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Der getriebene Hermann Löns

Der getriebene Hermann Löns
Ein Vorbild für aufgeweckte Buben und Mädchen?

BÜCHER UND ZEITMASCHINEN

Vor einigen Jahren entdeckte ich beim Aufräumen meiner Bibliothek ein paar Bücher von Hermann Löns’ wieder, darunter die Bände Mein buntes Buch – Naturschilderungen (entstanden 1913) und Aus Wald und Heide – 12 Erzählungen für die Jugend (entstanden 1920); alle neu erzählt und in einer auch für 60er-Jahre-Kids lesbaren Typographie herausgegeben.

Nun bin ich nur selten einer von der rührseligen Sorte.

Aber angesichts dieser Schmöker – die ich in meiner Ende 1950er-Jahre-Jugend (vor gefühlt einer Phantastilliarde Jahren also) von Geburtstag zu Geburtstag von den Großeltern geschenkt bekam – passierte etwas mit mir. In mir.

Schlagartig fluteten mich Erinnerungen an die 1960er Jahre. An die sogenannte gute alte Zeit, in der sich meine Familie noch zu Geburts- und Feiertagen (an Weihnachten sowieso) im Haus meines Großvaters mütterlicherseits versammelte, in dessen Erdgeschoss gegenüber den Eltern meine Tante und in dessen erstem Stock meine Eltern mit ihren drei Söhnen wohnten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Ich hatte den fröhlichen Trubel wieder vor Augen, das wilde Durcheinandergeplapper, das herzliche Miteinander; sogar den Bratenduft und, mehr noch, den Weiße Eule-Tabak glaubte ich zu riechen, den mein Großvater väterlicherseits großzügig, wie er war, im ganzen Haus verpaffte.

Dies alles ist mit dem Tod der Großeltern und erst recht der Eltern und meiner Tante vergangen, die, damals schon tätig in den amerikanischen Cooke Baracks nahe der Nachbarstadt und phänomenal amerikanisiert und ein kosmopolitischer, emanzipierter Freigeist, als Einzige in meiner Familie nicht nur Zeitschriften, sondern Bücher quer durch sämtliche Genres las. (In späteren Jahren verdankte ich ihr dann die Entdeckung des Playboys und der Mister Dynamit-Romane von C.H. Guenter). Doch kürzlich nun, die Hermann Löns-Bücher in Händen, empfand ich einen großen Verlust, eine Leere. Aber auch eine Faszination darüber, mit welcher Perfektion Bücher doch abseits ihrer Handlung (auch) als Zeitmaschinen funktionieren können.

In den folgenden Tagen dachte ich darüber nach, ob und wie sich Hermann Löns’ Geschichten auf mich und das, was ich schrieb und veröffentlichte (Fantasy-, Grusel- und Spannungsromane) ausgewirkt hatten; immerhin hatte ich sie als Kind ziemlich begeistert (und bis auf einen, von dem später ausführlich noch die Rede sein wird) ahnungslos lange nach dem Tod des Autors geschmökert … noch dazuhin in einem Lebensumfeld, das in meinen 1960ern und fern vom Westenholzer Bruch, wohin er sich ab 1898 oft tagelang in eine Jagdhütte im Wald zum Schreiben zurückzog, nur noch bedingt, auf jeden Fall aber im Umbruch begriffen existierte.

Fest stand eines sofort: Auf jeden Fall hatten sie meine Naturliebe gefördert, und meine Neugier, durch die weiten Waldgebiete rings um Eislingen und bis zum (damals als unendlich fern empfundenen) Hohenstaufen zu stromern – und die Sehnsucht, hinter den Horizont zu gucken. Bis heute kenne ich mich mit Tierspuren aus und weiß nicht nur Birken von Fichten zu unterscheiden. Ich hielt und halte mich gerne im Wald auf, und spaziere am liebsten querwaldein. Obwohl ich seit 2006 am liebsten am Meer bin.

