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Kriminalakte 18 – Der 100-Millionen-Euro-Raub

Der 100-Millionen-Euro-Raub

Wie an jedem Morgen, so beginnt am Londoner Flughafen Heathrow auch am 26. November 1983 die Frühschicht für die Wachmänner der Sicherheitsfirma Brink’s-Mat um Punkt 06:30 Uhr. Und wie jeden Tag, so kommt der Wachmann Tony Black auch an diesem Morgen wieder zu spät.

Als er gegen 06:40 Uhr in der Lagerhalle eintrudelt, die rund um die Uhr bewacht werden muss, empfangen ihn die Kollegen mit Gelächter und spöttischen Bemerkungen, da er anscheinend schon wieder verschlafen hat.

Doch diesmal ist alles anders. Tony Black ist blass im Gesicht, Schweiß steht ihm auf der Stirn und er ist zittrig. Seine Kollegen sind deshalb nicht überrascht, als er sich gleich nach seinem Eintreffen auf die Toilette verabschiedet. Warum auch, Tony Black sieht wirklich kränklich aus.

Doch das ist alles nur gespielt, in Wirklichkeit ist der junge Security-Mitarbeiter nur hypernervös und geht gar nicht auf die Toilette, sondern eilt zum Haupteingang, vor dem ein altersschwacher blauer Van steht, in dem ein halbes Dutzend Männer darauf warten, das Depot zu überfallen, welches er und seine Kollegen bewachen sollen. Black öffnet das Tor und schleust die sechs maskierte und schwer bewaffnete Männer in den Sicherheitstrakt des Depots. Dann dreht er sich eine Zigarette, um seine Nerven zu beruhigen, und kehrt zu seinen Kollegen in den Aufenthaltsraum zurück, als sei nichts gewesen.

Danach geht alles schnell.

Mit halbautomatischen Pistolen und Gewehren stürmen die vermummten Verbrecher in den Aufenthaltsraum der Wachmänner und überwältigen diese. Sie stülpen den Security-Mitarbeitern Säcke über den Kopf, fesseln sie und übergießen sie mit Benzin. Dann drohen die Verbrecher den Männern, dass man sie anzünden wird, wenn sie nicht kooperieren.

 

*

 

Das Lagerhaus auf dem Londoner Flughafen gilt als eines der sichersten der ganzen Welt. Sowohl der dortige Tresorraum als auch die darin befindlichen Safes sind nur durch Sicherheitscodes zu öffnen, die lediglich zwei Wachmännern mitgeteilt werden. Als zusätzliche Sicherung kennt jeder dieser beiden Wachmänner jeweils nur die eine Hälfte des Zahlencodes.

Aber die Gangster wissen genau, welche der beiden Wachmänner diese Zahlen kennen, Tony Black hatte es ihnen gesagt. Sie zerren diese Männer also mit vorgehaltener Waffe in den Tresorraum.

Im Angesicht der auf ihn gerichteten Gewehre gibt einer der Wächter sofort seine Kombination ein, während der andere derart in Panik gerät, dass er sich nicht mehr an seine Zahlenfolge erinnert.

»Sieht so aus, als ob hier einer den Helden spielen will«, sagt einer der Gangster, zieht eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche und macht Anstalten, eines der Streichhölzer anzuzünden.

Der mit Benzin übergossene Wachmann tippt in Todesangst wahllos Zahlenkombinationen ein, bis sich, wie durch ein Wunder, die Safes tatsächlich öffnen.

Doch was die Räuber dann zu sehen bekommen, sorgt bei ihnen jäh für Ernüchterung. Sie hatten mit einer Beute in Höhe von drei Millionen Pfund gerechnet, doch in den Safes liegen gerade einmal ein paar Geldbündel und eine Handvoll Rohdiamanten, für die man auf dem Schwarzmarkt höchstens 100.000 Pfund bekommt. Umgerechnet keine 15.000 für jeden der sechs Räuber und Black, ihren Informant, und das für eine Tat, bei der sie für ein Jahrzehnt ins Gefängnis wandern können, wenn man sie erwischt. Jetzt geraten auch die Verbrecher in Panik.

Aber dann schlägt das Schicksal zu. Niemand weiß bis heute, ob es Zufall, Glück oder Bestimmung war, denn was danach geschieht, ist unfassbar.

Die Verbrecher sind bereits dabei, den Tatort zu verlassen, als ihre Blicke auf drei mit grauen Kisten beladene Paletten fallen, die im Tresorvorraum stehen. Aus einer Laune heraus öffnen sie eine davon und halten den Atem an. Als sie schließlich alle Kisten geöffnet haben, starren sie auf einen Berg aus purem Gold.

Genauer gesagt sind es 6800 Barren im Wert von mehr als 23 Millionen Pfund, was heute, vierzig Jahre danach, umgerechnet 100 Millionen Euro entspricht.

Danach gibt es kein Halten mehr. Die Männer arbeiten wie noch nie zuvor in ihrem Leben und hieven mit ein paar Transporthilfsmitteln in gerade einmal 20 Minuten die dreieinhalb Tonnen schweren Barren in ihr Fluchtfahrzeug und verlassen die Lagerhalle mit den Worten Merry Christmas.

Ihr altersschwacher Van kann die schwere Last kaum bewegen. Augenzeugen berichten später, dass sie an diesem grauen Novembermorgen einen alten, blauen Transporter gesehen hätten, der trotz aufheulendem Motor langsam wie eine Schnecke durch die Straßen von West London gekrochen ist. Dennoch gelingt den Gangstern die Flucht.

Die Presse feiert den Coup später als das Verbrechen des Jahrhunderts, was nicht einmal groß geprahlt ist, denn der Raub der 6800 Barren lässt die Börse eskalieren und den Goldpreis auf der ganzen Welt rapide ansteigen.

