Berliner Polizei- und Kriminalgeschichten in humoristischer Färbung – 2. Geschichte – Teil 1
Jodocus Donatus Hubertus Temme
Berliner Polizei- und Kriminalgeschichten in humoristischer Färbung
Verlag von A. Hofmann & Comp., Berlin 1858
Ein tragisches Ende
Eine Kriminalgeschichte und doch keine
Kapitel I
Der Schwur der Rache
In dem großen Haus Molkenmarkt Nr. 3 befanden sich in einem kleinen Zimmer zwei Treppen hoch zwei Personen, ein kleiner runder Mann mit einem roten Gesichte, und ein langer hagerer Mann mit einem blassen Gesicht.
Das große Haus am Molkenmarkt Nr. 3 zu Berlin ist bekanntlich das Kriminalgerichtsgebäude, oder wie der Berliner sagt, das Kriminalgericht.
Die Stube, in welcher die beiden Männer sich befanden, war eine Verhörstube des Kriminalgerichts. Sie war es. Nun gibt es schon seit mehreren Jahren keine Verhörstuben mehr. Das neue öffentliche mündliche Strafverfahren mit einem Staatsanwalt und mit Geschworenen hat auch die Verhörstube mit ihren Inquirenten abgeschafft und dafür Instruktionszimmer mit einem Instruktionsrichter eingeführt, in denen übrigens genau so verfahren wird, wie in den Verhörstuben des alten schriftlichen Inquisitionsprozesses.
Der kleine runde Herr mit dem roten Gesicht war der Inquirent der Verhörstube, der Kriminalgerichtsrat, oder wie seine Untergebenen zu ihm sagen mussten, Stadtgerichtsrat Pannemann.
Der lange hagere Mann mit dem blassen Gesicht war sein Kriminalprotokollführer Köpke.
Der Kriminalgerichtsrat war soeben in die Verhörstube eingetreten, hatte Hut, Stock und Handschuhe abgelegt und sich an seinen Arbeitstisch begeben. Auf diesem lagen, musterhaft geordnet, seine Arbeiten für den heutigen Tag; auf der einen Seite die Akten, in denen zu dekretieren, auf der anderen die, in denen zu inquirieren war. Köpke hatte sie so musterhaft geordnet, er hatte auch, wie immer, noch mehr getan. Die Decernenda hatte er schon abdekretiert; der Rat musste nur seinen Namen darunterschreiben; ob er sie auch durchlesen wollte, stand in seinem Belieben. In den Terminakten hatte der fleißige Protokollführer die Protokolle schon fertig gemacht. Der Rat musste nur noch die vernommenen Personen wieder vorkommen, ihnen die Protokolle vorlesen lassen und sie befragen, ob es so richtig sei.
Dies war indes nicht in allen Sachen so. Denn, wie gesagt, hatte der Kriminalgerichtsrat die wichtigeren sich zur eigenen Bearbeitung vorbehalten. Köpke musste sie ihm obenauf legen.
Der Kriminalgerichtsrat Pannemann besah zuerst das Aktenstück, das oben auf den Terminakten lag, also mutmaßlich zu seiner eigenen Bearbeitung stand. Er wurde überrascht, und zwar angenehm überrascht.
»Piepritz?«, rief er.
»Piepritz!«, sagte der Protokollführer Köpke.
»Und bestätigt?«
»Bestätigt.«
»Gottlob, Gottlob! Köpke, klingeln Sie.«
Über dem Arbeitstisch hing eine Schnur, die zu einer Klingel in den Verhörgängen führte. Köpke zog dreimal die Schnur. Die Verhörstube führte in dem Gang, an dem sie lag, die Nummer drei. Ein Kriminalgerichtsdiener trat ein.
»Den Piepritz«, befahl der Kriminalgerichtsrat.
»Zu Befehl, Herr Stadtgerichtsrat.« Der Diener ging zurück.
Der Kriminalgerichtsrat war so freudig aufgeregt, dass er keine Akten weiter ansehen konnte. Er ging in der kleinen Stube auf und ab.
Der Protokollführer faltete einen Bogen Papier und schrieb den Eingang ins Protokoll darauf.
»Köpke!«, sagte der Rat wichtig und vergnügt, »ich bin recht neugierig.«
Köpke nickte, zum Zeichen, dass er es glaube. Er war mit Schreiben beschäftigt, und der Rat, der selbst gern viel sprach, hatte nicht gern, wenn andere sprachen.
»Der wird Augen machen, Köpke.«
Köpke nickte.
»Es hat mir auch Mühe genug gekostet. Was habe ich dem Kerl zusetzen müssen.« Köpke nickte wieder.
»Warum antworten Sie mir nicht, Köpke.«
»Ja, er war sehr zäh«, antwortete Köpke mit einer melancholischen Stimme.
»Ich habe ihn dennoch zur Überführung gebracht. Indicium auf Indicium, alle so sein, so delikat«, der Rat schnalzte mit der Zunge, »und doch so fest. Ich umstrickte ihn damit, wie einen Aal in einem Fischernetz. Ja, ja, ein glatter Aal war der Kerl; aber ich bin ihm doch Meister geworden. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen, Köpke?« »Ja, Herr Stadtgerichtsrat.«
»So recht habe ich selbst an die Schuld des Menschen nicht geglaubt.«
»Ich auch nicht, Herr Stadtgerichtsrat.«
»Aber sehen Sie, Köpke, er ist ein so alter und so oft bestrafter Dieb und hat so oft gestohlen, ohne dass er bestraft ist. Ist er hier auch unschuldig, so hat er durch hundert andere Verbrechen die Strafe doppelt, dreifach verdient.«
Köpke nickte.
»Und ein Exempel musste an ihm statuiert werden, und darum gab ich mir auch so viele Mühe mit dem Menschen; ich selbst. Und Gott lob, ich hatte die Genugtuung, dass das Kriminalgericht meinen Indizienbeweis für genügend annahm und ihn verurteilte, und jetzt hat es auch der Oberappellationssenat bestätigt. Fünfzehn Jahre! Und gar mit Besserungsdetention! Eine lange Zeit! Er wird sich wundern. Ich bin recht neugierig.«
Die Tür ging auf. Der Kriminalgerichtsbote führte einen Gefangenen herein.
Der Kriminalgefangene Piepritz war in den vierziger Jahren, ein kleiner schmächtiger Mensch, mit einem eingefallenen erdfahlen Gesicht und mit verschleierten, eidechsenartig schillernden Spitzbubenaugen. Er hatte seit seinem zwölften Jahr die meiste Zeit seines Lebens im Untersuchungsarrest und in Zuchthäusern zugebracht.
Er trat mit einem langsamen, ruhigen Wesen und einem unbeweglichen Gesicht in die Verhörstube. Ob er jemanden darin ansah, ob er etwas darin suchte, ob er überhaupt mur auf irgendetwas achtete, konnte man bei den völlig verschleierten Augen nicht sehen. Nur einen stillen Trotz konnte man an ihm bemerken.
Der Kriminalgerichtsrat redete ihn an. Mit den ersten Worten amtlich ernst; bald konnte er aber seine vergnügte Stimmung nicht mehr verbergen.
»Piepritz, dein zweites Urteil ist gekommen. Es soll dir publiziert werden. Was meinst du wohl, wie es ausgefallen ist?«
Der Gefangene schwieg trotzig.
»Du sagst nichts, Piepritz? Du hast wohl eine Ahnung?«
Der Gefangene antwortete mit jener heiseren Stimme des Schnapses aus früherer, und der Gefängnisluft aus späterer Zeit: »Wenn es nach Recht und Gerechtigkeit geht, Herr Kriminalrat, so bin ich freigesprochen.«
»Wenn es nun nicht so wäre, bester Piepritz?«
Der Kriminalgerichtsrat war von Herzen ein grundguter Mensch, dem es auch wahrlich an Gerechtigkeitsgefühl nicht fehlte. Aber die lange Gewohnheit des Inquirierens hatte namentlich in zweierlei Weise eigentümlich auf ihn eingewirkt. Einerseits ergriff ihn gerade vermöge seines Gerechtigkeitsgefühls gegenüber den strengbindenden Vorschriften der Kriminalordnung über den Beweis, durch den es den Verbrechern so sehr leicht gemacht war, sich durchzulügen, manchmal ein zäher Eigensinn, gleichsam eine stille Wut, den leugnenden Verbrecher zu überführen, durch Indizien über Indizien den frechen Lügner wie einen glatten Aal zu umstricken und zu fangen. Andererseits, wenn er endlich seinen Zweck erreicht hatte, so bestand seine hauptsächlichste Freude darin, mit dem armen überführten Inquisiten wie die Katze mit der Maus zu spielen.
»Aber wenn es nun nicht so wäre, bester Piepritz?«, fragte der Kriminalgerichtsrat.
»Herr Kriminalrat, noch gibt es in Preußen Gesetze und gerechte Richter.«
»Du könntest dich doch irren, guter Piepritz.«
»Da drinnen, Herr Kriminalrat?«
»In deiner Freisprechung.«
»Na, lassen Sie hören.«
»Dein erstes Urteil ist lediglich bestätigt worden.«
»Lassen Sie es mir vorlesen, wie es Vorschrift ist«, sagte trotzig der Gefangene.
Der Rat musste vorlesen.
»In der Kriminaluntersuchungssache gegen den Arbeitsmann Leonhard Friedrich Wilhelm Piepritz aus Berlin, hat der Oberappellationssenat des Kammergerichts den Akten gemäß für Recht erkannt, dass die Erkenntnis des Kriminalgerichts zu Berlin vom 3. März 18.. lediglich dahin zu bestätigen ist, dass der Inquisit Leonhard Friedrich Wilhelm Piepritz wegen zweiten gewaltsamen und zugleich dritten Diebstahls außerordentlich mit fünfzehn Jahren Strafarbeit und Detention in der Strafanstalt bis zu seiner nachgewiesenen Besserung zu bestrafen ist. Von Rechts wegen …«
Damals dachte man bei der Strafe noch an Besserung des Verbrechers. Nun ist alles absolute Strafrechtstheorie.
Der Gefangene hatte der Vorlesung mit seinem ganzen unbeweglichen Trotz zugehört.
»Soll ich dir auch die Entscheidungsgründe vorlesen?«, fragte der Kriminalrat. »Du kannst es nach dem Gesetz verlangen?«
»Inkommodieren Sie sich nicht, Herr Rat. Ich weiß doch, dass ich meine Strafe nur Ihnen zu verdanken habe.«
Der Rat rieb sich die Hände. »Ja, ja, Freund Piepritz, du warst klug, recht klug, aber …«
«Aber wir sprechen uns wieder, Herr Kriminalrat. Fünfzehn Jahre sind zwar eine lange Zeit.«
»Ja, ja, eine recht lange Zeit!«
»Aber sie gehen vorüber, Herr Kriminalrat.«
»Und vergiss auch die Besserungsdetention nicht, bester Piepritz.«
»Herr Kriminalrat, was die anbetrifft, so werde ich vom ersten Tage an im Zuchthaus mich so bessern, dass ich keine Stunde länger sitzen muss als meine fünfzehn Jahre. Und wissen Sie auch, warum, bester Herr Kriminalrat? Um genau nach fünfzehn Jahren mit Ihnen wieder sprechen und Ihnen dafür danken zu können, dass ich so lange Zeit im Zuchthaus mich habe bessern müssen.«
Der Mensch hatte, während er diese Worte mit seinem vollen ruhigen Trotz drohend sprach, die verschleierten Augen weit geöffnet. Es waren ein paar große hellgrüne Augen. Sie schossen Blitze auf den Kriminalgerichtsrat.
Der arme Rat sah sie vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er musste sich den Angstschweiß von der Stirn wischen.
