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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 5 – 5. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 5
Die Menschenfalle im alten Haus
5. Kapitel

Auf gefährlichem Lauscherposten

Das alles war so blitzschnell vor sich gegangen, dass Sherlock Holmes’ Tischgenossen ganz erstaunt auf den vermeintlichen Seemann blickten.

»Der Bootsmann ist verrückt geworden«, meinte der Älteste der Teerjacken, »hat einen vollen Krug Porter vor sich zu stehen und schlägt den Krug in Scherben!«

Gleich darauf aber sollten die Seeleute anderer Meinung werden, denn sie sahen, wie der alte Inder auf Sherlock Holmes zusprang und in wilden, kreischenden Tönen allerhand unverständliche Worte hervorsprudelte.

Unverständlich waren sie allerdings nur für die anderen Zuhörer, da der Mann nun in den Lauten seiner Heimatsprache redete. Aber Sherlock Holmes, der sich ja längere Zeit in Indien aufgehalten und dort mit seinem unglaublich schnellen Begriffsvermögen verschiedene Dialekte mit Leichtigkeit gelernt hatte, verstand fast alles, was Nan Sing sagte.

»Kommt mir nicht zu nahe, Mann«, erwiderte Sherlock Holmes zum größten Staunen aller in denselben fremdartigen Lauten, die der Inder gebrauchte. »Geht zurück, Euer giftiges Anspringen hat gar keinen Zweck. Ich konnte es allerdings nicht verhindern, dass Ihr vorhin, als Ihr Euch nach dem Geld bücktet, mein Stuhlbein oder meine Hosen mit einem Saft beschmiert habt, der die Schlangen zur wilden Wut reizt. Aber ich bin auf meiner Hut, wie Ihr seht. Geht zurück, Mann, sonst spreche ich mit Euch in einem anderen Ton!«

Sherlock Holmes hatte schon manchen wütenden Blick gesehen, wenn er bei seinem abenteuerlichen Leben Verbrecher dingfest machte, aber niemals solch grauenvollen Blick wie jenen, den ihm nun Nan Sing zuschleuderte.

Der Mann änderte nun seine Taktik. Er trat von Sherlock Holmes zurück und erhob eine Art Wehgeschrei, indem er sich wie ein Unsinniger gebärdete.

»Meine Schlange, meine Lieblingskobra«, rief er wieder in englischer Sprache. »Der Mann hat meinen Liebling erschlagen.«

»Na ja, Bootsmann«, meinte einer der alten Seebären, »was macht Ihr denn da für Geschichten? Schlagt dem braunen Kerl seine Schlangen tot, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt erwirbt.«

Holmes bückte sich, ohne zu antworten, nieder, nachdem er sich durch Anstoßen des Fußes überzeugt hatte, dass die Schlange nicht mehr lebte. Vorsichtig hob er sie auf und legte das getötete Tier auf den Tisch.

Im selben Moment fuhr Nan Sing schon wieder mit wahrhaft tigerartiger Wut auf ihn los, während die übrigen Schlangen in dem Korb laut zischten, aber, offenbar durch das furchtbare Niederschmettern des Steinkruges eingeschüchtert, in ihrem Korb liegen blieben.

»Bleibt zurück, Mann«, sprach Sherlock Hohnes mit einer Stimme, bei derem Klang der Inder wieder zurückprallte. »Bleibt zurück, die Schlangen dort in dem Korb tun mir nichts, denn denen sind die Giftzähne ausgebrochen. Aber seht mal hier!«

Sherlock Holmes fasste das Köpfchen der Schlange und drückte vorsichtig mit Daumen und Mittelfinger auf die Stelle, wo der Hals begann. Der kleine Rachen war nun geöffnet und da sah man deutlich vier große schneeweiße, nadelscharfe Eckzähne.

»Seht Ihr es?«, sprach Sherlock Holmes, halb zu den Seeleuten, halb zu dem Inder gewendet, »das ist eine Kobra, der die Giftzähne nicht ausgebrochen sind. Das Tier war im Begriff, mich zu beißen. Was darauf folgte, das brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Der Biss der gereizten Kobra wirkt unbedingt tödlich.«

Die Seeleute starrten den Sprechenden an, der ihnen nun ganz verändert vorkam. Sherlock Holmes aber griff in die Tasche und zog eine Börse hervor.