 

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Als die Polizei am Tatort eintrifft, ist sie zunächst ratlos. »Der Raubzug war generalstabsmäßig geplant und wurde mit Höchstgeschwindigkeit durchgezogen«, erinnert sich Scotland Yard Inspektor Tony Brightwell später. »So etwas kann eigentlich nicht funktionieren. Außer, es gibt einen Insider.«

Brightwell und seine Beamten haben Glück. Sie enttarnen diesen Insider, indem sie die Wachmannschaft der Brink’s-Mat Sicherheitsfirma verhören, die am Morgen des Überfalls ihren Dienst angetreten hat. Tony Black, der Jüngste dieser Crew, verwickelt sich bei den Vernehmungen immer mehr in Widersprüche. Als man auch noch herausfindet, dass seine Schwester mit dem polizeibekannten Profidieb Brian Robinson verheiratet ist, konzentriert sich die Polizei nur noch auf ihn. Black bricht schließlich zusammen, gesteht, Komplize bei dem Überfall gewesen zu sein und dass sein Schwager einer der Gangster ist.

Scotland Yard, welches ahnt, dass Black noch mehr weiß, setzt ihn unter Druck und tatsächlich verrät er noch einen weiteren Komplizen, einen Mann namens Mickey McAvoy. Für die Polizei keine Überraschung, denn man hatte diesen Mann schon seit geraumer Zeit im Visier. Er kaufte sich trotz seiner bescheidenen Vermögenslage nach dem Raub wenig später eine Villa und legte sich noch zwei Rottweiler zu, die er passenderweise auf die Namen Brinks und Mat taufte.

Robinson und McAvoy werden schließlich zu 25 Jahren Haft verurteilt, während Black wegen Mittäterschaft durch sein Geständnis lediglich für sechs Jahre ins Gefängnis muss.

Die übrigen vier Gangster, von denen nach wie vor jede Spur fehlt, genauso wie von der wertvollen Beute, müssen indes feststellen, dass es leichter war, die drei Tonnen Gold zu stehlen, als sie nun zu Geld zu machen, da jeder Barren eine registrierte Seriennummer trägt.

So gerät Kenneth Noye, ein aktenkundiger Hehler, ins Fadenkreuz von Scotland Yard.

 

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Auch wenn Noye im Laufe der Ermittlungen schon bald als heimlicher Kopf des Coups gilt, ist es selbst heute noch unklar, ob er direkt am Überfall auf die Lagerhalle beteiligt war oder ihn nur mitgeplant hat. Fakt ist jedoch, dass der Hehler die Barren in kleinen Mengen mittels einer Sporttasche zu einem Händler in Bristol schmuggelte, der diese wiederrum einschmolz und mit Kupfer vermischte, um die neuen, unkenntlichen Barren danach unauffällig zu verkaufen.

Der Plan ist genial, doch er geht nicht auf, weil der Händler einen entscheidenden Fehler macht. Er lässt sich nämlich den Erlös der verkauften Barren immer von ein und derselben Bank in Bristol auszahlen, wodurch diese bald mehrere Millionen Pfund Bargeld nachordern muss.

Da Beträge in solcher Höhe und in diesen kurzen Zeitabständen mehr als ungewöhnlich für eine kleine Stadtbank sind, beginnt man in der Zentrale der Bank of England nachzuforschen, wodurch automatisch auch Scotland Yard einen Hinweis erhält. Doch Noye zu überführen, erweist sich als überaus schwierig und gefährlich, wie die Polizei bald darauf leidvoll erfahren muss.

1985, also knapp zwei Jahre nach dem spektakulären Goldraub, beobachtet Detective Constable John Fordham im Zuge einer geheimen Beschattungsaktion Noye dabei, wie er mit einem schweren Aktenkoffer in sein Auto steigt und nach Hause fährt. Fordham folgt ihm, weil er vermutet, dass sich in dem Koffer ein Teil der Beute aus dem Überfall befindet. Während der Hehler ins Haus geht, sucht der Beamte in Noyes Garten nach Hinweisen, ob dieser dort eventuell Goldbarren vergraben hat. Dabei wird er von dem Hehler jedoch überrascht und von ihm mit mehreren Messerstichen getötet. Noye wird verhaftet und vor Gericht gestellt, aber da sich die Tat auf seinem Grundstück ereignet hat, es Nacht war und er behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben, weil er einen Einbrecher vermutete, wird Noye tatsächlich freigesprochen.

Ein Jahr später kann man ihm aber doch die Beteiligung an dem Überfall nachweisen, weil man im Zuge einer Hausdurchsuchung elf Goldbarren aus der Lagerhalle am Flughafen findet. Noye wird 1986 zu 14 Jahre Gefängnis verurteilt, kommt aber 1994 unverständlicherweise vorzeitig wieder frei. Doch sein Jähzorn, der ihn immer wieder veranlasst, Menschen, die ihn seiner Meinung nach ungerecht behandeln, mit dem Messer zu attackieren, bringt ihn sechs Jahre später für einen brutalen Mord wieder hinter Gittern und diesmal lebenslänglich. Der Grund: Das Opfer, ein 21-jähriger Autofahrer, hatte ihm die Vorfahrt genommen.

Das restliche Gold ist bis heute verschwunden, ebenso die vier immer noch nicht identifizierten Täter. Auffällig jedoch ist, dass es in all den Jahrzehnten nach dem Überfall bis in unsere heutige Zeit hinein immer wieder zu mysteriösen Morden an Kriminellen kommt, die laut polizeilichen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Goldraub stehen.

Quellenangabe: