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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wildschütz – Kapitel 30

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Dreißigstes Kapitel

Vater und Sohn

Im Verlauf des folgenden Vormittags kam auch Graf Praßlin auf seinem Schloss an. Er hatte noch nicht lange dort verweilt, als der alte Christian ins Zimmer trat und die Meldung brachte, dass Elisabeth angelangt sei und um eine Unterredung mit dem Grafen bitten lasse.

»Führe sie herein«, sagte der Letztere, »und halte unterdessen jede Störung fern. Hörst du es, selbst deine Anwesenheit würde mir lästig fallen während unseres Gesprächs.«

Christian ging weg und bald darauf erschien Elisabeth. Sie grüßte den Grafen mit Ehrfurcht und setzte sich auf sein Geheiß auf einen der umherstehenden Sessel.

»Nun«, begann der Schlossherr, »bringst du mir schon so früh was Neues von dem wilden Burschen?«

»Allerdings, Herr Graf, und ich komme nur, Ihnen zu melden, dass derselbe im nahen Wald umherschweift«, sagte Elisabeth, »die Zeit eines Zusammentreffens mit Ihnen ist auf Nachmittag festgesetzt und er wird gewiss erscheinen.«

»Noch ein Wort«, sprach der Graf, »mein Sohn weiß also bis jetzt noch nichts von seiner eigentlichen Herkunft – hast du dieselbe wirklich vor ihm verschwiegen gehalten?«

»Ja«, antwortete Elisabeth, »sie müsste dem Burschen im Traum eingefallen sein, wenn er etwas davon wissen könnte.«

»Es ist gut«, sagte der Graf, »und ich setze keinen Zweifel in deine Versicherung.«

Er winkte mit der Hand und gab somit das Zeichen, dass die alte Frau entlassen sei, allein Elisabeth blieb noch immer stehen. Sie schien noch ein Anliegen zu haben und näherte sich dem Grafen auf wenige Schritte.

»Ach, mein Herr«, sprach sie darauf, »ich habe Ew. Gnaden noch etwas in Bezug auf den jungen Mann mitzuteilen. Es ist ein für denselben sehr wichtiger Umstand und darf durchaus nicht vergessen werden.«

»So sprich«, sagte der Graf, »wenn es etwas sein sollte, das durch meine Vermittlung zum Vorteil meines Sohnes gereichen kann, so werde ich gewiss dein Verlangen zu befriedigen suchen.«

»Ich danke Ihnen für diese Zusicherung, Herr Graf«, erwiderte Elisabeth, »Sie würden dadurch das Glück Ihres Sohnes fest begründen.«

»Nun fürwahr, wenn das der Fall ist, so kannst du im Voraus darauf rechnen«, entgegnete jener, »wie konntest du an so etwas zweifeln. Sprich, du hast mich neugierig gemacht.«

»Mein armer Curt, denn so nenne ich ihn noch immer, weil die Gewohnheit zu stark für mich geworden ist, als dass ich mich so schnell ändern könnte, ist verliebt. Ich sage Ihnen, Herr Graf, er ist sterblich verliebt und würde sein Glück, das ihn jetzt erwartet, in demselben Augenblick von sich zurückweisen, in welchem ihm der Besitz seiner Liebe entrissen werden sollte.«

Der Graf schien einigermaßen verlegen. »Mein Sohn wäre verliebt, sagst du? Hm, und wer ist der Gegenstand seiner Verehrung, nenne mir denselben.«

Elisabeth schwieg einige Minuten, endlich begann sie von Neuem: »Vor einiger Zeit befand sich ein Mädchen in dem Dienst Ew. Gnaden. Das Mägdlein war hübsch und besaß das beste Herz von der Welt, sie lernte meinen Pflegesohn kennen. Er liebte sie und sie liebte ihn wieder und als er in Ew. Gnaden Gefangenschaft geriet, suchte ihm das gute Käthchen einige Erleichterungen zu verschaffen.«

»Ich weiß es«, unterbrach sie der Graf schnell, »und jene Erleichterungen bestanden darin, dass ihm die Dirne seinen Kerker öffnete und entwischen ließ – und wie du sagt, liebt er jenes Mädchen.«

»Es ist so, wie ich Ew. Gnaden gesagt habe«, erwiderte Elisabeth.

Der Graf ging einige Male auf und ab. »Das ist ein sehr unangenehmes Verhältnis«, sagte er.  »Mein Sohn kann unmöglich ein Mädchen aus so niederem Stand heiraten. Was würde die Welt dazu sagen?«

»Mag sie sagen, was sie will«, meinte Elisabeth, »ich sage so viel, dass sich Curt sehr wenig um das Urteil der Welt kümmern wird, und dass ihn nichts dazu bewegen wird, seine Neigung aufzugeben. Sie werden ihn nimmermehr dazu bringen können. Er hat es mir gesagt und dann weiß ich, dass er auch sein Wort hält, er wird niemals von Käthchen lassen.«

»Er muss und wird es auch tun, wenn er die wahren Umstände erfahren wird, und ich glaube fest, dass er eine so niedrige Neigung der Liebe seines Vaters opfern wird.«

In demselben Augenblick geschah ein ungewöhnlicher Tumult im Schlosshof. Der Graf begab sich ans Fenster und erblickte eine Anzahl Männer, die einen Gefangenen mit sich führten und mit Gewalt zum Schloss schleiften. Unter ihnen bemerkte man den Oberförster des Grafen. Der alte Valentin schnaubte vor Grimm und rieb sich zuweilen die Hände, denn er hatte nun zum zweiten Mal den gehassten Raubschützen erwischt, um ihn vor den Grafen zu schleppen. Curt, denn niemand anderes als er, war der Gefangene, war auf seiner Streiferei durch den Wald dem Förster in die Hände geraten, und da derselbe von mehreren seiner Leute begleitet wurde, so musste der Gefangene der Überzahl unterliegen. Bald darauf erschien der Oberförster Valentin vor seinem Herrn und stattete Meldung von dem Vorfall ab, indem er zugleich ein Terzerol dem Grafen übergab, welches dem Gefangenen gehörte.

»Führt den jungen Mann herein, und zwar behandelt ihn nicht grob«, sagte der Graf, »nehmt ihm seine Fesseln ab und lass ihn frei heraufkommen.«

Valentin entfernte sich, und zwar mit nicht geringem Staunen über die Gleichgültigkeit, welche sein Gebieter bei seiner dem Anschein nach so wichtigen Nachricht bewiesen hatte.

»Hol’s der Henker!«, brummte er während des Hinabgehens. »Der Herr Graf verzog kaum den Mund, um seine Zufriedenheit gegen mich zu zeigen. Wenn ich denke, wie angenehm ich ihn das erste Mal mit der Nachricht über die Gefangenschaft des verdammten Todschlägers überraschte.«

Nach Verlauf einer kurzen Zeit trat Curt herein. Elisabeth hatte sich in ein Nebenzimmer begeben, und der Graf befand sich mit seinem Sohn allein. Der Sohn seiner teuren und schwer betrauerten Amalie stand vor ihm und dieser Gedanke ergriff ihn mit unbeschreiblicher Gewalt.

Der Wildschütz blieb in einiger Entfernung stehen, er hatte seinen lebhaften Blick gegen den Grafen erhoben und schaute denselben mit bewundernswürdiger Ruhe an.

»Junger Mann«, sagte der Graf, »du bist jetzt zum zweiten Mal mein Gefangener.« »Leider!«, versetzte der Angeredete. »Das Schicksal wollte es so, dem ich zu trotzen suchte. Es würde jedoch nicht geschehen sein, hätte ich nicht Ihrer durch einen Dritten erhaltenen Aufforderung Gehör gegeben. Ich kam unter der Zusicherung in Ihre Nähe, dass man mich nicht hindern wolle, dass ich mich zu jeder Stunde wieder entfernen könne.«

»Das soll auch geschehen«, sagte der Graf, »bei meiner Ehre! Es steht dir frei, zu gehen, wenn du willst, ich meine, sobald wir miteinander fertig geworden sind. Ich halte es für eine besondere Pflicht, dir gegenwärtig diese Zusicherung zu geben, dass du von mir wegen des Geschehenen nichts zu befürchten hast.« Mit diesen Worten zog der Graf die Klingel.

»Der Oberförster soll kommen«, sagte er zu dem eintretenden Christian.

Es geschah. Nachdem Valentin erschienen war, sagte der Schlossherr: »Valentin, bisher habt Ihr getan, was Euch die Pflicht zu tun gebot. Von nun an verlange ich jedoch von Euch, dass Ihr diesen jungen Mann nicht wieder aufgreift, wenn es demselben gefallen sollte, in meinem Revier zu jagen; und diese Weisung erstreckt sich auch zugleich auf Eure Untergebenen.«

»Verzeihen, Ew. Gnaden!«, sprach Valentin, der nicht mehr wusste, ob er wache oder träume, »das heißt, wenn wir den Burschen da treffen, wenn er auch auf unserer Fährte ist und wir ihn ertappen, so sollen wir die Augen zudrücken?«

»Das habt Ihr nicht nötig, mein guter Freund«, erwiderte der Graf. »Ihr könnt es ganz ruhig mit ansehen, wenn er einen Bock niederschießt, aber verwehren dürft Ihr es ihm nicht. Jetzt geht«, fügte er hinzu, »und vergesst nicht, meinem Willen Geltung zu verschaffen.«

Valentin ging topfschüttelnd weg.