»Ihr wollt die Schlange bezahlt haben, nicht wahr?«, wendete er sich an Nan Sing, dessen grauenvoll entstelltes Gesicht kaum noch einen menschlichen Zug zeigte.

Der Mann brummte etwas Unverständliches vor sich hin und wendete sich kurz um, ohne Sherlock Holmes anzusehen. Das junge Mädchen aber, welches vorhin eine Bewegung gemacht hatte, als wollte es beim Angriff der Schlange vorwärtsstürzen, hatte sich in seinen Mantel gehüllt, und Sherlock Holmes hörte, wie das Mädchen krampfhaft schluchzte.

»Ist sie wirklich giftig gewesen?«, fragte endlich einer der alten Seebären, indem er mit unverhehlter Scheu auf die getötete Schlange blickte.

»Das könnt Ihr ja morgen durch den Wirt erfahren«, erwiderte Sherlock Holmes, indem er den Chinesen heranwinkte, »der soll das getötete Tier einstweilen in Verwahrung nehmen, bis sich das Weitere findet.«

»Damned«, meinte der eine der Seebären, »da ist was nicht richtig. Die anderen Schlangen hatten nicht solche langen weißen Zähne, das habe ich ganz genau bemerkt. Teufel, was mag das nur bedeuten?«

Inzwischen hatte Nan Sing den Schlangenkorb geschlossen und alle Utensilien, die er gebraucht hatte, mit großer Hast in den Kasten geworfen. Nun lud er denselben auf den Rücken, und ohne die Zurufe der übrigen Gäste zu beachten, ging der Mann hinaus, von dem jungen Mädchen gefolgt, welches noch immer bitterlich weinte.

Sherlock Holmes bezahlte das genossene Getränk und den Krug, worauf er sich erhob, in der Absicht, dem Inder zu folgen.

Nan Sing hatte die größte Eile, die Opiumkneipe zu verlassen, und als Sherlock Holmes durch den Vorderraum ging, wo ein Büfett stand, sah er weder Nan Sing noch das schöne Mädchen mehr. Die beiden mussten offenbar in aller Hast das Lokal verlassen haben.

Am Büfett aber lehnte ein elegant gekleideter Mann, der angelegentlich mit der schmucken Büfettiere zu plaudern schien. Als Holmes, der wieder seinen schwankenden Seemannsgang angenommen, vorüberschritt, wendete der Mann den Kopf. Es war Hopkins, der aber sofort die Augen niederschlug, als er den durchdringenden Blick des Detektivs begegnete.

Im selben Moment wurde das Schenkmädchen von einer anderen Seite in Anspruch genommen und eilte zu den hinteren Räumen.

Sherlock Holmes stand nun allein neben dem Mann, der offenbar von dem soeben Geschehenen und dem beabsichtigten Attentat wusste und der sicherlich auch den Inder kannte.

»Hopkins«, sprach Sherlock Holmes, indem er seinen durchbohrenden Blick auf den unheimlichen Menschen richtete, der Überraschung heuchelte und tat, als ob er nicht wisse, wer vor ihm stände. »Hopkins, glauben Sie doch nicht, mich täuschen zu können.«

»Was wollen Sie denn?«, erwiderte der Verbrecher, »ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie denn, wie kommen Sie dazu, mich anzureden? Ich habe nichts mit Matrosen zu tun, überhaupt nichts mit Schiffsleuten. Lassen Sie mich in Ruhe.«