Die durch Löns entfachte Wald-Obsession wurde in jüngeren Jahren befeuert durch andere Lieblingsbücher jener Zeit, die ich allerdings – ganz anders als Löns’ Werke – immer als Abenteuerschmöker empfunden hatte: Mark Twains Huckleberry Finn (natürlich!), Gustav Rieks Roman Die Mammutjäger vom Lonetal oder David Friedrich Weinlands Rulaman, über die ich in einem Beitrag für den Zauberspiegel schon geschrieben habe.

Was meine Brüder, meine Familie, an Belesenheit leider nicht boten, fand ich bei tollen Freunden – hitzige Diskussionen über Comics, Zeitschriften (nicht nur Playboy), Schwarze Fledermaus-Heftromane, Bücher, die wir zu jener Zeit schmökerten. Genialer Weise fanden diese Debatten immer in passender Umgebung statt: im Geäst eines gewaltigen, von einem Sturm umgerissenen Baumes sitzend. In einem moosüberwachsenen rostigen Chevy-Autowrack, das von Amis der Cooke Barracks kurzerhand im Eislinger Wald stehengelassen worden war. An Lagerfeuern im dämmrigen Wald. Oder in einem Bunker – in dem wir, hinter einer Mauer, die wir in tagelanger Schufterei durchbrochen hatten –, auch einige verrostete SS-Dolche und Soldatenhelme.

Dass Hermann Löns nicht nur ein gemütlicher Jäger-Zausel und Heimatdichter gewesen war, von dem die zwar wohlmeinenden, aber nicht gerade bestens informierten Großeltern behaupteten, »aufgeweckte Buben und Mädchen« könnten viel fürs Leben lernen aus den Werken dieses Schriftstellers, sondern, dass er ein ziemlich aberwitziges, unstetes und nicht unbedingt nachahmenswertes, teilweise geradezu abstoßendes Hallodrileben führte, fand ich erst dank seiner beim Umräumen wiederentdeckten Bücher heraus. Damals recherchierte ich ihn nämlich endlich mal mit den heutigen Möglichkeiten.

AUF DER ÜBERHOLSPUR

Der auf alten Fotos vorzugsweise gemütlich in Jägerkluft, mit Jagdgewehr und Dackel abgebildete Hermann Löns wurde am 29. August 1866 in Culm, Westpreußen – dem heutigen polnischen Chelmno – als Erstes von 14 Kindern geboren. Sein Vater war Gymnasiallehrer.

Nach Versetzung des Vaters erst nach Deutsch Krone/Tucheler Heide, und 1884 dann nach Münster, legte Löns dort 1887 das Abitur ab und nahm an der Universität ein Medizinstudium auf. Die Studiengebühren konnte Löns nicht lange aufbringen und so wechselte er schon 1888 nach Göttingen. Auf Wunsch des Vaters kehrte er im Jahr darauf jedoch nach Münster zurück und schrieb sich an der dortigen Akademie für Mathematik und Naturwissenschaften ein.

Ebenfalls 1889 wurde Löns zur Musterung herangezogen und – offenbar untauglich für den Wehrdienst – dem sogenannten Landsturm zugeteilt. Sein Studium gab Löns bereits 1890 wieder auf, was (im Verbund mit seiner Alkoholsucht) zum Bruch mit den Eltern führte.

Eine Anstellung 1891 bei der Pfälzischen Presse in Kaiserslautern wurde ihm schon im darauffolgenden Jahr gekündigt. Nach einer Zwischenstation in Gera schrieb Löns 1892 in Hannover für den neu gegründeten Hannoverschen Anzeiger und arbeitete sich mit zuvor nicht gezeigter Leidenschaft zum fähigen Journalisten und vom freien Mitarbeiter bis zum Chefredakteur empor. Populär wurden seine satirisch-humorvollen lokalen Indiskretionen unter seinem Pseudonym Fritz von der Leine. 1893 heiratete er die Kellnerin Elisabeth Erbeck. Allerdings ließ er sich, nachdem sie fünf Fehlgeburten durchlitten hatte, 1901 von ihr scheiden. 1902, mittlerweile (bis 1904) Herausgeber der Hannoverschen Allgemeinen, heiratete er seine dortige Kollegin Lisa Hausmann, die ihm als intellektuell ebenbürtige, selbstbewusste Partnerin beschrieben wird und gar als Frauenrechtlerin galt.

