Die Gespenster – Vierter Teil – 10. Erzählung
Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil
Zehnte Erzählung
Die Doppelerscheinung des Freiherrn von Reisewitz in Oberschlesien
Nebst einem Anhang
Um das Jahr 1736 unterhielt der damalige Besitzer der Herrschaft Muschen in Oberschlesien, Herr Freiherr von Reisewitz, der nämliche, welcher nachher als Hofmarschall des Prinzlich-Ferdinandischen Hofes um das Jahr 1761 zu Berlin starb, freundschaftlichen Umgang mit dem zu Ranken bei Brieg verstorbenen, damals aber noch zu Löwen als Prediger angestellten Magister Rötscher. Einst war dieser, wie schon öfter der Fall gewesen war, auf einige Tage zu Besuch in Muschen. Das Gespräch fiel von ungefähr auf Geistererscheinungen, und namentlich auf die Frage von der Möglichkeit, jemand doppelt zu sehen oder an zwei Orten zugleich körperlich zu erscheinen. Der Magister leugnete dergleichen Erscheinungen, sofern sie auf eine übernatürliche Art bewerkstelligt werden sollten, gerade zu.
Eines Tages unterhielt man sich über andere Gegenstände. Man fand nötig, in einem Buch nachzuschlagen, um die eine oder die andere Behauptung dadurch zu bestätigen. Der Magister war in der Büchersammlung des Freiherrn ganz zu Hause und eilte in den Bibliotheksaal, um das Buch zu holen, welches über die Verschiedenheit ihrer Meinungen den Ausspruch tun sollte. Bei dem Eintritt in dieses Zimmer fand er den Baron, den er soeben unten zurückgelassen hatte, schon hier, und bemerkte deutlich, dass er sich von dem Stuhl, worauf er saß, zu ihm hinwandte und mit einer etwas finsteren Miene ihn anblickte. Er fuhr heftig zusammen, denn teils begriff er nicht, wie der Freiherr so schnell hierhergekommen sein müsse, teils fiel ihm die Art auf, wie er ihn hier empfing. Da indessen der Magister, bevor er in den Büchersaal gegangen, erst noch auf seiner Schlafstube gewesen war, so glaubte er, der Baron habe während dieser Zeit in eigener Person das Buch rasch suchen und ihm zuvorkommen wollen. Er macht also die Tür gleich wieder zu und ging einstweilen wieder in das Unterhaltungszimmer zurück. Er setzte dabei voraus, dass der Baron vielleicht lieber ungestört lese, und dann wohl bald nachkomme. Aber wie groß war sein Erstaunen nun erst, wie er bei seiner Rückkehr in dieses unterer Zimmer bemerkte, dass der nämliche Baron, sein Wirt, noch auf eben der Stelle saß, auf welcher er ihn vorhin zurückgelassen hatte.
Dem Baron entging nicht die sichtbare Verlegenheit des ungläubigen Magisters, nicht die Miene, welche deutlich verriet, dass ihm etwas Unangenehmes begegnet sein müsse. Auf die teilnehmende Erkundigung, was ihm widerfahren sei, erzählte der Magister ohne Rückhalt und lächelnd, dass er anfange, an Doppelerscheinungen zu glauben. Indessen setzte er auch als denkender Mann zugleich hinzu: »Ich müsste sehr irren oder der Herr Baron selbst haben scherzend mich zu diesem Glauben bekehren wollen. Erlauben Sie doch, dass ich noch einmal in den Büchersaal sehe, um mich von der Natur dieser in der Tat sehr verführerischen Täuschung ganz zu überzeugen.«
Der Baron selbst begleitete ihn.
»Ich selbst«, meinte er, »muss erfahren, ob auch ich noch außerhalb dieses meines Körpers mich sehen kann.«
Einen Mann, wie den verstorbenen Magister Rötscher, konnte die Täuschung, so überraschend und groß sie auch war, nun freilich nicht länger im Irrtum lassen. Zwar wandte sich der Baron Nummer Zwei im Büchersaal abermals zu dem Baron Nummer Eins und dem Prediger hin, indem beide in den Saal traten. Indessen schon die völlige Gleichförmigkeit in der Bewegung des Barons Nummer Zwei trug dazu bei, dass der Magister in dem Letzteren ein lebloses Bildnis ahnte und dem wahren Zusammenhang der Sache nun sogleich auf die Spur kam. Bei näherer Untersuchung des vermeinten Gespenstes zeigte es sich, dass Herr von Reisewitz seinem wohlgetroffenen Wachsbild in Lebensgröße genau solche Kleidung, wie er gewöhnlich trug, hatte anlegen, dem ganzen Körper aber durch einen geschickten Künstler, eine solche Beweglichkeit hatte geben lassen, dass ein Teil desselben mithilfe eines Drahtes, der mit der Saaltür in geheimer Verbindung stand, zu denjenigen sich umwandte, der in diesen Saal eintrat.
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Ein hierher gehöriger Nachtrag zur fünften Erzählung des ersten Bandes
Der erst Königlich-Preußische, dann Prinzlich- Ferdinandische Landbaumeister Meinecke zu Magdeburg veranschlagte um das Jahr 1758 den Bau einiger Schleusen des die Elbe und Havel verbindenden Plauenschen Kanals zu zwanzigtausend Taler. Friedrich der Einzige, von Unredlichen so oft getäuscht, fand auch diesen Anschlag viel zu hoch und argwöhnte, ein Landbaumeister, der es wagen könne, ihm einen so ungeheuren Anschlag vorzulegen, müsse mit den dabei mit interessierten Lieferanten und Handwerkern durchstechen, um bei dieser Gelegenheit auf Kosten des Staats einen unverhältnismäßig großen Gewinn zu machen. In diesem grundlosen Verdacht wurde er besonders durch einen seiner damaligen Günstlinge bestärkt, welcher – ich will annehmen – zwar nicht mit bösem Willen, aber doch ohne Sachkenntnis, und folglich unüberlegter Weise sich erbot, das angeblich viel zu hoch Veranschlagte für fünfzehntausend Taler zu liefern. Der Landbaumeister Meinecke wurde daher, des vermeintlichen Staatsbetruges wegen, durch die damals in Magdeburg befindliche Landmiliz, unvermutet verhaftet. Der Garnisonauditeur bekam hierauf Befehl, sich mit einigen von der Miliz zur Wohnung des Verhafteten im Haus des Brauers Vattier in der Großen Marktstraße zu begeben, um die Papiere desselben zu untersuchen. Aber wie sehr erschraken Auditeur und Mannschaft, als sie beim Eintritt in die Wohnstube des Landbaumeisters ihn selbst, den sie soeben im Arresthaus zurückgelassen hatten, vor dem Schreipult beschäftigt, wiederfanden! Bestürzt flohen sie alle davon, meldeten das spukhafte Abenteuer und bezeugten sich gegenseitig die Wirklichkeit dessen, was sie einstimmig aussagten.
Bei näherer und kaltblütiger Untersuchung fand sich, dass die Erscheinung, welche man für den Landbaumeister selbst gehalten hatten, nur sein wohlgetroffenes und sehr täuschend gearbeitetes Wachsbild in Lebensgröße war. Das nämliche Bildnis wird zum dankbaren Andenken an diesen milden Schulfreund noch in der reformierten Schule zu Magdeburg aufbewahrt. Beiläufig bemerke ich noch, dass Meineckes Unschuld in Betreff des Bauanschlages durch den Erfolg der Unternehmung jenes Schmeichlers auf das Genugtuendeste an den Tag kam.