»Verstellen Sie sich doch nicht«, meinte Sherlock Holmes, während er jeden Augenblick bereit schien, bei einer verdächtigen Handbewegung des Schurken seinerseits Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen. »Ich erkenne an, dass Sie einen ungewöhnlichen Scharfblick besitzen, das wusste ich aber schon früher. Dabei sind Sie schlau genug, um sich stets ganz unverdächtig erscheinen zu lassen. Vorläufig ist Ihnen daher noch nichts zu beweisen. Sie hatten mich erkannt. Ich weiß, dass Sie schwer zu täuschen sind, und da haben Sie eben, wie man zu sagen pflegt, hinter den Kulissen mitgearbeitet. Aber Hopkins, gestehen Sie selbst ein, Sie haben Pech. Heute ist Donnerstag und Sie haben sich redliche Mühe gegeben, Ihr Versprechen wahrzumachen. Gestern mit dem absonderlichen Pustrohr und heute mit der Brillenschlange. Aber die Geschichte klappt nicht, Sie müssen noch viel lernen, obwohl Sie so schlau waren, ohne Zeugen zu arbeiten. Ich habe auch Augen im Kopf und ich habe vorhin ganz genau gesehen, dass Sie es waren, der auf mich deutete. Sie haben mich bezeichnet und dem Inder gesagt: ›Der dort ist mein gefährlichster Feind in London und dem würde es große Freude machen, mich, den Hopkins, an den Galgen zu bringen. Nun sorge mal dafür, mein Freund, dass dieser Mensch die Opiumkneipe nicht mehr lebend verlässt. Du hast das Mittel dazu, du kannst mir den kleinen Gefallen schon tun.‹ So ungefähr haben Sie doch gesprochen, Hopkins, nicht wahr? Wenigstens denke ich es mir so. Nun können Sie sich wieder was Neues ausdenken, denn heute haben wir Donnerstagabend, und achtundvierzig Stunden Frist habe ich noch, bis ich tot sein soll. Strengen Sie Ihren Verstandskasten recht an, Hopkins, denn das Pustrohr habe ich, und die Schlange, welche der famose Inder noch in Reserve hatte, und der er aus bestimmten Gründen die Giftzähne nicht ausgebrochen hatte, die hat der chinesische Wirt in Verwahrung genommen. Und der gibt sie nicht heraus, Hopkins, darauf können Sie sich verlassen. Dem Mann habe ich nur ein paar Worte zugeflüstert, und die genügen. Im Übrigen mache ich Ihnen mein Kompliment, dass Sie sich meinetwegen so viel Mühe geben und auf so ungewöhnliche Todesarten für mich sinnen. Sie geben sich meinetwegen viel Mühe, Hopkins, das muss Ihnen der Neid lassen. Schade, dass Ihr Genie auf solche Abwege geraten ist, aus Ihnen hätte noch etwas anderes werden können.«

»Lassen Sie mich in Ruhe«, keuchte der Verbrecher, »was wollen Sie von mir, ich kenne Sie nicht, entweder sind Sie verrückt oder betrunken!«

»Sie spielen Ihre Rolle großartig«, meinte Sherlock Holmes, indem er sich zum Gehen wendete, »ganz vorzüglich; aber Sie sind noch lange nicht derjenige, der mir eine harte Nuss zu knacken aufgibt, dazu sind Sie noch zu jung und viel zu unerfahren. So, nun habe ich nur noch einen Wunsch, nämlich den, dass Sie den dritten Anschlag, den Sie doch sicherlich vorbereiten, in Gegenwart von Zeugen ausführen. Ich habe nämlich die begründete Vermutung, dass ich Sie hängen sehen werde, Hopkins. Also bitte, sorgen Sie bei Ihrem nächsten Anschlag für Zeugen und denken Sie recht gut darüber nach, denn Sie haben nur noch achtundvierzig Stunden, und ich bin ja so ziemlich auf alles vorbereitet. So, Gute Nacht, Hopkins, unterhalten Sie sich weiter mit dieser jungen Dame hier, die Sie ja auch schon von früher her zu kennen scheinen. Und denken Sie an Ihr Versprechen, das Sie mir gegeben haben. Gute Nacht, Hopkins, es war mal wieder nichts. Beißen Sie sich doch nicht die Lippen blutig, es ist wirklich schade darum, Sie sind ein hübscher Kerl, Hopkins. Also noch achtundvierzig Stunden!«

Der Verbrecher bebte vor Wut bei diesem schneidenden Hohn, der aus Sherlock Holmes’ Worten sprach, aber er beherrschte sich.

