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Das Gespensterbuch – Vierte Geschichte Teil 3

Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913

Das ist es. Ich bin eben nach Hause gekommen. Ich konnte nicht frühstücken, so hat mich die Sache erschüttert.

19. Juli. Ich habe die Geschichte ein paar Leuten erzählt und sie haben mich alle ausgelacht. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Der Weise sagt: Kann es wohl sein?

21. Juli. Ich habe in Bougival zu Mittag gegessen und den Abend auf dem Ball der Ruderer verlebt. Entschieden, es hängt alles von Ort und Stunde ab. Auf der Insel der Grenouillière an Übernatürliches zu denken, wäre der Gipfel der Narrheit, aber oben auf dem Mont-Saint-Michel? Oder in Indien? Wir sind fürchterlich abhängig von unserer Umgebung. Nächste Woche kehre ich nach Hause zurück.

30. Juli. Seit gestern bin ich wieder daheim. Alles geht gut.

2. August. Nichts Neues. Das Wetter ist prachtvoll, ich sitze den ganzen Tag am Fluss und sehe die Wasser der Seine fließen.

4. August. Zwischen meinen Dienstboten hat es Streit gegeben. Sie behaupten, dass jemand nachts in den Schränken die Gläser zerbricht. Der Diener schiebt es auf die Köchin, die Köchin auf das Mädchen und die wieder auf die anderen. Wer ist der Schuldige? Wer es sagt, müsste schlau sein!

6. August. Jetzt bin ich aber nicht verrückt. Ich habe gesehen, ich habe gesehen – ich habe gesehen! Ich kann nicht mehr zweifeln, ich habe es gesehen. Ich zittere noch bis zu den Fußspitzen, mir läuft es noch über den Rücken, dass mir das Mark in den Knochen erstarrt. Ich habe es gesehen.

Um zwei Uhr ging ich in hellem Sonnenschein zwischen meinen Rosenbeeten spazieren, zwischen den Herbstrosen, die eben anfangen, zu blühen.

Als ich stehen blieb und eine Géanit des batailles betrachtete, die drei wundervolle Knospen trug, sah ich ganz deutlich, ganz nahe neben mir, einen der Stiele sich herumlegen, als ob eine unsichtbare Hand ihn gefasst hätte, sah ihn abbrechen, wie wenn diese Hand ihn gepflückt. Dann hob sich die Blume und beschrieb einen Bogen, wie etwa ein Arm ihn beschrieben hätte, der sie zum Riechen an die Nase geführt hatte. Dann blieb die Blume in der durchsichtigen Luft hängen, ganz allein, unbeweglich, ein fürchterlicher roter Fleck, drei Schritte von mir entfernt.

Ich stürzte mich ganz erschrocken auf die Rose, um sie zu packen. Ich fand nichts, sie war verschwunden. Da überkam mich eine fürchterliche Wut gegen mich selbst, denn ein vernünftiger, ernster Mann darf doch nicht solchen Einbildungen unterliegen.

Aber war es auch wirklich eine Einbildung? Ich drehte mich wieder um, um den Stiel zu suchen und fand ihn an dem Rosenstrauch mit einer frischen Bruchstelle zwischen zwei anderen Rosen, die am Zweig geblieben waren.

Da ging ich ganz außer mir nach Hause, denn nun weiß ich bestimmt, so bestimmt, wie Tag und Nacht einander abwechseln, dass in meiner Nähe ein Wesen existiert, das Milch und Wasser trinkt, das Dinge berühren, sie in die Hand nehmen, sie hier und dorthin tun kann, das demnach eine Art materieller Natur besitzen muss, obgleich unsere Sinne es nicht wahrnehmen können, ein Wesen, das wohnt wie ich, unter meinem Dach.

7. August. Ich habe ruhig geschlafen. Er hat das Wasser aus meiner Flasche getrunken, aber meinen Schlaf nicht gestört.

Jetzt frage ich mich: Bin ich verrückt? Als ich vorhin im hellen Sonnenschein spazieren ging am Fluss, kamen mir Zweifel an meiner eigenen Zurechnungsfähigkeit, nicht allgemeine Zweifel wie bisher, sondern ganz bestimmte. Ich habe Wahnsinnige gesehen, ich habe welche gesehen, die sonst klar und vernünftig waren und alle Dinge dieses Lebens scharf erfassten bis auf einen Punkt. Sie konnten klar, sogar sehr gewandt, über etwas sprechen, und dann plötzlich, wenn ihre Gedanken die Schwelle des Wahnsinns überschritten hatten, zerriss die Gedankenkette und sie tauchten unter in den fürchterlichen Ozean, wo Wellen steigen und fallen, Nebel brauen, Stürme tosen, den Ozean, den man nennt: »Wahnsinn!«

Wenn ich nicht über mich selbst im Reinen wäre, wenn ich nicht meinen eigenen Zustand kennen würde, wenn ich mich nicht selbst klar und ruhig beobachten könnte, würde ich meinen, ich sei verrückt, vollkommen verrückt. Ich kann also nur ein Vernünftiger sein, der unter Wahngebilden leidet. In meinem Gehirn muss sich irgendeine Störung befinden, eine jener Störungen, denen heute die Physiologen auf den Grund zu kommen suchen und diese Störung müsste in meinem Geist, in der Logik und Ordnung meiner Gedanken eine tiefe Kluft gerissen haben. Ähnliche Erscheinungen findet man im Traum, wenn wir die wundersamsten Wahngebilde vor uns sehen, ohne dass uns das weiter wundert, weil der Wahrheitssinn, die Möglichkeit, uns zu kontrollieren, eingeschläfert ist, während die Einbildungskraft wach bleibt und arbeitet. Könnte nicht irgendeine jener Nerventasten des Gehirnes bei mir gelähmt sein? Es kommt vor, dass Menschen nach irgendeinem Unglücksfall das Gedächtnis für Eigennamen, bestimmte Worte und Ziffern oder auch nur für Jahreszahlen verlieren. Es ist heute vollkommen bewiesen, dass alle Momente des menschlichen Denkens an bestimmten Stellen unseres Gehirns lokalisiert sind. Es wäre also weiter nicht erstaunlich, wenn die Fähigkeit, etwa die Unwirklichkeit einzelner Erscheinungen festzustellen, gerade jetzt bei mir eingeschlafen wäre.

An all das dachte ich, als ich am Wasser entlang ging. Die Sonne schien hell auf den Strom. Die Natur war köstlich und ihr Anblick erfüllte mich mit Lebensfreude, ich sah vergnügt den Schwalben zu, deren schneller Flug mich immer entzückt, betrachtete die Gräser am Ufer, deren Rauschen mir wohltut.

Und trotzdem überschlich mich allmählich ein unerklärliches Gefühl des Unbehagens, eine Gewalt überfiel mich, scheinbar eine geheime Kraft lähmte mich, dass ich nicht weiter gehen konnte, und zwang mich umzukehren. Ich empfand jenes schmerzliche Bedürfnis, nach Hause zu gehen, das einen manchmal überkommt, wenn man in der Wohnung einen geliebten Kranken zurückgelassen hat und man nun plötzlich ein Vorgefühl hat, als könnte er kränker werden.

Ich kehrte also gegen meinen Willen um, in der bestimmten Überzeugung, dass ich zu Hause irgendeine böse Nachricht vorfinden würde, einen Brief oder ein Telegramm. Aber es war nichts da. Und ich war fast noch erstaunter und noch mehr beunruhigt, als ob ich irgendwelche fantastische Visionen gehabt.

8. August. Das war ein fürchterlicher Abend gestern! Er zeigt nicht mehr seine Gegenwart an, aber ich fühle, dass er bei mir ist, mich belauert, mich betrachtet, mich durchdringt, mich beherrscht und noch fürchterlicher dadurch wird, dass er sich versteckt, fürchterlicher, als wenn er durch übernatürliche Erscheinungen seine unsichtbare Gegenwart anzeigte.