Durch diese Ehe – Lisas Vater Gustav Hausmann war ein damals bekannter Maler mit zahlreichen Kontakten – fand Löns Aufnahme in die sogenannten besseren Kreise. 1904 wechselte er auf den Posten des Lokalredakteurs zum Hannoverschen Tageblatt, seine satirischen Plaudereien erschienen nun als wöchentliche Kolumne. Doch Ruhe fand der rastlose Löns nicht. Kaum, dass ihm seine Frau 1906 den geistig und körperlich behinderten Sohn Dettmer gebar, der den Vater um Jahrzehnte überlebte, folgte Löns seinem schon bekannten Verhaltensmuster und verliebte sich zügig neu – pikanterweise in die Cousine Hanna (Fueß) seiner Frau Lisa. Beiden schlug er eine Menage a trois vor, und als diese von der einen wie der anderen ausgeschlagen wurde, verließ er Hannover. Lisa zog die Konsequenzen und verlangte die Scheidung. Löns zog kreuz und quer durch Europa, Stationen in Davos, Innsbruck, Berlin, Wien sind verbürgt. Die Zahlung von Alimenten an seine Frau und den behinderten Sohn verweigerte er.

Ob ich also meinem aufgeweckten Kind sagen würde, von diesem Heimatdichter könne es viel lernen, bezweifle ich.

Andererseits leben wir heutzutage, nur 117 Jahre nach Löns’ scheinbar plan- und ziellosem Umherziehen, im sogenannten Informationszeitalter, in dem es Eltern (und selbst Großeltern) um ein Vielfaches einfacher ist, sich über Autoren (oder Promis allgemein) zu informieren. Und sowieso halte ich es mehr mit Simenons Lebensweisheit verstehen, nicht verurteilen.

Nach einer weiteren Zwischenstation, diesmal in Bremen, in der Redaktion der dort verlegten Zeitschrift Niedersachsen, arbeitete Löns 1907 als Chefredakteur der Schaumburg-Lippischen Landes-Zeitung, vorgeblich, um in der Kleinstadt endlich Ruhe für Romanprojekte zu haben, die er schon ab 1893 vorantrieb.

Stattdessen geriet er einmal mehr mit seinen Vorgesetzten aneinander, dieses Mal, weil die eine ganz dem höfischen Leben im Fürstentum Schaumburg-Lippe hingegebene Berichterstattung von ihm wünschten. Einmal mehr suchte Hermann Löns das Weite und schrieb die boshafte Satire Duodez, in der er am Beispiel Schaumburg-Lippe die deutsche Kleinstaaterei verspottete.

1909, manche Quellen nennen 1912, kehrte er nach Hannover zurück und lebte fortan als freier Schriftsteller mit der im Jahr 1912 gerade 22-jährigen Ernestine Sassenburg zusammen, die 17-jährig bei der Familie Löns als Kindermädchen angestellt gewesen war. Allerdings: Offiziell war sie nur seine Haushälterin. Basierend auf zahllosen Ausflügen in die Lüneburger Heide entstanden Kurzgeschichten und Erzählungen. Darunter, 1910 auch Löns’ Dahinten, in der Heide und Der Wehrwolf, der den Partisanenkampf einer niedersächsischen Bauerndorfgemeinschaft im Dreißigjährigen Krieg gegen Marodeure, Vagabunden und die schwedische Soldateska schilderte. Der Roman entwickelte sich zu einem Erfolgstitel. In der Zeit des Nationalsozialismus gewann er weitere Popularität, und die spätere Vereinnahmung von Löns und dessen Werk durch die Nationalsozialisten, so führte der Löns-Kritiker Thomas Dupke aus, hätte ohne Löns’ Zutun in Form sozialdarwinistischer und/oder rassisch-völkischer Sprüche gar nicht zustande kommen können. Überliefert ist von ihm auch seine Feindseligkeit gegenüber Frauen. »Weiber sind keine Vollmenschen, denn sie haben keine Seele, nur einen Uterus«, diktierte er Reporterkollegen in den Stenoblock (laut WDR-Stichtag Hermann Löns).