Sherlock Holmes ging hinaus, ohne Hopkins dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er wusste, bei diesem Mann musste er auf alles gefasst sein.

Die Gasse, welche der Detektiv nun betrat, schien menschenleer zu sein. Mit ein paar raschen Schrittest nach links schlüpfte Sherlock Holmes in einen Hausflur hinein.

Gleich darauf erschallte aus seinem Versteck ein leiser, aber dennoch ziemlich weithin hörbarer Pfiff. Es war offenbar ein Signal für einen Aufpasser oder Gefährten, den Sherlock Holmes da draußen herbeirief.

Nach wenig Augenblicken tauchte eine kleine Gestalt aus dem Nebel empor, der sich allnächtlich über die Gegend am Themseufer herabsenkt. Es war Holmen kleiner Gehilfe, der schmierige, aber schlaue Junge, der offenbar in größter Eile gelaufen war.

»Wo sind die beiden?«, fragte Holmes, »Du hast sie vorhin hineingehen sehen, sie sind auch wieder herausgekommen? Die Inder waren da. Welche Richtung haben sie eingeschlagen?«

»Sie sind zur Themse hingegangen«, lautete die leise Antwort, »sie gingen zu einer der Brücken, an denen die kleinen Schlepper anlegen.«

»Dachte ich es doch«, murmelte Sherlock Holmes, »sie sind von jenseits des Flusses gekommen, um nicht verfolgt zu werden. Und sie werden sicherlich abgeholt. Rasch, Junge, zeige mir die Richtung, Hopkins wird gleich nachkommen, denn der rechnet damit, dass ich den beiden nachgehe.«

Der Londoner Nebel war häufig ein Verbündeter der Verbrecher, aber auch Sherlock Holmes kam der Nebel nun zustatten, als er mit seinem kleinen flinken Gehilfen in die Dünste hineintauchte. Zum Themsekai ging es hinüber, in atemloser Hast und so geräuschlos als möglich, während der Junge den Weg zeigte, den Nan Sing und das Mädchen eingeschlagen hatten.

Sherlock Holmes hatte schon vorhin bemerkt, dass die beiden nur langsam dahinschritten. Nun hatte er sie bereits erreicht.

»Ich sehe sie«, flüsterte er dem Jungen zu. »Nun mach, dass du fortkommst. Du kennst Hopkins, sieh zu, dass du ihn vielleicht noch ein bisschen aufhältst. Misstrauisch, wie er ist, wird er dir vielleicht ein Stück nachrennen. Ich brauche noch ein paar Minuten Zeit, um zu dem Platz zu gelangen, wo ich weiter beobachten will.«

Der Junge verschwand im Nebel, Sherlock Holmes aber befand sich nun am Geländer, welches sich am Ufer der Themse hinzog. Da kurz vor ihm waren der Inder und seine rätselhafte Gefährtin auf eine der Brücken getreten, die in die Themse hinausragten und an denen die kleinen Schleppdampfer anzulegen pflegten.

Sherlock Holmes wusste, dass Hopkins sicherlich bald hinter den beiden herkommen würde, vielleicht folgten auch noch andere verdächtige Männer. Der Detektiv durfte sich nicht zeigen, aber sein Plan war bereits gefasst, und geräuschlos wie eine der Brillenschlangen Nan Sings kroch Sherlock Holmes in das Gebälk unter die Brücke hinunter.

Da hing er nun dicht über den gurgelnden Wassern der Themse. Sherlock Holmes war mit der Bauart dieser Brücken vertraut, denn es war nicht das erste Mal, dass er solchen ungewöhnlichen Platz als Lauscherposten benutzte. Wie eine Katze kletterte er an den Streckbalken entlang, bis er das Ende der Brücke erreichte.

Dort musste der Inder und seine Gefährtin stehen, und zwar über dem Detektiv. Sherlock Holmes war nur durch zwei zolldicke Bretter von ihnen getrennt, und da sich in diesen Brettern schmale Lücken befanden, so konnte er alles hören, was da oben gesprochen wurde.