Und doch habe ich geschlafen.

9. August. Nichts. Aber ich habe Angst.

10. August. Nichts. Was wird morgen geschehen?

11. August. Immer noch nichts, aber ich kann mit dieser Furcht unausgesetzt und diesem Gedanken in der Seele nicht mehr zu Hause bleiben; ich werde ausgehen.

12. August zehn Uhr abends. Ich wollte den ganzen Tag fortgehen, ich konnte nicht, ich wollte diese einfache Tat der Befreiung, nämlich auszugehen, in den Wagen zu steigen und nach Rouen zu fahren, ausführen, aber ich konnte nicht. Warum?

13. August. Wenn man von gewissen Krankheiten befallen wird, so ist es, als ob der ganze Körper zerbrochen wäre, als ob man keine Tatkraft mehr besäße, als ob alle Muskeln schlaff würden, die Knochen weich wie Fleisch und das Fleisch flüssig wie Wasser. Diesen selben Zustand fühle ich im Geist auf seltsam-traurige Art. Ich habe keine Kraft mehr, keinen Mut, keine Selbstbeherrschung, keine Möglichkeit, meinen Willen auf irgendetwas zu konzentrieren, ich kann nicht mehr wollen, aber ein anderer will für mich und ich gehorche.

14. August. Ich bin verloren. Jemand hat von meiner Seele Besitz ergriffen und beherrscht sie, jemand befiehlt alles, was ich tue, alle meine Bewegungen, alle meine Gedanken, ich bin nichts als Ich, ich bin nur ein gefesselter Zuschauer und sehe alles entsetzt mit an, was ich tue. Ich möchte ausgehen, ich kann nicht, er will es nicht, und ich bleibe zitternd in dem Stuhl sitzen, in dem er befiehlt, dass ich sitzen soll. Ich möchte mich nur aufrichten, mich erheben, um mir selbst zu beweisen, dass ich noch Herr meiner selbst bin, ich kann nicht, ich bin an meinen Sitz genagelt und mein Sitz wieder klebt am Boden, dass keine Kraft der Erde uns aufheben könnte.

Dann plötzlich – plötzlich muss ich, muss ich in den Garten hinuntergehen, Erdbeeren pflücken und sie essen, und ich gehe, ich pflücke Erdbeeren und ich esse sie. O, mein Gott! Mein Gott! Mein Gott! Gibt es einen Gott? Wenn es einen gibt: Gott so erlöse mich! Rette mich! Habe Erbarmen mit mir und Mitleid! Rette mich! Nein, diese Leiden, diese Qualen, welch Entsetzen!

15. August. So muss meine arme Cousine beherrscht gewesen sein, als sie zu mir kam, um die fünftausend Franc zu borgen. Ein anderer Wille war in sie hineingeschlüpft, dem sie gehorchen musste, eine andere Seele, eine Seele wie eine überwuchernde Schmarotzerpflanze. Geht denn die Welt unter?

Aber wer beherrscht mich? Wer ist dieses unsichtbare Wesen, dieses Wesen, das ich nicht kenne, dieser Landstreicher aus übernatürlichem Stamm? Es gibt also Geister? Wie kommt es denn, dass sie sich seit Anbeginn der Welt noch nicht auf so klare Art gezeigt haben, wie sie mir erscheinen? Ich habe niemals etwas Ähnliches gelesen wie das, was bei mir vorgeht. O, wenn ich mein Haus verlassen könnte, wenn ich fortgehen könnte, fliehen und nie wiederkommen? Dann wäre ich gerettet. Aber ich kann nicht.