»Ich glaube, dieser Beweis ist hinreichend, um einiges Vertrauen von dir fordern zu dürfen«, fuhr der Graf fort, nachdem sie wieder allein waren, »doch ich will noch mehr tun, um dein Vertrauen zu gewinnen. Mein Oberförster überbrachte mir diese Waffe. Sie gehört dir, nimm dieselbe aus meinen Händen zurück. Das Terzerol ist geladen. Du siehst, dass ich dir jeden Vorteil über mich gewähre.«

»Herr Graf, ich staune«, sagte der Wildschütz, »und dürfte ich um eine Erklärung dieser dunklen Rätsel bitten?«

»Das darfst du, aber nur unter einer Bedingung ist es mir möglich, dasjenige, was für dich ein Geheimnis ist, zu enthüllen. Du bist frei und hast dagegen keine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Willst du aber die Ursache deiner Freiheit sowie das Nähere über andere dir sehr wichtige Dinge erfahren, dann musst du dir eine Entsagung auflegen.«

»Und worin besteht dieselbe?«, fragte der Wildschütz, »ich bin gern bereit, irgendeine Bedingung zu erfüllen, um dadurch den Beweis zu liefern, dass ich nicht undankbar bin.«

»Wohlan denn, so entsage deiner bisherigen Liebe zu jenem Mädchen, welche längere Zeit in diesem Schloss lebte und die mich hinterging, indem sie gegen meinen Willen handelte, weshalb ich sie fortgewiesen habe. Denke nicht mehr an sie zurück.«

»Gnädiger Herr«, versetzte Curt, »was Sie von mir verlangen, kann ich unmöglich erfüllen, bei Gott! Und wenn ich in diesem Augenblick Besitzer dieses Schlosses und all dessen, was dazugehört, werden sollte!«

»Wie, mein Freund, du weigerst dich wirklich? Du könntest meine Gunst auf Grund einer so geringen Ursache verscherzen wollen?«

»O, Herr Graf!«, rief Curt, »was Ihnen gering erscheinen mag, macht den Inbegriff meines ganzen irdischen Glückes aus. Käthchen ist mein Leben, mein Alles. Ihre Liebe und Treue waren die Begleiter auf meiner trüben Lebensbahn und sie gaben mir Trost und Mut, wenn der letzte Strahl der Hoffnung vor meinen Blicken verschwand. Ich kann sie nicht lassen, und wenn dadurch die Gefahr zurückkehrt, der ich entgangen zu sein glaubte, so soll eher die Kugel meine Brust durchbohren, als dass ich meine Liebe für Gunstbezeugungen verkaufen und so zu einem erbärmlichen Verräter an ihr werden will!«

Die Züge des Sprechenden begannen bei diesen Worten zu glühen und sein ganzes Wesen schien sich in diesem Augenblick umzugestalten.

»Nicht so hastig, mein Freund«, bemerkte der Graf, »ich will dir Bedenkzeit lassen und ich glaube, eine Frist von einem Monat wird dich auf andere Gedanken bringen.«

»Nein, Jahre würden es nicht imstande sein, ich werde mein geliebtes Käthchen niemals vergessen, eher möge Gott meiner nicht mehr in Gnaden gedenken!«

»Halt!«, rief der Graf, »schwöre nicht weiter, es sei, deinem Willen sollen keine Hindernisse mehr in den Weg gelegt werden. Dein Gelöbnis hat über mich gesiegt, ich trete zurück und achte deinen Entschluss. Du sollst Käthchen heiraten und als Ausstattung sollst du das schöne Freigut Hochstein erhalten. Es gehören große Waldungen dazu und dort kannst du nach Gefallen jagen, ohne meinen alten Valentin zu inkommodieren.«

»Aber, Herr Graf«, rief Curt, von Staunen ergriffen, »was soll das alles bedeuten?«

»Frage mich nicht«, sagte der Graf, »dein Schwur hat mir die Zunge gebunden, und du wirst von mir keine Erklärung erhalten. Entferne dich«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »begib dich zu deiner Braut und teile ihr den Erfolg deiner Reise zum Waldschloss mit. Gott segne Euch – das wünsche ich dir auf den Weg.