Deutlich vernahm er das Schluchzen des Mädchens, welches noch immer weinte, dazwischen hörte er das ungeduldige Trappeln des Inders, der ruhelos über ihm hin und her lief.

»Hör auf zu weinen, Nauma«, hörte Sherlock Holmes plötzlich in dem ihm wohlbekannten indischen Dialekt den Alten sagen. »Hör auf zu klagen. Geschieht doch alles nur um deinetwillen, damit du reich und mächtig wirst, wie es unsere Vorfahren ehedem gewesen sind.«

»Oheim, was hast du getan?«, entgegnete das junge Mädchen mit gedämpfter, aber deutlich vernehmbarer Stimme. »Die Schlange war gereizt, und für den Seemann war es die einzige Rettung, dass er das Tier mit dem Krug zerschmetterte. Er hätte dich festnehmen lassen können.«

»Weshalb denn?«, erwiderte der alte Mann knurrend, während er unablässig nach allen Seiten umherspähte. »Das konnte er nicht tun, denn er hatte nicht den geringsten Beweis, dass die Schlange ihn angreifen sollte. Selbst wenn er mich hätte verhaften lassen, würde es ihm nichts genützt und mir nichts geschadet haben, denn ich hätte alle böse Absichten geleugnet und alles auf einen unglücklichen Zufall geschoben. Weine nicht mehr, Nauma. Deine Klagen gelten nur der Sehnsucht nach der Heimat. Und dieser Wunsch soll bald befriedigt werden. Nur noch wenige Wochen, dann verlassen wir das Land mit seinen grauen Nebeln, dieses Land, in welchem die glühende Sonne Indiens fehlt. Dann fahren wir heim, denn unser Zweck ist erreicht. Wir haben das, was wir erlangen wollten. Es kann uns gar nicht fehlschlagen.«

»O, darüber will ich nicht reden«, klagte das Mädchen mit unendlich weicher und wohllautender Stimme, »das Furchtbarste ist nur, dass du in deiner glühenden Rachsucht auch noch zwei verderben willst, welche doch gar keine Schuld tragen.«

»Hör auf«, zischte Nan Sing. »Du bist eben ein schwaches Geschöpf, du bist leidend, deshalb verzeihe ich dir alles, was du sprichst. Sind die beiden nicht die Kinder jenes Mannes, welcher so treulosen Verrat übte? Der deine Mutter verließ und dadurch ihren Tod herbeiführte? Seit jenem Tag hasste ich ihn und sein ganzes Geschlecht, und ich will es austilgen, denn so befehlen es unsere Götter.«

»O, wäre ich doch deinem Verlangen nie nachgekommen«, erwiderte das Mädchen, offenbar in tiefster Verzweiflung, »hätte ich vorher gewusst, was sich hier ereignen würde, dass ich Zeuge jener entsetzlichen Vorfälle sein müsste, ich wäre nie deinem Willen nachgekommen. Nie hätte ich meine geliebte Heimat verlassen. Furchtbar, furchtbar ist es. Nachts, wenn ich schlafe, fahre ich jählings empor, dann höre ich das dumpfe Schnappen, das laute Aufschlagen des Brettes, den Sturz und den gellenden Schrei und dann das dumpfe Röcheln. Das wird mich verfolgen bis zu meiner letzten Lebensstunde. Die Klappe …«

Das junge Mädchen hielt jählings inne, und Holmes war fest davon überzeugt, dass der unheimliche Inder entweder seine Hand auf den Mund des zarten Mädchens presste oder dass er gar in seiner Erregung mit seinen krallenartigen Fingern den Hals Nauman umfasste.

Er war nahe daran, aus seinem Versteck hervorzukommen, aber er besann sich noch rechtzeitig.

»Bin ich denn noch Sherlock Holmes?«, sprach er zu sich selbst, »wahrhaftig, beinahe hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Torheit begangen. Freilich, jetzt ist es wie Schuppen von meinen Augen gefallen. Nur noch einen Namen muss ich wissen, nur noch einen einzigen Namen.«

Nan Sing schien nun das Mädchen wieder losgelassen zu haben, wenigstens hörte Sherlock Holmes von Neuem das Weinen und die Schritte des Mannes, der dicht über seinem Kopf herumstampfte.