Der Mediziner Kantorowisc hielt in einem gerichtlichen Attest fest: »… (er) habe Löns wegen schwerer nervöser Störungen und eines krankhaften Wandertriebes behandelt. Zudem leide der Patient an periodischer Trunksucht.«

Nach einem redlich verdienten Nervenzusammenbruch, den Hermann Löns von Januar bis März 1910 in einem Sanatorium in Bad Zwischenahn auskurierte, vollzog sich die Wandlung vom im Branchenblatt Deutsche Presse 1931 erst posthum hochgelobten Reporter, Nachrichtenjägers von amerikanischer Frechheit hin zum Buchautor, Dichter und Naturliebhaber. In allen drei Inkarnationen wurde er gleichermaßen bekannt, mit einer Gesamtauflage seiner Bücher von zehn Millionen äußerst erfolgreich und verkehrte, vorzugsweise in dandyhaft weißen Anzügen und nicht in Jägerkluft mit Gamsbart-Hütchen, in angesehensten Gesellschaftskreisen.

Und das war ihm noch immer nicht genug.

NACH EINEM RASTLOSEN LEBEN: DIE GRAUSAMKEIT DES KRIEGES

Schon kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete Hermann Löns sich freiwillig zum Militärdienst. Die angebotene Stelle als Kriegsberichterstatter lehnte er ab. Paradoxerweise führte er dennoch Tagebuch.

 

*

 

Der Erste Weltkrieg brachte von 1914 bis 1918 weltweit über Millionen Menschen auf unterschiedlichste, schreckliche Weise den Tod, löschte Familien aus oder fügte den Überlebenden heute unvorstellbare Traumata zu; ganze Regionen wurden verwüstet und sind zum Teil bis heute verwüstet geblieben; er sprengte politische Grenzen.

Mit welch absurder, teilweise bewussten Inkaufnahme von Lügen der Konflikt von den verschiedenen Seiten geschürt und in Kauf genommen wurde, sei es, um die Luft zu reinigen, die Machtverhältnisse in Europa gründlich zugunsten der Agierenden zu verändern, Fakten zu schaffen oder individuelle Wirtschaftsinteressen durchzusetzen … Das wurde in den zahlreichen Werken der vergangenen Jahrzehnte, die diesen Krieg zum Thema haben, schon in mal mehr, mal weniger ausführlicher Form dargelegt.1 Hier also nur in der gebotenen Kürze das Löns’ betreffende Nötige dazu.

Am Anfang grassierte etwas, das man als Soldatenfieber bezeichnen kann und das viele Charakteristika einer Art kollektiven Wahnsinns in sich trägt. Alle Historiker berichten übereinstimmend von einer rauschhaften Stimmung, von der die jungen Männer der Konfliktparteien in diesem Sommer 1914 ergriffen wurden, und wie sie, erfüllt von patriotischer Gesinnung und Begeisterung, zu den Waffen eilten und sich wie Löns, damals 48 Jahre alt, freiwillig dafür meldeten, Menschen abzuschlachten, die sie niemals zuvor gesehen, die ihnen persönlich niemals etwas zuleide getan hatten.

Diese rauschhafte Euphorie patriotischer Begeisterung hielt nicht lange vor, auch das wissen die Wissenschaftler nachzuweisen.

Nachdem der deutsche Vorstoß an der Marne in der Schlacht vom 5. bis 12. September 1914 bereits gestoppt wurde und der Vorwärtsdrang der Truppen in einen Stellungskrieg übergegangen war, war der Überraschungseffekt verpufft und das Scheitern der deutschen Offensive – im Grunde genommen – absehbar.

