief dein Büro an, weil ich sonst nicht wusste, wie ich an dich herankom­men sollte.«

»An mich herankommen? Nun ja, wie du merkst, hat es funktioniert mit der Übergabe dei­ner neuen Nummer, auch um ein paar Ecken. Eigentlich sollten wir uns ja treffen, wenn ich richtig informiert bin?«

»Ja doch, ich weiß, ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Aber dann wurde der gesamte Flugplan geändert und außerdem muss ich in den nächsten Tagen zu einem wichtigen Termin …« »Sag doch einfach, dass du mich versetzt.« Aus taktischen Gründen hielt es Tony nicht für angemessen, zu erwähnen, dass er seinerseits das Treffen abgesagt hätte.

»Oh, ich spüre, wie dein Herz blutet (sie sagte ‘erz, und der fehlende Anhauch gab dem Wort jenen allerletzten Schmelz, der Tony Tanner wie ein Blattschuss traf), aber es blutet auch meines. Wirklich ich hatte mich gefreut. (Irgendwas kommt jetzt noch, dachte Tony und zog den Nacken ein. Sie ist nicht der Typ, der Gefühle äußert, ohne sofort den Stachel zu zeigen. Und es kam tatsächlich.) Schöne Frauen wirken neben hässlichen Männern eben immer am besten.«

»Das mit dem hässlichen Mann kann hinkommen, aber das andere …?«, konterte Tony sofort.

Ohne sich zu sehen, hatten sie nach wenigen Sekunden wieder zu sich gefunden, hatten denselben Tonfall, dieselbe Vertrautheit, als wären sie nie getrennt gewesen.

Es ist genau wie bei Francine – dieser Gedanke rammte sich wie ein Schiffsbug in die wei­che Flanke von Tonys Hochstimmung und versetzte ihn in Verwirrung.

»Ich liebe die britische Galanterie, sie hat sich seit dem Hundertjährigen Krieg kein biss­chen verändert«, und dann lachte Lucille, so wie sie damals gelacht hatte, als sie sich in Bombay auf dem Gartenfest von Matanka zum ersten Mal getroffen hatten.

Ihre Stimme erinnerte Tony plötzlich an ein schweres, orientalisches Parfüm – rauschen­de Seide, Boudoirs, eine geheimnisvolle Schöne wartend in einem Abteil eines Zuges, der durch die Nacht eilt auf dem Weg zu unbekannten Zielen, von denen man nur weiß, dass sie köstlich und unerreichbar sind. Francines Stimme dagegen, die er eben noch im Ohr gehabt hatte, war ebenfalls wie ihr Parfüm – hell, mädchenhaft, voller frischem Blumenduft, voller Sommermorgen und duftigem Wind, der geblümte Vorhänge bauscht.

»Scheint so, als wäre das Schicksal gegen uns«, sagte Tony. Es hatte etwas von einer Beschwörung oder einem Gottesurteil. Ein Garten auf dem Lande oder …?

»Im Gegenteil, mon Cher. Wie kannst du nur so etwas sagen? Schließlich sprechen wir miteinander. Und wenn man miteinander spricht, ist alles möglich.«

»Zum Beispiel, dass einem die Münzen ausgehen.«

»Wenn es nicht mehr ist. Pass auf, ruf mich in der nächsten Woche an. Ich muss jetzt Schluss machen. Mein Flug geht gleich und meine Strumpfhose sitzt nicht richtig, da muss ich nachhelfen. Also, bis dann.«

»Bis dann«, sagte Tony zu dem quäkenden Dauerton. Hätte er besser nicht anrufen sollen? Eben, als er den Anruf bei Francine beendet hatte, war sein Leben einfach und klar gewesen, zum ersten Mal seit langer Zeit. Jetzt war er wieder in einem Zustand der Verwirrung, aber Tony gestand sich ein, dass es eine durchaus köstliche Verwirrung war, die er durchaus zu genießen imstande war. Sorgfältig steckte er den Zettel mit Lucilles Nummer weg, nicht ohne sie vorher auswendig gelernt zu haben.

 

»Sie sehen besser als denn je in den letzten Tagen«, sagte Dorkas, als Tony zurück an ihren Tisch trat. »Ich wusste gar nicht, dass Telefonzellen als Jungbrunnnen taugen?«

Tony rieb sich lächelnd die Hände.

»Das liegt daran, dass sie niemals Sexnummern anrufen.« Er erntete Heiterkeit, allerdings war er der Einzige, der die feine Doppeldeutigkeit seines Satzes wirklich zu schätzen wusste.

»Und nun ist der Betroffenheit genug«, fuhr Tony fort. »Frisch ans Werk, Dorkas und dem Volke erklärt, welches wundersame Geheimnis sich hinter diesem Metallteil verbirgt.«

Dorkas geriet ein wenig in Verlegenheit. Er wollte sich mit ausgreifender Bewegung den Kopf kratzen, berührte dabei die Schulter einer jungen Frau am Nebentisch und musste erst einmal aufspringen, um sich zu entschuldigen, wobei er mit seinen gut gepolsterten Hüften den Tisch fast zum Umstürzen brachte. Es dauerte eine Weile, bis sich die Situation beruhigt und sich Dorkas’ Gesichtsfarbe wieder normalisiert hatte.

»Ja, also«, begann Dorkas zögernd, »es ist offensichtlich, dass dieser Gegenstand aus neuerer Zeit stammt, auch wenn ich mich auf keine Datierung festlegen will. Ebenso offen­sichtlich ist, dass er nach archaischen Vorlagen gefertigt worden sein muss, sodass wir also ohne Zweifel von Symbolhaltigkeit ausgehen können. Der Gegenstand ist uns nicht ohne wichtigen Grund zugespielt worden!«

Dorkas erlaubte sich eine Pause, die auch ein wenig von der Absicht bestimmt war, seine bedeutungsschwangeren Worte so recht nachklingen zu lassen.