»Gut ist es, dass niemand in der Nähe ist«, knurrte Nan Sing, »freilich gebrauchen wir unsere geliebte heimische Sprache, aber jener Mensch, den mir unser Freund zeigte, der hat in derselben Sprache zu mir geredet. Nauma, sei still, du weißt, Kind, dass ich dich liebe, aber jenen Mann in der Matrosenkleidung, den hasse ich. Ich habe das Gefühl, als würde er uns noch einmal begegnen. Doch dafür lasse unseren Freund sorgen.«

»Den nennst du Freund?«, erwiderte das Mädchen. »Mich graust es, wenn ich ihn sehe. Zwar ist er jung und schön und spricht freundliche Worte zu mir, aber ich lese in seinen Augen, dass er ein schlechter Mensch ist und dass er auf Unheil sinnt. Du vertraust ihm, aber denke an mich. Er wird alles allein haben wollen, alles, er gebraucht uns jetzt nur als Mittel zu seinem Zweck, und wenn er den erreicht hat, dann wird er erst sein wahres Gesicht zeigen.«

»Nein, ich weiß es besser«, knurrte der Inder, »er meint es gut mit uns. Er hat für uns gesorgt, als wir nahe daran waren, hier ins Elend zu geraten, als du krank darniederlagst und ich ebenfalls das heimtückische Klima dieses kalten, feuchten Landes nicht zu ertragen vermochte. Er war es, der uns zu Garry führte, zu dem Mann, der mit unserem Heimatland in Verbindung steht und wo wir wenigstens in den Zimmern des alten Hauses an die geliebte Heimat erinnert werden. Er hat es getan, und deshalb muss ich ihm dankbar sein.«

»Er tut es nur aus Eigennutz, verlass dich darauf, Oheim, ich lese in seiner Seele, wenn er uns nicht mehr gebraucht, so wird er kaltblütig …«

Das junge Mädchen hielt abermals jählings inne, und auch Sherlock Holmes zeigte nun die Regungslosigkeit einer Marmorstatue. Schritte erklangen auf der Brücke. Es schienen zwei Männer zu sein, die eilig über die Bretter rannten und sich allem Anschein nach dem Inder und dessen Gefährtin näherten.

»So, da sind wir«, sprach eine Stimme, die Sherlock Holmes sofort erkannte. Es war Hopkins, der noch mit einem anderen Mann die Brücke betreten hatte. »Die anderen sind noch nicht da? Nun, sie haben nicht gewusst, dass wir schon so früh kommen würden.«

»Ist auch keine Gefahr vorhanden?«, fragte Nan Sing in englischer Sprache. »Der Mann in der Seemannskleidung besaß Augen, vor denen ich mich fürchtete. Und er kannte die Sprache meiner Heimat. Kann er uns nicht folgen?«

»Seid unbesorgt,« erwiderte Hopkins, »einer von den Jungen passt am Kai auf, und der gibt sofort das Signal, wenn er etwas Verdächtiges bemerkt. Nein, in dieser Nacht haben wir von diesem Menschen nichts mehr zu fürchten. Ihr wart schon eine ganze Weile fort, als er die Opiumkneipe verließ. Er sucht Euch vielleicht in den Straßen oder in anderen Restaurants, er hat keine Ahnung, dass Ihr zur Themse gegangen seid, noch weniger wird er vermuten, dass Ihr in einem Boot vom anderen Ufer herübergebracht wurdet. Wir müssen nun allerdings eine Weile warten, bis das Boot kommt, das uns hinüberholt. Das war doch eine prächtige Idee von mir, auf diese Weise entgehen wir jeder Beobachtung. Denn wenn auch dieser Sherlock Holmes noch so schlau ist, über die Themse kann er uns nicht folgen. Oder er müsste denn hinüberschwimmen und das dürfte ihm schwerlich gelingen. Nein, das lässt er bleiben, und ein Boot hat er nicht zur Verfügung, denn die gibt es hier nicht.«

Eine Weile herrschte oben Schweigen, aber Sherlock Holmes, der dicht unter den Brettern an die Balken geschmiegt lag, verspürte plötzlich ein seltsames Gefühl. Es war ihm, als ob etwas Feuchtes, Kaltes durch seine Kleidung dränge.