Es schlossen sich vier Jahre Gemetzel an, und die Leidtragenden waren natürlich die Zivilisten; die Soldaten waren mehrheitlich im Dezember 1914 bereits vom Krieg und den nur schwer erträglichen Kampfbedingungen kuriert. Nicht zuletzt der legendäre Weihnachtsfriede an der Westfront setzt dafür ein deutliches Signal.2

 

*

 

Der Heideschriftsteller Hermann Löns war, als er sich freiwillig zum Militärdienst meldete, zwar ein berühmter und mit Millionen verkauften Büchern auch ein vermögender, aber kein in sich gefestigter Mann, sondern einer, der Konflikten stets – sei es in seinen beiden Ehen oder seinen Anstellungen – bevorzugt durch Weiterziehen buchstäblich ausgewichen war.

Ob er sein Verhaltensmuster mittlerweile hinterfragt hatte; ob er dieses Mal bewusst kämpfen wollte? Denn eigentlich gab es für ihn keinen triftigen Grund, sich in ein derartig unberechenbares militärisches Abenteuer zu stürzen. Dazuhin gehörte er der Generation an, die beim letzten Waffengang der deutschen Heere 1870/71 noch zu jung gewesen war, um mitkämpfen zu können (dieses Phänomen der Überkompensation sollte später bei vielen jungen Mitgliedern der NSDAP im Zweiten Weltkrieg wiederkehren), und folgerichtig war er niemals Soldat, mehr noch, bei der Musterung wurde er gerade einmal dem wenig ruhmreichen Landsturm zugeteilt.

Die Frage also, warum er unbedingt als Soldat in diesen Krieg ziehen wollte, ist bis heute umstritten. Mancher Biograf vertritt die These, Löns habe sich zu diesem Zeitpunkt ernstlich mit Selbstmordgedanken getragen und – dem altbekannten Verhaltensmuster Ausweichen getreu – den Soldatentod gesucht, um seiner Trunksucht und überhaupt allen tatsächlichen oder infolge seines Alkoholkonsums zusammenfantasierten privaten Probleme ein für allemal ein Ende zu setzen. Andere nehmen an, Löns, der schon seit vielen Jahren unstet unterwegs gewesen sei, habe eine Chance gesucht, sein Leben wie durch ein reinigendes Gewitter zu klären und so einen Neuanfang wagen zu können.

Für diese Annahme spricht insbesondere Löns’ eigene (überlieferte) Aussage, er plane, nach der Rückkehr aus dem Krieg einen Roman über den Krieg zu schreiben.

Dass er, wie so viele andere, aus diesem Krieg eben nicht mehr heimkommen könnte, daran schien er keinen Gedanken verschwendet zu haben.

 

*

 

Sein Schicksal nahm seinen Lauf. In Hannover trat Löns als Landsturmmann in die 2. Kompanie des 73. Füsilier-Landsturm-Regiments ein, das im August 1914 hastig innerhalb von 14 Tagen notdürftig ausgebildet wurde, weil für die Realisierung des sogenannten Schlieffenplans nicht genügend Soldaten zur Verfügung standen.3
Schon zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass die Quantität der benötigten Mannschaften bei Weitem unterschätzt wurde. Die personelle Ausdünnung während des Feldzuges und vor allen Dingen der Verlust der Fronttruppen zu ihren Nachschubverbindungen führte zusammen mit Fehlentscheidungen im Generalstab unter General von Moltke letztlich zu dem Desaster an der Marne.

Löns wusste davon nichts.

Seine Ausbildung endete am 3. September, und noch war er voller Optimismus, demnächst in Paris zu stehen und womöglich tatsächlich, wie von den Generalstäblern erhofft, bis Weihnachten siegreich wieder daheim zu sein.

Tatsächlich dachten damals alle Generalstäbe in den strategischen Dimensionen von 1870/71, ein Konflikt wie der kommende war ihnen unvorstellbar.

