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Die Gespenster – Erster Teil – Fünfte Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Fünfte Erzählung

Beweis, dass sich wirklich zuweilen ein Mensch an zwei Orten zugleich sehen lassen kann1

Zu Magdeburg lebte noch vor wenigen Jahren der wohlbekannte Landbaumeister Meineke, der sich auf eine ganz unbezweifelte Art auf die Kunst verstand, sich, so wie er leibt und lebt, an zwei verschiedenen Orten zugleich sehen zu lassen. Ich will, statt mehrerer, nur folgende zwei hierher gehörige Tatsachen von ihm erzählen, welche diese Behauptung auf das Überzeugendste beweisen.
Er fuhr einmal mit seinem eben erst in Dienst genommenen Bediensteten zur Stadt hinaus, um eine Geschäftsreise nach einem benachbarten Landgut zu machen. Kaum war er aus dem Tor und außerhalb der Magdeburgischen Festungswerke, so erinnerte er sich, dass er vergessen habe, eines seiner mathematischen Instrumente, welches er in seinem Amtsgeschäft gebrauchen wollte, mit in den Wagen zu legen. »Halt, Kutscher!«, rief er.
Friedrich, so hieß der neue Diener, musste eiligst in die Stadt zurücklaufen, um das Vergessene aus seiner Wohnung zu holen. Er gab ihm den Schlüssel zu dem Zimmer und beschrieb ihm genau den Ort, wo er das Instrument in demselben finden würde. Diese Genauigkeit schien ihm umso nötiger, da Friedrich bisher noch nicht in diesem Zimmer gewesen war. Um recht bald wiederzukommen, beschleunigte dieser seinen Weg nach Hause, so sehr er konnte, und nahm alle Richtwege, die zu nehmen waren. Er gelangte unaufgehalten so bald wie möglich in der Wohnung seines Herrn an, öffnete das Zimmer, wozu er den Schlüssel bekommen hatte, und trat in dasselbe ein. Aber – hilf Himmel! Welch wunderbare Erscheinung hatte der arme Friedrich daselbst! Er sah den nämlichen Landbaumeister Meineke, den er soeben im Wagen außerhalb der Stadt zurückgelassen hatte, hier abermals, wie er spukend am Tisch saß und leibhaftig und mit unverwandten Blicken in einem Buch las.
Friedrich hatte bei diesem äußerst rätselhaften Anblick einen fürchterlichen Schreck, fuhr rückwärts mit einem eiskalten Schauder wieder zur Tür hinaus und wurde von den übrigen Hausleuten in einem Zustand gefunden, welcher an Ohnmacht und Sprachlosigkeit grenzt. Man begriff nicht, was ihm widerfahren sein müsse, und brachte ihn zu Bett. Es verging wohl eine Stunde, bevor er sich wieder etwas erholte, und man ein verständliches, zusammenhängendes Wort aus ihm herausbringen konnte.
Dem Landbaumeister vor der Stadt dauerte indessen Zeit und Weile lang, ehe das Vergessene gebracht wurde. Da endlich der Bedienstete gar nicht wieder kommen wollte, fuhr er, höchst unwillig, in eigener Person in die Stadt und zu seinem Haus zurück. Auch hatte er allerdings dem langsamen Diener wegen seines ungebührlichen Ausbleibens einen derben und fühlbaren Verweis zugedacht.
»Wo ist Friedrich?«, rief er zum wiederholten Mal, da er kaum ins Haus getreten war.
»Ja, Friedrich«, bekam er zur Antwort, »liegt im Bett. Wir fanden ihn halb tot vor der aufgeschlossenen Stubentür liegen, und kein Mensch hat bisher aus ihm herausbringen können, was ihm widerfahren sein muss.«
Diese durchaus unerwartete Auskunft besänftigte den ungehaltenen Herrn. Er ging selbst vor Friedrichs Bett, um ihn zu fragen, was ihm zugestoßen sei.
»O Himmel!«, rief Friedrich, indem er den Landbaumeister vor seinem Bett erblickte. »Sind Sie der aus der Stube oder der aus dem Wagen?«
Der Landbaumeister sah bei dieser ihm nicht gleich verständlichen Frage und bei den wilden Blicken, die Friedrich auf ihn warf, diejenigen mit verwunderungsvollen Augen an, die ihn zum Bett begleitet hatten.
»Ich glaube«, sagte er, »der Kerl hat das Unglück gehabt, verrückt zu werden.«