»Köpke , haben Sie das Protokoll fertig?«, fragte er.
Köpke hatte das Protokoll fertig. Er las es dem Inquisiten vor.
Der Inquisit unterschrieb es ruhig.
Dann erhielt der Gerichtsdiener einen Wink, ihn abzuführen.
Aber in der Tür drehte sich der Gefangene noch einmal um.
»Ich komme nach Spandau, Herr Kriminalrat?«
»Als schwerer Verbrecher, ja.«
»Und wann werde ich abgeführt?«
»Morgen.«
»Also morgen über fünfzehn Jahren, Herr Kriminalrat! Vergessen Sie mich nicht!«
Er verließ das Zimmer.
»Das ist ein gefährlicher Mensch, Köpke«, sagte der Kriminalrat. »Fünfzehn Jahre sind Gottlob eine lange Zeit!«
Köpke nickte.
Dem Kriminalgerichtsrat aber war der Schreck in die Beine gefahren. Er musste sich auf seinen Stuhl setzen und lange ausruhen, bevor er seine Arbeit wieder beginnen konnte.
Der Gefangene wurde in seine Zelle zurückgeführt.
Er hatte bisher allein darin gesessen. Bei seiner Rückkehr traf er einen Mitgefangenen.
Es war ein kleiner, verwachsener, sehr hässlicher Mensch, der aber gewandt aussah und außerordentlich listige Augen hatte.
Der Gefangene Piepritz kannte ihn nicht. Er betrachtete ihn eine Weile aufmerksam. Dann redete er ihn an: »Wie heißen Sie?«
»Friedrich Schulze ist mein Name.«
»Mir unbekannt. Sind Sie schon öfter hier gewesen?«
»Es ist das erste Mal.«
Piepritz sah Friedrich Schulz mit einiger Geringschätzung an. »Weshalb sitzen Sie?« »Ich soll einen Bauern um zehn Silbergroschen betrogen haben.«
Piepritz sah den Menschen mit ungemeiner Verachtung an.
»Darum!«
Dann schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein.
»Höre Er mal, Er wird hier nicht lange sitzen.«
»Meinen Sie?«
»Unterbreche Er mich nicht. Höchstens vierzehn Tage, und wenn Er sogleich zugesteht, kaum acht Tage.«
»Sie raten mir zum Geständnis?«, fragte verwundert Friedrich Schulz.
»Was ist daran gelegen, ob so ein Lump, der nur Bauern betrügen kann, ein Geständnis ablegt oder nicht. Einen zweiten oder dritten Betrug gibt es ja nicht, und also immer nur drei bis vier Wochen Gefängnis. Aber Er kennt mich?«
»Sie sind der Leonhard Piepritz?«
»Ja, der bin ich«, sagte der Dieb stolz, «und ich habe Ihm einen Auftrag zu geben. In acht oder vierzehn Tagen wird Er, wie ich sage, freikommen. Dann gehe Er zu meiner Frau, Mulacksgasse Nummer 13, vier Treppen auf dem zweiten Hof, nach hinten, und sage Er ihr, dass ich fünfzehn Jahre bekommen hätte.«
»Fünfzehn Jahre!«, rief Friedrich Schulz.
»Na, falle Er nur nicht in Ohnmacht. Er wird in seinem Leben keinen zweiten gewaltsamen und zugleich dritten Diebstahl begehen. Aber unterbreche Er mich nicht wieder und höre Er zu. Er geht also zu meiner Frau und sagt ihr das, und zugleich sagt Er ihr, sie solle recht bald nach Spandau kommen und mir Tabak bringen. Hat Er verstanden?«
»Ja, Herr Piepritz.«
»Und nun schere Er sich in seine Ecke dort.«
Der Aristokrat macht sich nirgends mit dem Proletarier gemein. Am folgenden Tag wurde Leonhard Piepritz zur Verbüßung seiner fünfzehnjährigen Strafarbeit zum Zuchthaus in Spandau transportiert.