Der alte Herr, der seinem persönlichen Stolz ein so großes und schweres Opfer brachte, indem er die zärtlichen Gefühle eines Vaters gegen sein Kind verleugnete, konnte nicht umhin, sich auf die Schulter des jungen Mannes zu stützen, um an seiner Brust zu ruhen nach einem so langen Sturm, der die letzten Blüten von seinem Lebensbaum herabgerissen hatte. Sein Auge, das lange Jahre hindurch trocken geblieben war, wurde von ein paar bitteren Tränen benetzt, die in der Erinnerung an seine unglückliche Amalie geflossen waren und seine blassen, eingefallenen Wangen befeuchteten.

Nachdem der Graf allein war, setzte er sich in seinen Armstuhl; sein ganzes Wesen zeigte von großer Entkräftung. Endlich erhob er sich wieder, und als er einige Male das Zimmer durchschritten hatte, gedachte er an Elisabeth, die sich noch in dem Nebengemach befand, und ein unsichtbarer Zeuge der Unterredung des Grafen und seinem Sohn gewesen war. Auf seinen Ruf erschien die alte Frau in dem Zimmer.

»Es ist entschieden!«, sagte der Graf, »mein Sohn beharrt auf seinem Entschluss und opfert seinen Rang der Liebe jenes Mädchens, die er nicht zu verlassen entschlossen ist, was er mir durch einen heiligen Eid versichert hat. Ich will und werde ihn nicht daran hindern. Er wird so glücklicher sein, als ob er das Bewusstsein in seiner Brust mit sich herumträgt, dass er mein Sohn sei. Elisabeth«, fuhr er ergriffen fort, »du bewahrst ein rechtschaffenes Herz in deinem Busen und in deiner Gewalt ist es jetzt, das Glück meines Sohnes zu gründen fest zu begründen. Dieses Glück wird so lange dauern, bist du ihm einst mitteilst, dass er aus einem hohen Stamm entsprossen ist. Ich frage dich, könntest du jemals dieses Geheimnis an ihn verraten? Antworte mir und bedenke, dass mein ganzes Vertrauen auf deiner Verschwiegenheit beruht.«

»So wahr ich hoffe, dass mir Gott einst meine Sünden vergeben werde, so wahr ist auch die Zusicherung meines Schweigens! Der Grabhügel soll meine müden Gebeine bedecken, ohne dass meine Zunge ein Wort davon gesprochen hat. Sie verlangen, dass Ihnen Ihr Sohn als ein Fremdling gegenüberstehen soll, und ich will Ihnen denselben nicht mit Gewalt und gegen Ihren Willen in die Arme führen.«

»Schweig, und spare meinen inneren Schmerz, denn ich bin nicht gleichgültig in dieser außerordentlichen Sache; es brennt wie Feuer in meiner Brust und sie droht mir zu zerspringen. Lass mich allein, ich habe Ruhe nötig nach einem solchen Auftritt.«

Elisabeth entfernte sich hierauf und ging langsam ihrer Hütte zu, wo sich Curt bereits befand.

»Was soll ich denken, Mutter?«, rief er außer sich vor Freude und Entzücken. Großer Gott, ich kann mich in mein Glück nicht finden!« Er fing an, den erlebten Auftritt zu schildern.

»Ich weiß alles«, sagte Elisabeth, »und habe dir es im Voraus verkündigt. Du siehst, ich habe wahr gesprochen; jedoch frage mich um nichts, ich kann dir keine Erklärung über diese Dinge verschaffen. Du bist glücklich geworden; gehe hin und teile dieses Glück mit derjenigen, die du liebst. Ich gönne es euch von ganzem Herzen, und möge niemals das Missgeschick euch heimsuchen.«

Schon am nächsten Morgen begab sich Curt zu der Hauptstadt zurück, und nachdem er Käthchen aufgesucht und ihr seinen plötzlichen Glückswechsel erzählt hatte, da konnte das gute Mädchen kaum die frohe Nachricht glauben. Sie wähnte zu träumen und sank endlich dem Geliebten schluchzend um den Hals.

»Ach, wie glücklich sind wir!«, rief sie freudig, »lieber Curt, ich bin trunken vor lauter Wonne!«

Das Schicksal hatte in diesem Augenblick zwei Wesen vereinigt, die sich treu geliebt und in ihrer Liebe unerschütterlich geblieben waren, trotz der Gefahren, die ihr Glück bisher mit drohender Vernichtung umschwebten.