Erst nach langem Hin- und Herfragen klärte sich der obwaltende Irrtum am. Der Landbaumeister nämlich hatte sich in Lebensgröße in Wachs poussieren lassen, und der Künstler hatte ihn entsprechend ähnlich nachgebildet. Dieses Wachsbild, das mit einem Buch in der Hand und am Tische sitzend, emsig zu lesen schien, war in eben dem Zimmer aufgestellt, aus welchem Friedrich das vergessene Instrument holen sollte, und worin er, wie gesagt, vorher noch nie gewesen war. Auch hatte er überhaupt dergleichen allerdings sehr betrügerische Wachsarbeit noch niemals gesehen. Ihm war daher der Gedanke an eine solche Täuschung gar nicht einmal eingefallen und er hatte beim Eintritt ins Zimmer, worin die erschreckende Wachspuppe stand, nichts gewisser geglaubt, als dass der leibhaftige Landbaumeister, den er vor dem Tor im Wagen gelassen hatte, sich spukend an zwei verschiedenen Orten zugleich sehen lassen könne. Auch verstärkte natürlich die Erhitzung, in welche er durch das schnelle Laufen geraten war, die üble Wirkung, die der Schreck auf seinen Körper machte.
Ein anderes Mal schützte dies nämliche Wachsbild seinen Herrn vor einem Diebstahl. Ein nichtswürdiger Herumläufer, der sich in die Häuser einschlich und seine Geschicklichkeit in Petschaftstechen anpries, um eine Gelegenheit zum Stehlen zu erlangen, kam in dieser Absicht unter anderen auch in die Wohnung des Landbaumeisters, der eben auszugehen im Begriff war. Dieser wies ihm sogleich die Wege und ging indessen selbst zur Stube und zum Haus hinaus.
Der Dieb hatte bemerkt, dass der Landbaumeister bei dem Ausgehen vergaß, seine Stubentür zu verschließen, und beschloss sogleich, diesen Umstand zu benutzen. Zuvörderst beobachtete er, wohin der Landbaumeister gehen würde. Da er ihn bald um eine Straßenecke gehen sah, so glaubte er nun ganz sicher in dessen Wohnung zurückkehren und zur Ausführung seines Diebesplanes schreiten zu dürfen. Er kam glücklich und – wie er wenigstens glaubte – unbemerkt bis an die unverschlossene Stube. In der Ungewissheit, ob niemand darin sei, klopfte er erst ein paarmal behutsam an. Es erfolgte zu seiner Freude kein Herein! Er säumte nun nicht, machte die Tür sachte auf und trat hinein. Aber, o weh! Mit einem fürchterlichen Schrei und zitternd an allen Gliedern stürzte er in dem nämlichen Augenblick wieder aus dem spukenden Zimmer zurück und rannte wie ein toll gewordener Mensch die Treppe hinab, um die Haustür zu suchen und eiligst zu entfliehen. Einer von den Hausleuten, der Gelegenheit hatte, den Schleicher unbemerkt von Anfang an zu beobachten, stürzte eiligst hinter ihm her, um ihn als einen Dieb festzuhalten. Dies vermehrte seine Angst vor dem Gespenst, das er in jener Wachspuppe gesehen zu haben vermeinte, außerordentlich.
Denn da er nicht das Herz hatte, sich umzusehen, und nicht wusste, dass er beobachtet worden war, so glaubte er wahrscheinlich, der ihn Verfolgende sei kein anderer als der spukende Landbaumeister selbst.
Indem trat nun auch der Landbaumeister Nummer eins wieder in das Haus. Dieser hatte noch gar nicht weit von seiner Wohnung sich erinnert, dass er vergessen habe, die Stube zu verschließen und war deshalb wieder umgekehrt. Der Dieb fuhr schaudernd vor ihm zurück, und es ist unbeschreiblich, in welche sichtbare Angst der bloße Anblick der beiden Landbaumeister ihn versetzt hatte. Er zitterte wie ein Espenblatt, sah wild um sich her, als ob seine Blicke den oben in der Stube gesehenen Landbaumeister suchten, und versicherte unter tausend Schwüren, dass er auch nicht einmal eine Stecknadel gestohlen habe.
Jener aus dem Haus, der ihn, während dass er auf Dieberei ausging, beobachtet hatte, bestätigte zwar diese Versicherung, indem der Landbaumeister Nummer zwei den Dieb unverrichteter Dinge zur Stube hinausgejagt habe, setzte aber auch, der Wahrheit gemäß, hinzu, dass dessen Absicht zu stehlen ganz unverkennbar gewesen sei.
Der Herr des Hauses lächelte über dieses spaßhafte Ereignis und begnügte sich, dem Petschaftstecher auf der Stelle mit dem spanischen Rohr ein fühlbares Petschaft aufzudrücken und ihn dann über Hals und Kopf zum Haus hinaus zu werfen.
Wird nun dieser Kerl nicht darauf schwören, dass es Menschen gibt, die sich an zwei Orten zugleich sehen lassen? Wird er nicht mit so manchem Gespensterseher sagen: »Ich werde mir nie abstreiten lassen, was ich mit eigenen, gesunden Augen gesehen und mit meinen Sinnen empfunden habe!«

Show 1 footnote

  1. Nach einer mündlichen Erzählung des Herrn Predigers Kuhn zu Leopoldsburg