»Nun,« fuhr er fort, »wenn wir also unter diesen Voraussetzungen den röhrenartigen Charakter des fraglichen Gegenstandes in Betrachtung nehmen, so fällt sofort die Doppeldeutigkeit der Röhre an sich auf, insofern sie zugleich ein Enthaltendes und ein Entleerendes ist, wobei das Entleerende zugleich eine Funktion des Dritten, nämlich des Aufnehmenden ist, ohne das beide anderen ihre Existenz verlören. Wir können also in dem besagten Röhrenartigen ohne Zweifel ein Symbol des ständigen Wechsels als das universa­le Prinzip des Universums erkennen, oder, um es noch genauer zu sagen, hier wird uns auf kongeniale Weise Verharren und Veränderung als wechselseitige Bedingungen des Seins vor Augen geführt, wir haben es mithin mit einem Ouroboros-Zeichen abgewandelter Art zu tun, also mit jener Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt und in ihrem Kreis das Universum umfasst. Habe ich mich einigermaßen deutlich ausgedrückt?«

Wenn Schweigen Zustimmung signalisiert, konnte Dorkas seine Frage als bejaht ansehen. Drei gänzlich verständnislose Gesichter am Tisch gaben allerdings eine andere Antwort. Dorkas rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl.

»Vergessen wir über der universalen Bedeutung auch nicht die magisch-esoterische, inso­fern hier sowohl der Stab, als das Füllende, wie auch der Kelch, als das Empfangende in einem Objekt auf kunstreiche Weise vereint vorzufinden sind und …»

Dorkas Stimme wurde immer leiser, bis sie verstummte. Der Wissenschaftler sackte ein wenig in sich zusammen, bis er wie eine Schildkröte wirkte, die ihren Kopf in einen nicht vor­handenen Panzer einziehen wollte.

»Hat einer eine andere Idee?«, fragte er schließlich kleinlaut.

»Ich glaube, ich habe solche Teile in der Werkstatt von Pillbury gesehen«, schlug Tony Tanner vor.

»Könnte ein Teil einer Waffe sein. Die Jugoslawen und die Nordkoreaner bauen ihre Geräte mit solchen einfachen, aber robusten Einzelteilen, allerdings sieht mir das verchromt aus …«, meldete sich Jeremy Steele.

Eine Weile sagte keiner ein Wort.

Dann erklang die Stimme von John Little.

»Das ist ein Teil von einer New Yorker Klosettspülung. Hier, an der Seite, in der Bohrung, da sitzt der Abzugshebel, und dann gehts: Wusch!« Little deutete die Bewegung mit den Händen an und ahmte das Geräusch der Wasserspülung nach.

Dorkas fuhr in die Höhe und schaute ihn entgeistert an.

»Sie sind hoffentlich noch betrunken«, stammelte er.

»Bin ich. Aber trotzdem sehe ich, was ich sehe. Ich hab mal zugeschaut, wie ein Kumpel von mir so einen Druckspüler auseinandergenommen hat. Und darum sage ich Ihnen – die­ses Teil da, ist nichts anderes als ein Stück von einer Klospülung aus New York!«

Dorkas starrte stumm vor sich hin, seine Lippen zitterten. Steele beobachtete die Straße, Little senkte schuldbewusst den Kopf, und Tony Tanner betrachtete seine Fingernägel.

»Nun gut«, murmelte Dorkas nach einer Weile, »abschließend sei mir die Frage erlaubt, welchen Sinn diese Gabe dann hatte. Wenn es darum ging, mich als Trottel bloßzustellen, war der Erfolg wohl ausreichend. Aber das hätte man auch einfacher haben können.«

Wortlos schüttelte Tony Tanner den Kopf. Auch er verstand nicht, warum ihm Stalka einen solchen Gegenstand hatte zukommen lassen. Das Metallteil hatte an sich keinen Wert. Sollte Stalka sich getäuscht haben, dachte er, dass dieser Gegenstand für Tony Bedeutung haben könnte? Nein, nach kurzer Überlegung war sich Tony sicher, dass diese Möglichkeit nicht in Betracht kam. Stalka wusste sehr wohl zwischen brauchbar und unbrauchbar für die Leute in der Oberwelt zu unterscheiden. Er hatte in vielem vielleicht eine andere Art zu denken, aber er war nicht dämlich und hatte eine andere Art zu denken? …

Tony fuhr in die Höhe.

»Ich hab’s«, rief er. »Dieses Teil ist völlig unwichtig. Es geht um die Verpackung!«

Dorkas zog ein verständnisloses Gesicht. Tony fuhr fort: »Stalka – der Herr hat sich Ihnen noch nicht vorgestellt, aber ich kenne ihn ganz gut, man kann uns sogar als gute Kumpel bezeichnen – hat eine andere Art zu denken. Verstehen Sie, für Stalka ist die Verpackung das Wesentliche, nicht der Inhalt.«

»Also hat Herr Stalka Ihnen oder uns die Papiere geschickt, in die dieser Schrott hier ein­geschlagen war? Sehr schön.« Dorkas war sofort wieder munter. Dann wurde er blass.

»Verflixt, ich habe das Papier fortgeworfen. Wir müssen es suchen.«

Dann der Geschwindheit, die Dorkas seinem rundlichen Körper in manchen Situationen abtrotzen konnte, war der Wissenschaftler vom Stuhl hoch und stampfte die Straße entlang. Tony war hinter ihm und kam nicht umhin festzustellen, dass Dorkas weiße Socken trug.

Zwischen dem Straßencafé und dem geparkten Bentley standen ein Dutzend Laternen, und an jeder zweiten Laterne hatte die um Sauberkeit besorgte Kommune formschöne und voluminöse Abfalleimer anbringen lassen. Um den ästhetischen Sinn des Bürgers nicht zu strapazieren, hatten die besorgten Stadtväter und -mütter dafür gesorgt, dass man von außen den Inhalt der Behälter nicht erkennen konnte.

»Wissen Sie denn, in welchen dieser Pötte Sie die Verpackung geworfen haben?«, fragte Tony, von bösen Vorahnungen geplagt.

»Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich habe die Verpackung ziemlich zerfetzt und … ich fürchte, ich habe das Papier auf mehrere dieser Abfallkörbe verteilt. Fangen Sie hinten bei dem Auto an, ich arbeite mich von hier aus in Ihre Richtung, Herr Tanner«, befahl Dorkas.

Tony verharrte eine Sekunde, um vielleicht einen Anflug von Schuldbewusstsein bei dem Wissenschaftler zu bemerken. Dann wurde ihm klar, dass Dorkas dazu überhaupt keinen Anlass hatte. Er wurde aber auch keineswegs von den eben als überflüssig erkannten Empfindungen geplagt und wühlte vielmehr eifrig im ersten Müllkorb.

 

Tony ging an ihm vorbei und erreichte viel zu schnell den Bentley. Man konnte die Straße nicht unbedingt als überlaufen bezeichnen, aber der Ausdruck belebt beschrieb den Zustand vollkommen zutreffend. Das machte Tony die Sache keineswegs einfacher. Er kämpfte mit sich, haderte ein wenig mit dem Schicksal, dann verkniffen sich seine Lippen und er griff in den Korb.

Unter seinen tastenden Fingern rappelten leere Dosen, das, was er jetzt in der Hand hatte, war eine Serviette mit Resten von Senf und Ketchup …

Als Tony seine Hand aus dem Korb zog, klebten Zigarettenstummel an den Fingern. Um Haltung bemüht, stelzte er zwei Laternen weiter. Seine Augen waren starr geradeaus gerich­tet, seine inneren Scheuklappen verhinderten, dass er die Mischung aus Verwunderung, Verachtung und blankem Entsetzen registrierte, mit dem die Passanten seine Aktion quittier­ten.

Dorkas hatte seinerseits auch schon den zweiten Korb in Arbeit und steckte tatsächlich den Kopf in den Behälter, was so aussah, als müsste er sich übergeben und seiner Aktion damit sogar noch den sozial erträglichen Anstrich verlieh.

Eine Flasche, ein Pappdeckel mit Resten von Pommes Frittes, eine Zigarettenschachtel … Endlich knisterte Packpapier unter Tonys Fingern. Er zog seine Beute heraus und betrachtete sie.

Das war tatsächlich die Verpackung. Enttäuscht stellte Tony fest, dass er nur einen Teil in den Händen hielt. So blieb ihm nur, auch den nächsten Korb zu untersuchen.

»Junger Mann, wenn Sie etwas Anständiges gelernt hätten, dann brauchten Sie jetzt nicht diese ekelhafte Arbeit zu tun«, fuhr ihn eine alte Dame mit Blümchenhut an. Ihre Begleiterin nickte zustimmend.

Tony Tanner bemerkte in seinem Gesicht das Prickeln von besonders intensiver Durchblutung. Steif ging er weiter und begann im Abfall zu wühlen. Auch hier brachte er eine Handvoll Papier zum Vorschein. Dorkas war inzwischen auch weitergekommen, sodass sie die Körbe durchsucht hatten.

Hoch erhobenen Hauptes kehrten sie zu ihrem Tisch zurück, bestellten noch einmal Tee und verzogen sich zwecks Säuberung in die Toilette.

Im Grunde war es eine überflüssige Mühe, sich die Hände zu waschen, denn das Papier, dass sie nun untersuchten, war mit Faulschlamm vollgesaugt. Mit leisem Knacken bröckelte der trockene Schlamm in kleinen Placken ab, aber getrocknet war er nur an der Oberfläche und die meisten Teile des Papiers waren nichts als eine Art von stinkender, schmutziger PappmachÉ.

Verbissen zog Dorkas Blatt um Blatt aus dem Klumpen.

»Hier«, seufzte er dann erleichtert, »ich glaube, ich habe etwas.«

Er nahm das Papier, das offensichtlich ais einer Zeitschrift gerissen worden war, las es schweigend durch und nickte dann.

»Hören Sie«, sagte er, »es handelt sich um ein Ritual, ohne Zweifel, ich tippe auf die Schule von Aleister Crowley.«

Dann begann Dorkas vorzulesen. »Er griff ihr unter die Schenkel und warf sie auf den Tisch. Sie lehnte sich zurück und legte ihre Beine auf seine Schultern. Sie schlug ihre Füße in seinem Nacken zusammen. Er griff ihr an die Backen. Seine kräftigen Hände kneteten ihr weiches Fleisch. Hmm …«

Dorkas schaute etwas besorgt in die Runde.

»Soll ich weiterlesen?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Wenn es ein wichtiges Ritual ist«, antwortete Tony Tanner mit todernstem Gesicht. Auch er schälte Schicht um Schicht von Papier auseinander.

»Nun … kneteten ihr weiches … Oh, du mein Lustgemahl, schrie sie, und er zückte die Lanze und …«

Stumm las Dorkas weiter, seine Lippen formten lautlos die Worte nach, seine Brauen zogen sich zusammen.

»Das könnte es sein«, rief Tony Tanner plötzlich. Er hielt ein Blatt in der Hand, das klei­ner und weißer war als der gesamte Rest des Papiers. Es konnte aus einer Kladde gerissen worden sein. Einige Worte waren darauf geschrieben, aber Feuchtigkeit hatte die Tinte ver­wischt, sodass nur noch Fragmente erkennbar waren.

Gierig griff Dorkas nach dem Blatt und beugte sich darüber.

»Eine Adresse«, stellte er dann fest.

»Das habe ich auch schon gesehen«, gab Tony zurück. »Irgendeine L…field Road 318. Und oben steht was von For no ile. Was das nun wieder bedeuten soll?«

»For no, for no«, grübelte Dorkas. »Aber für wen oder was nicht. Ob ile das französische Insel bedeuten soll? Für keine Insel? Das gäbe einen Sinn.«

»Tatsächlich? Welchen denn?«, mischte sich Steele ein.

Dorkas ignorierte seinen Einwurf. Er war völlig in seinem Element.

»Es könnte auch Porno heißen. Also die Abwandlungdes altgriechischen Pornä, was Hure bedeutet, womit wir bei Huren-Insel wären, was wiederum eine moralische Kritik am Zustand des Vereinigten Königreiches beinhaltet, der ich durchaus anschließen könnte.«

»Das ist ja alles gut und schön«, warf Tony Tanner ein. »Aber es ist erkennbar, dass es sich hier um zwei Wörter handelt, bei denen ein Teil der Buchstaben verwaschen ist. Also macht es keinen Sinn, die Wortreste so zu behandeln, als hätten sie einen eigenen Bedeutungsinhalt.«

Die Zerknirschung war Dorkas deutlich anzumerken. Er rutschte einmal mehr auf seinem Stuhl und befingerte sein Paket, das er bei seinem Müllsammelausflug kurzzeitig an Little angegeben hatte.

»Schon gut«, gab er zu. »Ich habe Unfug geredet.«

Damit legte er den Zettel auf den Tisch und leerte seine Teetasse. Der Geschmack behag­te ihm keineswegs und er ließ die Tasse mit lautem Klirren auf den Unterteller fallen.

»Schluss mit allem Enthusiasmus«, sagte Dorkas entschieden. »Ab jetzt gelten die Gesetze der strengen Logik. Oder vielmehr die strengen Gesetze der Logik. Also: Hinter For können noch maximal drei Buchstaben kommen, wenn man den bisherigen Abstand zum Maßstand nimmt. Zwischen No und ile kann nur ein Buchstabe fehlen. Es sollte ein Konsonant sein.

Während Dorkas halblaut die Varianten durchspielte, betrachtete Tony die Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Es hatte einen etwas protzigen, altertümlichen Stil, der Tony an die Paläste Roms erinnerte.

»Nobile«, rief Tony Tanner. »Das Wort heißt Nobile, wie Nobile, der Polarflieger.«

»Nobile, sehr schön«, freute sich Dorkas, um dann sofort nachzufragen: »Wie sind Sie darauf gekommen, Herr Tanner?«

»Ich habe nur das Haus gegenüber angeschaut. Und dann fielen mir die römischen Paläste ein, und dann dachte ich daran, dass diese Paläste ein Zwischengeschoss haben, welches sich Piano nobile nennt.« Steele blickte Tony an. Seine Augen wurden schmäler. Der junge Mann war offenbar nicht zu unterschätzen. Er dachte mit, er war kreativ, er war mutig. Steele war geneigt gewesen, seinen Hass auf Tony Tanner zu unterdrücken, wenigstens vorläufig. Wenn er ihn aber jetzt so reden hörte, empfand er ihn als neue Bedrohung. Mit wem hatte dieser Bursche eigentlich eben so lange telefoniert, nur um anschließend gut gelaunt aus der Telefonzelle herauszuspazieren und von Weibertelefonaten zu schwätzen?

»Ich bin beeindruckt«, bekannte Dorkas. »Also Nobile. Aber der Polarflieger ist nicht gemeint, der hieß meines Wissens Umberto mit Vornamen. Also ist nobile hier ein Adjektiv. For… nobile …«

In Dorkas’ Gesicht ging eine Veränderung vor. Seine Brauen wanderten nach oben, wo sie vergeblich Kontakt mit dem Haaransatz suchten, seine Auge weiteten sich, sein Kiefer verlor alle Spannung, sodass der Mund offenstand.

Tony und die anderen betrachteten dieses Mienenspiel mit Verwunderung und fragten sich, ob sich hier Begeisterung oder Entsetzen spiegelten.

»Ich weiß jetzt, was es heißt«, flüsterte Dorkas kaum hörbar. »Es heißt Forza nobile.« Er richtete den Blick zum Himmel, strich über die Tischplatte und wiederholte verschwörerisch: »Forza nobile.«

»Das ist doch diese Berlusconi-Partei«, sagte Little.

Steele schüttelte den Kopf. »Was Sie meinen ist die Forza Italia, die die Leute im Norden Forza Merda nennen …«

»Lassen Sie uns an Ihrer Begeisterung teilhaben«, ließ sich Tony hören.

Dorkas geriet in Verlegenheit. »Das ist nicht so einfach«, erklärte er. »Im Grunde hat näm­lich noch nie jemand etwas von der Forza nobile gehört, was heißt, dass es sich um eine Geheimgesellschaft handelt.«

»Das sollte Grund genug sein, sich zu freuen, wenn man’s doch tut«, kommentierte Tony sarkastisch. Seine Stimmung war in diesem Moment auch dadurch etwas getrübt, weil sich die Schmerzen in seinem Arm, die er bislang erfolgreich verdrängt hatte, wieder zurückmel­deten.

Dorkas wedelte mit den Händen.

»Verstehen Sie mich doch bitte nicht so falsch, Herr Tanner! Natürlich kenne ich den Namen. Ich habe ihn im ganzen Leben sogar schon zwei Mal gehört.«

Sein rechter Daumen zeigte in die Höhe.

»Erste mir bekannte Erwähnung«, erklärte Dorkas voller Eifer, der sich auch durch das mangelnde Begeisterungs-Echo seiner Zuhörerschaft nicht minderte, »1572 Nicolo Dendati in Florenz, der in seinen Mirabilia den Kardinal Anacio als Führer einer Forza Nobile nennt.«

 

Dorkas gönnte den drei anderen eine kurze Unterbrechung. Keiner nutzte die Chance für Beifallskundgebungen. Allerdings richteten sich inzwischen verstohlene Blicke von den Nebentischen auf den dicklichen Mann, der sich so ungemein echauffierte, dass man – je nach Wunsch – eine lautstarke Auseinandersetzung mit seinen Begleitern befürchten oder erhoffen musste oder durfte.

»Zweitens«, Dorkas bog in geradezu akrobatischer Geschicklichkeit seinen Zeigefinger, sodass dieser fast parallel zum Daumen stand und den folgenden Worten eine erschütternde Autorität zu vermitteln wusste, »zweitens sind zu erwähnen die letzten Worte von Paul Nicholls, dem Sekretär des Erzbischofs Lefebre, den wir ja alle als Rebellen gegen den Papst kennen – ja, liebe Leute, es gab eine Zeit, da verschreckte Johannes Paul seine Leute durch Reformen – wo war ich? Nicholls, ein Ire, starb mit den Worten Forza Nobile auf den Lippen, was bemerkenswert ist, ebenso wie die Tatsache, dass Herr Nicholls alle Anzeichen einer Ricinvergiftung zeigte.«

»Was mich zu der Frage führt, ob Ihre Forza nun zu den guten oder zu den bösen Jungs gehört?«, fragte Steele. Dorkas blickte ihn dankbar an. Schließlich war hier das erste Anzeichen von Interesse für ein Thema zu bemerken, das ihm selbst auf der Seele brannte. Dann allerdings legte er seine Stirn in Falten und bekam einen verkniffenen Ausdruck.

»Das Problem ist, dass es keiner so genau weiß. Was die Forza Nobile angeht, so würde sie vermutlich die Frage als falsch gestellt ansehen. Die Forza steht nach eigener Einschätzung über den Fragen der Moral, wobei es natürlich schwierig ist, eine Gruppe zu beurteilen, die kaum bekannt ist.«

»Eine richtig geheime Geheimgesellschaft?«, warf Tony Tanner spöttisch ein. »Schwer zu glauben. So ein bisschen Propaganda muss doch sein, sonst werden die anderen Leute doch nicht neugierig und es macht gar keinen Spaß, Mitglied in einer Geheimgesellschaft zu sein.«

»Ihr Sarkasmus ist keineswegs hilfreich«, gab Dorkas streng zurück. »Sie wissen doch selbst, dass es ausreichend Beispiele für das gibt, was Sie geheime Geheimgesellschaften nen­nen. Die allerjüngste Vergangenheit hat selbst einem Menschen wie Ihnen wohl die Effizienz solcher Gruppierungen vor Augen geführt. Nein, die Forza Nobile zeigt keine Anzeichen von Ruhmsucht oder Eitelkeit. Keine Außenstehender kennt ihre Mitglieder, keine Außenstehender kennt ihre Ziele, aber man kann davon ausgehen, dass diese Leute ständig ­und dieses seit Jahrhunderten – beobachten, registrieren, kommentieren, abwägen, beurtei­len.«

»Und zu welchem Zweck? Oder haben wir es mit einer besonderen Art des Voyeurismus zu tun«, schaltete sich Steele wieder ein.