Mit dem Ende der Ausbildung am 3. September 1914 beginnt Löns’ Tagebuch, seine Eintragung sind in dem unter dem Titel Kriegstagebuch veröffentlichten Hardcover in kursiver Schrift fettgedruckt hervorgehoben gedruckt. Sie enden bereits am 26. September 1914, einen Tag, nachdem Löns an der Westfront bei einem ersten Vorstoß einem Herzschuss zum Opfer fiel.

Der im Kriegstagebuch nachzulesende Weg Löns’ bis zum jähen Heldentod, wie sein sinnloses Sterben später bizarr verklärt wurde, ist eine bemerkenswerte Dokumentation, auch über das Leben einfacher Soldaten (mag Löns auch noch so privilegiert gewesen sein, da er mit den Offizieren speisen und auf Munitionszügen mitreisen durfte, wenn er nicht mehr laufen konnte).

In dieser Dokumentation der Alltagswirklichkeit im Krieg, jenseits der Kriegspropaganda, darin liegt der eigentliche Wert des Buches.

Wir erleben mit, wie Löns zusammen mit seiner Einheit mit der Eisenbahn bis nach Köln gebracht wird, wie er schließlich bei Herbesthal die Grenze nach Belgien überschreitet und nach Nordfrankreich marschiert, wie es mal per Zug, mal per Transport, mal in Marschkolonne vorangeht. Je weiter er ins Feindesland vordringt, desto deutlicher tritt die Fratze des Kriegs zutage, Anzeichen zunehmender Verwüstung, zerstörte Gehöfte, nicht mehr bewirtschaftete Felder, dann sich verstärkende Truppenkolonnen, Schützengräben, vereinzeltes Gewehrfeuer, schließlich dauerhaftes Grollen eigenen und feindlichen Artilleriefeuers. Vereinzelte Leichname der eigenen oder feindlichen Truppen, nur die wenigsten hastig verscharrt. Die Moral der Truppe bröckelt mehr und mehr.

Das Wetter, anfangs noch sommerlich warm und trocken, verwandelt mit einsetzendem, hartnäckigem Regen die Gegend in schlammiges Niemandsland. Erkältungs- und Durchfallerkrankungen häufen sich, die Marschverpflegung besteht aus schimmelndem Brot, bei hygienischem Ausnahmezustand.

Hermann Löns’ Dasein wurde im Verlauf der wenigen Wochen seiner Kriegskarriere buchstäblich Schritt für Schritt und unaufhaltsam auf elementare Bedürfnisse reduziert, was aus seinem Tagebuch deutlich hervorgeht: Essen, Trinken, ein trockener Schlafplatz, Ruhepausen, eine Waschgelegenheit … mehr hatten die deutschen Soldaten schon bald nicht mehr im Sinn. Die Abstumpfung war allumfassend, die anfängliche Euphorie, der rauschhafte Kriegstaumel purem, desillusioniertem Vegetieren und Marschieren gewichen.

All dies, wofür in der offiziellen Kriegspropaganda jener Zeit aus nahe liegenden Gründen kein Platz war, hätte es doch den Durchhaltewillen in der Heimat und bei der Truppe untergraben, beschreibt Löns in seinem zwar nur stichwortartig geführten, jedoch unverblümt Klartext sprechenden Tagebuch eindrucksvoll.

Als er schließlich nahe der Zuckerfabrik von Loivre bei Reims ins Feuer geht, wie es damals heißt, hat er sich acht Tage lang nicht mehr gewaschen, nur notdürftig rasiert und tagelang schon an Durchfall gelitten, vermutlich hervorgerufen durch das von Schimmel befallene Brot, das eklige, das er nur mit Mühe hinunterwürgen konnte. Auch ein tagelanges Umherirren auf der verzweifelten Suche nach seiner Einheit ging dem tödlichen, anfangs so herbeigesehnten Einsatz voran.

Es lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln, ob Hermann Löns’ Roman über den Ersten Weltkrieg in patriotischem Hurra-Tonfall geschrieben worden wäre, hätte er die noch folgenden vier Jahre erlebt und überlebt.

 

*

 

Dieses zeitgeschichtliche Dokument in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund entdeckt zu haben (wohin es nach dem Tod des Löns-Biografen Wilhelm Deimann über Umwege gelangte) und publiziert zu haben, ist eine editorische Leistung, die Anerkennung verdient. Löns’ Kriegstagebuch ist eine faszinierende Quelle, die der historischen Forschung ein weiteres prominentes Fenster in das Soldatenleben im Ersten Weltkrieg öffnet.

 

*

 

Dennoch kommt der um Stellungnahme gebetene Freund und Historiker M.A. Uwe Lammers, nicht umhin, Kritik zu üben, und zwar an der Art und Weise, wie die Veröffentlichung erfolgte:

»Gängige Tagebuchpublikationen«, so schreibt er in einem eigenen Essay, den ich, gestrafft und lektoriert, in meinen Text einarbeiten durfte, »sehen anders aus, zumal wissenschaftlich kommentierte. In solchen Editionen finden wir üblicherweise den vollständigen Text eines Tagebuchs4, mitunter flankiert von autografischen Wiedergaben einzelner Tagebuchseiten (Letzteres geschieht dankbarerweise auch hier, allerdings schleichen sich dabei erkennbar Transkriptionsfehler ein5, wobei editorisch unscharf vorgegangen wurde, indem die Nachbemerkung des Transkribenten (sic) gleichfalls kursiv gesetzt wurde, als sei sie Teil des Zitats. Dies geschieht im Band durchgängig und spricht für nachlässiges Lektorat.]

Flankiert wird eine solche reine Textwiedergabe günstigstenfalls durch einen Einleitungstext und eine Fußnotenkommentierung relevanter Stellen, ggf. durch ein Glossar heute unüblicher Begriffe.

Der Herausgeber des Löns-Tagebuchs, vermutlich ein Löns-Bewunderer, wählte eine andere Herangehensweise, die zwar nicht reizlos, aber unwissenschaftlich ist: Er paraphrasiert weite Teile des Tagebuchs, wie aus dem Text ersichtlich, fügt gelegentlich Zitate aus dem Tagebuch ein, zum Teil nur einzelne Worte wie Erfolg 0,0 oder der dämliche gleichgültige Doktor (S. 104) bzw. banale Phrasen wie Die alte Musik (S. 108) oder Furchtbare Kanonade (S. 109).

Die autografischen Auszüge legen in ihrer lakonischen Kürze die Vermutung nahe, dass das Tagebuch an sich allenfalls dreißig oder vierzig Druckseiten lang gewesen wäre und sich wohl reichlich unspektakulär gelesen hätte. Wohl deshalb wählten Herausgeber und Verlag den Weg, auf die oben beschriebene völlig unkonventionelle Weise vorzugehen. Weshalb aber nicht wenigstens im Anhang der Gesamttext des Tagebuchs in Transkription gebracht wurde, um diese Ausgabe zu vervollständigen, bleibt schleierhaft.

Lob ist Verlag und Herausgeber hingegen zuzusprechen für die Auswahl an Bildern und Skizzen. Sie sind durchweg ausgezeichnet in der Qualität und meist auch passend zu den geschilderten Abschnitten von Löns’ Kriegskarriere.

Leider jedoch gibt es auch hier einen Wermutstropfen: Höchst nachteilig wirkt sich nämlich aus, dass es zu keinem einzigen Bild einen Hinweis auf die Quellen gibt. Die Urheberrechte werden nicht berücksichtigt. Wissenschaftliche Arbeit sieht leider ganz anders aus. Das gilt auch für die abgedruckten Feldkarten, auf denen nirgendwo – wie man es eigentlich hätte erwarten können – der Weg des Soldaten Löns eingezeichnet ist, obgleich man im Tagebuch manche Wegetappe namentlich genannt findet.