Etwas erstaunt ließ er die Hand sinken. Sie tauchte ins Wasser, und da wurde Sherlock Holmes klar, in welcher gefährlichen Lage er sich befand.

Die Flut war nämlich eingetreten, und die Themse, in der sich ja die Meeresflut fast genauso zeigt wie an der Küste, stieg rasch. Der Detektiv musste damit rechnen, dass das Wasser bis zu den Bohlen stieg, ja, sogar durch die Lücken derselben drang: Es war nichts Seltenes, dass das Wasser sogar einige Zoll hoch die Brücken bedeckte.

Der Detektiv hörte auch, dass seine Gegner über ihm das Steigen der Flut bemerkten, er vernahm, wie Hopkins seinem Begleiter und dem Inder riet, sie sollten, wenn das Wasser hochstieg, sich auf das Brückengeländer setzen.

Nun war für Sherlock Holmes die Situation höchst peinlich geworden. Zwar hätte er zu gern noch eine Weile gelauscht, um zu erfahren, was von Bedeutung für ihn sein konnte, doch hatte er das Wichtigste ja schon erlauscht. Der Name Garry war es gewesen, der mit einem Schlag die Dunkelheit zerstreut und wie ein greller Lichtstrahl durch die Finsternis leuchtete, welche das Tun und Treiben der von Sherlock Holmes Gesuchten umgab.

Nicht minder waren es auch die Worte Naumas gewesen, welche Sherlock Holmes die richtige Spur wiesen. Freilich stand ihm noch eine gefährliche Aufgabe bevor.

Er musste die Verbrecher auf frischer Tat überführen, ehe sie die Spuren ihrer Verbrechen verwischen konnten.

Nun dachte er daran, seinen Platz zu verlassen, und das geschah wohl am einfachsten, wenn er unter der Brücke hinwegschwamm, unter das Wasser tauchte und weiter hinauf am Themsekai zu landen versuchte.

Das Wasser stieg immer höher, und Sherlock Holmes war soeben im Begriff, unterzutauchen und dem Ufer zuzuschwimmen. Aber als er den Balken, an den er sich klammerte, loslassen wollte, um sich schwimmend abzustoßen, fühlte er plötzlich, dass sein Bein festgeklemmt war.

Ein Balken, der jedenfalls unter der Brücke auf dem Wasser schwamm, war gehoben worden, von der steigenden Flut in die Höhe gebracht, und klemmte das Bein des kühnen Mannes so fest gegen die Brücke, dass es Holmes unmöglich war, es hervorzuziehen.

Entsetzliche Lage! Sherlock Holmes wusste, dass es ihm nicht möglich war, den Balken beiseitezustoßen, denn dazu war Letzterer zu groß und zu schwer, auch hätte er durch das leiseste Geräusch die gefährlichen Menschen auf der Brücke argwöhnisch und auf sich aufmerksam gemacht.

Jeder andere wäre in dieser entsetzlichen Lage verzweifelt. Sherlock Holmes aber bewahrte seine eiserne Selbstbeherrschung, obwohl auch er nun meinte, dass dieses neue Abenteuer verhängnisvoll für ihn ablaufen müsste.

Die Hälfte seines Körpers war bereits durchnässt, das Wasser war eisigkalt. Man vernahm das leise Gurgeln der höhersteigenden Wasser, und Holmes war es zumute, als ob der Tod zollweise herankröche. Nur fünf Zoll noch brauchte das Wasser zu steigen, dann befand sich der Kopf des Detektivs unter dem Wasser, dann begann der letzte verzweifelte Todeskampf, und die Verbrecher konnten triumphieren. Man würde den berühmtesten Detektiv der Welt als Leiche aus der Themse fischen.