»Sie haben vielleicht Pläne, aber erwarten Sie nicht, dass ich hier mehr tun kann, als zu spekulieren. Aber dank diesem Zettel werde ich es herausfinden.«

»Darf ich fragen, wie Sie das meinen«, fragte Steele. Der Satz, so wie er ihn aussprach, hatte etwas Lauerndes und zugleich schon Warnendes, wie das leise Knacken im Gebüsch, hinter dem sich ein Raubtier verbirgt.

Wenn Dorkas diese unterschwellige Warnung auch bemerkte, so ignorierte er sie dennoch tapfer.

»Ganz einfach, ich gedenke, mich zu dieser Adresse zu begeben«, gab er bekannt.

»Sie machen Scherze«, konstatierte Steele.

Dorkas wandte sich an Tony Tanner.

»Habe ich jemals den Verdacht erweckt, von Humor infiziert zu sein?«, fragte er.

»Nicht wirklich«, antworte Tony verblüfft und ohne innere Überzeugung.

»Na also«, fuhr Dorkas energisch fort, »dann darf ich also jetzt annehmen, dass die Herren meine Absicht als solche akzeptieren – ich fahre jetzt zu dieser Adresse!«

»So ein Unfug«, protestierte Tony Tanner, der seine Verblüffung überwunden hatte, »diese Adresse ist nicht einmal vollständig!«

»Auch wenn das leider nicht völlig von der Hand zu weisen ist, ist sie immerhin vollstän­dig genug, um die mögliche Auswahl auf drei oder vier Straßen zu begrenzen. Und drei Fehlversuche ist mir die Sache wert.«

Hören Sie«, sagte Tony Tanner in beschwörendem Ton, »dieser ganze Plan ist Unfug. Alles, was Sie im allerbesten Fall erreichen können, ist das: Sie stehen vor einem Gebäude und glauben, diese Hütte hat etwas mit der ominösen Forza Dingens zu tun. Was nutzt Ihnen das? Das ist doch Kinderei. Wenn sich diese Gestalten seit ein paar Hundert Jahren hinter den Gardinen versteckt haben, werden sie aus der Deckung kommen, bloß weil Sie mit einem Zettel wedeln. Und überhaupt Zettel _ wer sagt denn, dass hier nicht wieder irgendein Trick von irgendwem dahintersteckt, eine Falle? Wäre ja wohl nicht das erste Mal, dass uns so etwas passiert.«

»Es war doch Ihr Gewährsmann, der uns dieses Dokument zugespielt hat, Herr Tanner. Also sollten Sie doch selbst einschätzen können, ob er auf unserer oder auf der anderen Seite steht!«

»Natürlich steht er auf unserer Seite«, konterte Tony, inzwischen schon mit weniger Dezenz, »aber das bedeutet ja nicht, dass er alles, was er uns zuspielt, richtig einzuschätzen weiß und … ähhh …, nun ja, und da kommen Sie nun und reden von »unserer Seite«, bitte ver­zeihen Sie, meine Herren, aber wer von uns weiß denn wirklich, was »unsere Seite« denn so ist, wenn ich das einmal so sagen darf, und wir treiben auf etwas zu und wissen nicht auf was, und auf der Flucht hilft ein Unbekannter, der kein Unbekannter ist, ist es nicht so … oder sind wir alle Unbekannte, und niemand fragt sich, was wir eigentlich hier …, also, was wir, und warum …« Tony kam ins Stottern und beendete seinen Satz nicht. Er kniff verbissen die Lippen zusammen. Natürlich hatte Dorkas ihn mit seiner Unterstellung auf dem falschen Fuß erwischt.

 

Dieser Trick war schlichtweg unfair und machte Tony wütend, noch wütender machte ihn, dass er Dorkas nicht mit einem einzigen, souveränen Satz, gesprochen, um in die Geschichtsbücher einzugehen, vernichtet hatte. Aber ein Blick auf Dorkas zeigte ihm, dass keinerlei Triumph auf dem runden Gesicht des Wissenschaftlers lag. Was auf der Stirn glänz­te, war Schweiß, und Dorkas hatte Tonys misslungene Widerlegung gar nicht beachtet. Little schien ebenfalls geistesabwesend gewesen zu sein, und Steele war hinter seinen Augenschlitzen verschwunden und dachte sich vielleicht seinen Teil, sagte aber nichts dazu.

Diese blöde Forza Nobile scheint diesem Dorkas am Herzen zu liegen, dachte Tony. Dennoch brachte ihn das nicht von der Überzeugung ab, dass Dorkas’ Plan ein Beispiel für Extrem-Schwachsinn darstellte. Er war entschlossen, sich diesem Unfug entgegen zu stellen. Eine Zeit lang war es nun still, als wolle jeder den kleinen Ausbruch Tony Tanners verdauen.

Da bekam Dorkas Beistand von unerwarteter Seite. Steele hatte den Wissenschaftler ruhig und abschätzend betrachtet. Ebenso wie Tony hatte er die hektischen roten Flecken bemerkt, die sich bei Dorkas auf den zitternden Wangen, der Stirn und dem Hals bildeten. Dieser Mann, davon war Steele sofort überzeugt, würde sich nur durch Gewalt von seinem Vorhaben abhal­ten lassen. Im Prinzip hatte Steele damit keinerlei Probleme. Ein Handkantenschlag von wohldosierter Stärke würde diese rundliche Nervensäge für eine ziemlich genau vorbestimm­bare Zeit zwischen einigen Minuten und einer Stunde ruhigstellen. Aber die Aufregung von Dorkas beeindruckte Steele andererseits und erweckte in ihm den Verdacht, dass an der Sache ernsthaft etwas dran sein könnte. Und wenn es so war, dann war die Forza nobile vielleicht auch für ihn, Steele und für seine Suche von Wichtigkeit.

 

Die Chancen waren gering, aber sie waren vorhanden.

Steele blickte auf die Uhr und wandte sich dann an Tony.

»23 Uhr 30 war der Zeitpunkt?«

»Nach wie vor und immer noch unverändert«, gab Tony Tanner bissig und entnervt zurück. War er nach dem Telefonat mit Francine in Hochstimmung, so spürte er seine Laune jetzt mit schrillem Pfeifen den freien Fall aufnehmen. Ade, du wundervoll banaler Alltag mit Weib und Kind und Rosengarten, jetzt ist wieder Zeit für Mistheldentum und Sch … abenteuer.

»Dann haben wir noch einige Stunden Zeit«, stellte Steele trocken fest, ohne sich um den gereizten Ton Tonys zu kümmern. »Wir müssen uns sowieso wieder in Bewegung setzten, sonst werden wir unter Umständen noch geortet. Also können wir genauso gut diese Adresse aufsuchen.«

»Stimmt, wir müssen schnell fort!!«

Dieser erregt hervorgestoßene Satz stammte von Little. Aller Augen richteten sich erstaunt auf den Amerikaner, der bisher stumm zugehört hatte und nicht den Eindruck erweckte, als wollte er sich in die Diskussion einschalten.

Littles Schläfenadern schwollen, er presste die Fingerspitzen auf die Tischplatte und run­zelte angestrengt die Brauen. Er schien fortzugleiten, sich von seiner Umgebung zu entfernen und nur seinen Körper wie eine unbrauchbar gewordene, trockene Hülle zurücklassen zu wol­len. Der Umschwung von seinem Ausruf zu der jetzigen Verkrampfung war zu plötzlich, zu schnell und zu unverständlich, als dass die anderen sie wirklich registrieren konnten.

Littles Pupillen glitten nach oben, verschwanden unter seinen Lidern und ließen den erschreckenden Anblick weiß glotzender, blickloser Augen zurück, jenen Signalen für Bewusstlosigkeit, Ekstase oder kompletten Wahnsinn.

»Mein Gott«, Dorkas fasste sich an den Kragen, als würde er keine Luft mehr bekommen. »Wir müssen ihm helfen.«

»Ruhig bleiben«, zischte Tony Tanner, »Haltung! Wir können kein Aufsehen gebrauchen.«

Little wirkte so, als würde er jeden Moment vom Stuhl kippen. Er selbst hatte jede Empfindung für seinen Körper verloren. Sein Bewusstsein war wie auf einer schrägen Ebene abgeglitten und Little konnte nichts mehr tun, als sich hilflos dieser Schwerkraft auszuliefern.

Eben noch hatte er etwas bemerkt.

Etwas – undefinierbare Bilder, Wortstücke, Assoziationsketten, die plötzlich abbrachen und wie eine Endlos-Schleife neu ansetzten – das sich in seine Gedanken einschlich wie ein Fremdling, wie ein Melodiefetzen, der sich in das Denken hakt und sich nur durch Konzentration vertreiben lässt oder sich vielmehr hinter der Konzentration verbirgt, um sich bei deren Nachlassen sofort wieder lästig und aufdringlich in den Vordergrund zu drängen.

 

Dann stürzte er nach innen, hinein in sich selbst, seine Nerven rissen wie Versorgungsleitungen einer startenden Raketen, seine Haut blieb leer zurück, flatternd wie die Hülle eines explodierenden Zeppelins, während das Ich, der ich Jake Little bin weiter stürz­te, implodierte, mit irrsinniger Geschwindigkeit abwärts raste, hinein in den Kern, hinab in das schwarze, alles verschlingende Loch seines inneren Universums, weiter und weiter, vor­bei an dem Trommelwirbel seines eigenen Herzschlages, am Dröhnen seiner Venen und Arterien und hinein in eine zeitlose und raumlose Schwärze, von der das Ich, der ich glaub­te Jake Little zu sein sofort erkannte, das es die Hölle war, die ganz eigene, ganz persönliche Hölle des Ich, der ich einst Jake Little, die Sickergrube des Ich, der Bodensatz, der schwar­ze, stinkende, klebrige Grundschlamm seines Daseins, das Musterbuch seiner Verstrickungen, Beschränkungen und Niederlagen, das Archiv seiner Gemeinheiten, Schwächen und Lügen, das Gerippe seines Ichs, über das der Ich, der ich nicht mehr Jake Little bin das weiche, ber­gende Fleisch von Erziehung, Gerissenheit und Erfahrung gezogen hatte.

 

Der Stürzende jagte noch immer in eine endlose Tiefe, wurde erstickt von dem Wissen um den unendlichen Fall, Aeonen über Aeonen des Mitgerissen-Werdens durch die mitleidlose Kälte des Universums, zugleich erdrückt, zusammengepresst durch die herandrängenden Gestalten verdrängter Erinnerungen, jede mit dem Gesicht einer Niederlage, einer Angst, eines Albtraums, den das Er, der den Namen Jake Little trug mit bebender Anstrengung aus­geschlossen hatte, gebannt, ausgeschlossen wie die böse Märchenfee. Der Reisende dreht sich um sich selbst, stürzend und zugleich wie in Beton gegossen von den herandrängenden, schweigenden Gestalten, deren stumpfe Gesichter von blass leuchtenden Augen erhellt wur­den. Der Reisende konnte ihnen nicht entgehen, er war ihnen ausgeliefert, er war es schon immer gewesen, er war ihr Werk, seine Flucht vor ihnen war nichts als der Wegplan, den sie ihm gegeben hatten.

Ein Muster wurde sichtbar, ein Geflecht, ein geordnetes Dickicht, ein Knotengebilde, zugleich immateriell und stofflich, gleichzeitig aus Gedanken geflochten und aus Nervensträngen geknotet, in denen Neuronenblitze – wie das blau-grünliche Funkeln der Stromabnehmer bei der nächtlichen Einfahrt eines Zuges durch das Gleisgewirr eines Bahnhofes … mehr und mehr verstörende Passagiere heranschafften, schwarze Masse, aus deren Kleidern der dumpfe Mief von Trägheit und endloser Niederlage aufstieg, von tagtag­tagtagtäglichem todmüdem Aufbruch zum seufzenden Scheitern, Massen, die den Reisenden umdrängten und bedrängten, ihn wie demütige Bettler umringten und ihn erstickten wie ansteigende Meeresfluten, deren Weichheit sich zu kristallener Härte zusammenballten, die ihn umgaben wie eine Schale in einer Schale in einer Schale in einer Schale, und nun erkann­te der Reisende in den Gesichtern den Widerschein vergeblich abgelebter Tage, die Zahlen auf ihren müden Stirnen waren zugleich Daten von Tag, Monat und Jahr und Gefangenennummern, und leise vernahm der Reisende nun das Murren, mit dem sie ihre Verbannung beklagten und dem Reisenden Schuld zuwiesen.