Die Karten zeichnen sich zudem durch eine bemerkenswerte Unübersichtlichkeit aus. An manchen Stellen sitzt der Herausgeber auch offensichtlich der Propaganda des Reichsarchivs auf, beispielsweise im Fall der so genannten Franktireurs, zu denen er eine reißerische Propagandazeichnung abdruckt (S. 127), die ziemlich sicher aus der Dokumentation des Reichsarchivs stammt, das für seine Tendenz leider bekannt ist.

Heutzutage ist klar, dass die angeblichen Gräuel der Franktireurs in Belgien höchstwahrscheinlich von mehreren deutschen Einheiten ausgelöst wurden, die von der Existenz der jeweils anderen Einheit nichts wussten und einander deshalb irrtümlich beschossen.6 Dass daraufhin von den deutschen Militärbehörden als Racheakt zahlreiche unschuldige Belgier erschossen worden sind, wird in diesem Buch nicht einmal in einer Anmerkung erwähnt.

Die Art und Weise der Erschließung des Kriegstagebuchs des Hermann Löns schmälert also seinen inhaltlichen Wert bedauerlicherweise sehr stark. Als Zeithistoriker wünscht man sich eine präzise Neuauflage dieses Werkes, in der die wissenschaftliche Kommentierung, eine Einbettung in die Forschungslage der Gegenwart und ein vollständiger Abdruck der Transkription des Tagebuchs enthalten sind.«

 

*

 

Erst um 1976/77, lange nach seinem Tod, wurde bekannt, dass der berühmte Heidedichter im Ersten Weltkrieg ein Kriegstagebuch geführt hatte und darin seine letzten Wochen festhielt. 2009, Jahrzehnte später erst, wurde der Inhalt unter Hermann Löns: Kriegstagebuch 3. September – 26. September 1914, zusammengestellt und kommentiert von Holger Tümmler im Melchior Verlag Hannover, Sitz in Wolfenbüttel, herausgegeben. (148 Seiten, Hardcover, ISBN 9783941555198)

(mb, ul)

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  1. Beispielhaft seien aus der unübersehbaren Flut einige wenige Publikationen der zurückliegenden Jahrzehnte genannt: Barbara Tuchman: August 1914, München 1964, John Keegan: Das Antlitz des Krieges, Frankfurt am Main 1991; ders. Der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 2001; Martin Gilbert: Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts, Band 1, München 1997; Niall Ferguson: Der falsche Krieg, Stuttgart 1999; Dr. Christian Zentner: Der Erste Weltkrieg, Rastatt 2000; Stephan Burgdorff & Klaus Wiegrefe: Der 1. Weltkrieg, München 2004; David Fromkin: Europas letzter Sommer, München 2005, und DIE ZEIT (Hrsg..): Welt- und Kulturgeschichte, Band 13, Hamburg 2006. Auch hinsichtlich der Memoirenliteratur herrscht kein Mangel. Hier seien zwei Werke beispielhaft genannt: Karl Helfferich: Der Weltkrieg, Berlin 1920, und David Lloyd George: Mein Anteil am Weltkrieg, 3 Bde., Berlin 1933-1936. Die Literatur ließe sich mühelos verzehnfachen.
  2. Vgl. Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg, München 2005.
  3. Vgl. dazu detaillierte Tuchman, a. a. O., sowie, von der Innenperspektive des Generalstabs aus betrachtet, das hervorragende Werk von Holger Afflerbach: Falkenhayn, München 1994.
  4. Man vergleiche beispielsweise die vielbändige Edition der Tagebücher der Schriftstellerin Anaïs Nin, München 1981ff. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine wissenschaftliche, gleichwohl – wenigsten in den Anfangsbänden – vollständige Wiedergabe.
  5. Es sei nur auf die Seiten 90/91 hingewiesen, wo auf Seite 90 das Originalskript zu sehen ist. In Zeile 5 ist eindeutig das Wort Patroullje zu lesen, in der Transkription wird daraus Partoulje [sic
  6. gl. hierzu etwa den schon 1961 publizierten Aufsatz von Franz Petri und Peter Schöller: Zur Bereinigung des Franktireur-Problems vom August 1914, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 9. Jg. (1961), Heft 3, S. 234 – 248.