 

Der Reisende erkannte manche der Tage, sah im flackernden Licht des Neuronengewitters das Gesicht seiner Mutter, unerreichbar, weit über ihm, durch ihre Brüste aus seiner Perspektive fast verdeckt, seine beide ausgestreckten Arme, bittend und fordernd, die seine Mutter ignorierte. Er sah seinen Vater, er spürte die Mischung aus Ekel, Lust und Erstaunen, als ihm ein Mädchen, dessen Namen der Reisende nicht mehr kannte, ihm beim ersten Kuss ihre schleimige weiche Zunge durch die Lippen in den Mund drückte, und er sah einen Mann, der hier nicht hingehörte.

Der Mann, vielmehr der Zwerg, starrte ihn an, seine Züge verzerrten sich vor Wut, weil er nicht damit gerechnet hatte, hier ertappt zu werden, hier, wo er sich sicher gefühlt hatte, hier, wo er geglaubt hatte, der Herr zu sein, hier im schmutzigen Hinterhof, in der ganz pri­vaten Hölle des Reisenden, wo es keine Gnade und keine Hoffnung und keine Erlösung gab, sondern nur verbrauchte Tage, die wie Ascheflocken umherwirbelten.

 

Der Reisende fühlte den Blick des Zwergs, er spürte das Starren der beiden wütenden Augen wie Nadelstiche, wie Bisse, wie Feuer, das auf seiner Haut klebte.

Obwohl er den Zwerg sah, erstickten ihn. Die näher drängenden Gestalten, glitten über ihn wie eine höfliche Lawine, erwürgten ihn wie ein kultivierter Mörder.

Der Reisende blickte um sich, hoffnungslos, matt, schicksalsergeben, resignierend.

Im Flackern der Blitze sah er die Masse der Gesichter, deren Blicke ihn krakengleich fesselten, und erkannte, dass es keine Ausweg gab. Der Reisende erkannte, dass er selbst das erschuf, was ihn bannte und tötete und dass der Bann ihn zwang, einen neuen Bann zu schaf­fen, der ihn zwang einen neuen Bann zu schaffen, der ihn zwang … eine Schleife, erstickend eng und endlos und allmächtig.

Im Flackern der Blitze sah er, schmeckte er, hörte er einen Ton, dann noch einen, dann hörte er eine Melodie, diesmal eine neue: Jauchzet, frohlocket …

 

Der Reisende zitterte, kämpfte, wühlte und während die bettelnden Gestalten um ihn zau­derten, zögerten und den Druck lösten, erkannte der Reisende, dass er die ersten Takte von Bachs Weihnachts-Oratorium vernommen hatte, und während ihm dieses klar wurde, trat ihm der Tag deutlicher in die Erinnerung, der lange verwehte Tag vor Weihnachten mit seinen Eltern und dem erschütternden, umwälzenden Erlebnis dieser Musik, deren Wucht und Wahrheit sich durch die jammervolle Provinzialität eines Laienchores hindurchgebrannt hatten, und nun, als die Masse zurückwich, erkannte der Reisende auch die Gestalt dieses Tages, die hinten gestanden hatte, abwartend, ob er sie rufen würde.

 

Der Reisende rief sie und sie glitt näher, verdeckte den tobenden Zwerg, zeigte ihr mildes, altes, faltiges, skeptisches Gesicht und brachte die Erinnerung an Begeisterung und Hoffnung und jugendliche Visionen, an Tage, in denen der Reisende versucht hatte, all dem eine Form und einen Namen zu geben, an Blätter, die er mit Zeichnungen, Sätzen, Skizzen gefüllt hatte, an Momente, in denen der Reisende den Ich, Jake Little, der es schaffen wird erschuf, noch ohne dies überhaupt schon ahnen zu können, während im Hintergrund eine Musik dröhnte, die zu einem gewaltigen Rauschen geworden war, zur Melodie des kosmischen Wachstums, in der sich das All entfaltete, endlos und immer wieder und gierig und köstlich wie eine Frühlingsblüte, zur Tanzweise, die die Schritte des Schöpfers begleitete, des göttlichen, eks­tatischen Tänzers auf dem Parkett des Nichts, dessen blumenduftende Fußsohlen gleißende, funkelnde Sonnen aus der allesfressenden, todesschwarzen Angst schlugen, dessen weiße Hacken in selbstvergessenem Taumel Welten erschufen aus der Starre, Lieder aus der Stille, Worte aus dem Schweigen.

Milde lächelnd reichte die Gestalt neben ihm dem Reisenden einen Zettel. Ein erschrocke­nes Heulen stieg auf von der Masse der Umstehenden und sie wichen weiter zurück.

»Halleluja«, las der Reisende von dem Zettel, auf dem er die unsicheren Schriftzüge des Ich werde Jake Little sein, der alles beiseite räumt, erkannte »lobet den Herrn in seiner Güte, jauchzet, frohlocket, und ihr verpisst euch endlich, ihr dämlichen Wichser und Schwanzlutscher, sonst trete ich euch in euren widerlichen Arsch, dass euch die klägliche Scheiße aus den Ohren spritzt und ihr auf eurem stinkigen Dödel in den letzten Sonnenuntergang von herausgekotzter Pizza reitet, versucht es nicht zu verstehen, aber haltet euch dran, dieses ist ein mystischer Text, Buddha rutscht auf einer Bananenschale aus und fällt aufs Nirwana, selten so gelacht sagt der Rebbe, aber das Lachen, das gelacht werden kann, ist nicht das lächerliche Lachen sagt der olle Lao und kriegt sich nicht ein vor lauter Lachen, Ende der Durchsage, Halleluja und Yippiheijäh.«

 

Daraufhin schlugen sich der Reisende und die Gestalt neben ihm vor Lachen auf die Schenkel, und vor ihnen lag ein freies Feld, sauber und offen und bereit und der Reisende explodierte und wuchs wie das Universum und in der Helligkeit erkannte Little Dorkas, der ihn anschaute und Tony Tanner, der ihn davor abgehalten hatte, vom Stuhl zu fallen.

Little lächelte.

»Jauchzet, frohlocket«, sagte Little, »anscheinend hat mir einer LSD in den Tomatensaft getan oder ich bin wirklich ein Mystiker.«

»Ich hatte eher auf Epileptiker getippt«, bekannte Dorkas und riss an seinem Kragen.

Little trommelte einen schnellen Rhythmus auf die Tischplatte.

»Verschwinden wir, » verlangte er. Und zu Steele gewandt fügte er hinzu: »Es ist ein Zwerg. Er hat mich wieder gefunden. Aber Bach hat mir den entscheidenden Tipp gegeben.«

»Welcher Bach?«

»Johann Sebastian war es, glaube ich«, antwortete Little auf die entgeisterte Frage von Dorkas.

Sie brachen auf, nachdem Steele dem Kellner einige Geldscheine in die Hand gedrückt hatte. Dorkas beeilte sich keuchend, zu dem voranstürmenden Little aufzuschließen.

»Was hat Ihnen Bach gesagt?«, japste er.

»Bach? Gar nichts. Aber der Tag hat mir einen Zettel gegeben. Ziemlich mystisch und sehr vulgär. Ich glaube, es war so etwas wie die Alchemie des Kosmos, per asperam ad astra.«

»Blei wird zu Gold?«, erkundigte sich Dorkas interessiert.

»Um ehrlich zu sein, es war eher Scheiße, die zu Erkenntnis wird, und es war irgendwie mystisch, aber es lief darauf hinaus, dass das Muster des nächsten Tages frei gewählt werden kann und das Shiva tanzt, wie er will oder so.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen in dieser kalifornischen Mystik nicht völlig folgen«, seufzte Dorkas. Dann aber verschwanden seine Stirnfalten. »Jedenfalls scheint es Ihnen jetzt wieder gut zu gehen, Herr Little.«

»Yo Mann, so ist es«, antwortete Little, »und ab jetzt können Sie Jake zu mir sagen.«

 

Steele schloss den Bentley auf.

»Ich erinnere mich daran, einen Zwerg auf dem Rücksitz eines Jaguar gesehen zu haben«, bemerkte er beiläufig.

»Das muss er gewesen sein«, bestätigte Little.

»Nun gut, sie können den Wagen wechseln, aber den Zwerg werden sie nicht auswechseln können. Sind sie nah?«

»In etwa fünf Minuten würden sie hier auftauchen«, schätzte Little.

»Dann bleibt noch etwas Zeit.« Steele schob eine Abdeckung aus Wurzelholz zur Seite. Dahinter verbarg sich der Monitor eines Navigationssystems. Die Suchfunktion gab für den lückenhaften Straßennamen drei Alternativen an. Die Erste fiel aus, weil es keine entspre­chend hohen Hausnummern gab, die zweite Straße führte durch ein reines Gewerbegebiet.

»Also der Londoner Süden« stellte Steele fest und fuhr los.

»Keine gute Gegend«, sagte Tony Tanner. Dann wandte er sich an Dorkas: »Was haben Sie eigentlich über das Ritual gelernt, von dem sie uns einen Teil zum Besten gegeben haben?«

Dorkas schaute nach vorn und bemerkte das boshaft-spöttische Grinsen auf Tonys Gesicht nicht. Dafür bemerkte Tony nicht, dass Dorkas rot anlief.

»Sexualmagie, eindeutig«, antwortete der, »sehr stark an Crowley orientiert. Könnte von einem OTO-Ableger praktiziert werden. Vielleicht auch moderner Tantrismus, äußerst aus­gefeilt jedenfalls.«

Dorkas schwieg einen Moment. Dann räusperte er sich.

»Weiß einer der anwesenden Herren vielleicht, was Muschi bedeutet?«

Es war tatsächlich nicht die beste Gegend Londons, in die Jeremy Steeles Bentley Arnage rollte. Inzwischen war es dunkel geworden, aber selbst die Kosmetik des Laternenscheins ließ die Hausfassaden nicht weniger hässlich erscheinen. Zwischen die Wohnhäuser drängten sich kleine Läden, deren Schaufenster mit großmäuligen Plakaten zugekleistert waren, auf denen mit dem Wort SALE in riesigen roten Lettern Rabatte und Sonderverkäufe angepriesen wur­den.

Natürlich war es nach Sonnenuntergang kühler geworden, aber dieses Viertel wirkte so, als wenn selbst an perfekten Sommertagen hier die Wärme keine wirkliche Chance hatte, weil sie von den missmutigen Fassaden einfach aufgesaugt worden wäre.

 

Tony Tanner fragte sich, ob der Geruch nach muffigen Kellern wirklich durch die Lüftung in die Limousine drang, oder ob der Anblick dieser Häuser mit ihrem abblätternden Putz und der scheinbar Jahrhunderte alten Schmutzschicht diese Geruchsempfindung in ihm hervorrief.

Eine Querstraße erlaubte den Blick auf eine Mauer, hinter der sich Industrieanlagen erho­ben. Das Werk beherrschte das Viertel wie eine verschüchterte Herde, und das Rauschen der Fabrik ähnelte dem Knurren, mit dem ein Hütehund jeden Fluchtversuch seiner Anvertrauten schon im Keim erstickt.

Der Gegensatz zwischen dem staubigen Viertel, durch das sie nun fuhren, und dem Inneren des Bentley war schon fast bizarr. Dort draußen stapelte sich Müll barrikadenartig vor den Eingängen, breiteten sich die Zeichen von Verfall und Resignation aus, und hier drinnen umgab Tony Wurzelholz, feinstes Leder und poliertes Metall. Eine freundliche Frauenstimme machte den Fahrer darauf aufmerksam, dass er nach dreißig Metern sein Ziel erreicht haben würde, und verabschiedete sich daraufhin mit mechanischer Höflichkeit.

 

Mit einem Knopfdruck fuhr Steele die Wurzelholzabdeckung über den Monitor und kon­zentrierte sich dann hinter schmalen Augenschlitzen auf die Hausnummern.

»Ihre Forza Nobile scheint Probleme mit den Immobilienpreisen zu haben, wenn sie sich in dieser Gegend niederlässt«, bemerkte Tony Tanner.

Ein verächtliches Schnaufen schien die einzige Antwort seitens Dorkas zu bleiben. Schließlich entschied sich der dicke Wissenschaftler denn doch zu einer ausführlicheren Replik: »Die Gleichsetzung von tatsächlicher Macht oder geistiger Größe mit äußerem Glanz ist Ausdruck einer an Idiotie grenzenden Verkennung der Umstände, die auch dadurch nicht entschuldbarer wird, dass sie in unserer so genannten aufgeklärten Gesellschaft virulent gras­siert.«

Fortsetzung folgt …