16. August. Heute gelang es mir, zwei Stunden lang hinauszukommen, wie ein Gefangener, der zufällig die Tür seiner Zelle offen findet. Ich fühlte plötzlich, dass ich frei war, und er nicht da. Da habe ich Befehl gegeben, schnell anzuspannen und bin nach Rouen gefahren. O, welche Wonne, jemandem der wirklich gehorcht, befehlen zu können: »Fahren Sie nach Rouen!«

Vor der Bibliothek habe ich halten lassen und gebeten, man möchte mir die große Abhandlung des Dr. Hermann Herestauß über die unbekannten Bewohner der Welt im Altertum und in der Gegenwart geben.

Als ich dann wieder in meinen Wagen stieg, wollte ich sagen: zum Bahnhof. Und trotzdem habe ich geschrien, nicht gesprochen, sondern geschrien mit so lauter Stimme, dass die Vorübergehenden sich umdrehten: Nach Hause! Und dann bin ich zitternd vor Aufregung in die Kissen meines Wagens gesunken. Er hatte mich wieder gefunden und mich von Neuem gepackt.

17. August. O, diese Nacht! Welche Nacht! Und doch ist es mir, als müsste ich mich freuen. Bis ein Uhr morgens habe ich gelesen. Hermann Herestauß, Doktor der Philosophie und Theogonie, hat die Geschichte und Manifestationen aller unsichtbaren Wesen, die den Menschen umschweben oder von denen er träumt, beschrieben. Er beschreibt ihren Ursprung, ihr Gebiet, ihre Macht, aber keiner von ihnen ähnelt dem, der mich quält. Es ist, als ob der Mensch, seitdem er denkt, ein neues Wesen geahnt und gefürchtet hat, das stärker ist als er selbst, das Wesen, das sein Nachfolger auf der Erde wird und das er, da er es nahe fühlt und die Natur dieses Herrn nicht durchschauen kann, erschaffen hat in seinem Schrecken; das ganze Zaubervolk der unsichtbaren Geister, leere Schemen, Ausgeburten einer geängstigten Fantasie.

Als ich nun bis gegen ein Uhr morgens gelesen hatte, setzte ich mich ans offene Fenster, um meine Stirn und meine Gedanken zu erquicken, im lauen Hauch der Nacht.

Es war schön, es war mild! Ach, wie hätte ich früher solch eine Nacht genossen!

Kein Mond am Himmel. Die Sterne flimmerten am dunklen Himmel. Wer bewohnt diese Welten? Welche Gestalten? Welche Wesen, welche Tiere, welche Pflanzen gedeihen dort? Wissen diejenigen, die dort in fernen Welten denken, mehr als wir? Was können diese Wesen mehr? Was sehen sie, das wir nicht kennen? Wird nicht eines von ihnen früher oder später den Weltenraum durcheilen und auf unserer Erde landen, um sie zu erobern, wie einst die Normannen durch die Meere fuhren, schwächere Völkerschaften zu unterjochen.

Wir sind so schwach, waffenlos, wehrlos, unwissend, so klein, wir Menschen, auf diesem Sandkorn in einem Wassertropfen!

Ich nickte, wie ich so im frischen Abendwind träumte, ein; als ich etwa vierzig Minuten geschlafen haben mochte, öffnete ich die Augen ohne irgendeine Bewegung, weil etwas Wundersames mich aufgeweckt haben musste. Zuerst sah ich nichts. Dann plötzlich war es mir, als ob eine Seite des Buches, das auf meinem Tisch vor mir offen liegen geblieben war, sich von selbst umgewendet hätte. Kein Luftzug konnte durch das Fenster gekommen sein. Ich war erstaunt und wartete. Nach vier Minuten etwa sah ich – sah ich – ja wahrhaftig, sah ich mit eigenen Augen, wie die nächste Seite sich hob und sich auf die vorhergehende umlegte, als ob sie eine Hand herumgeblättert. Mein Stuhl war leer, schien leer zu sein, aber ich begriff, dass er dort saß, dort auf meinem Platz und las. Mit einem furchtbaren Satz, wie ein wildes Tier, das seinem Bändiger den Leib aufschlitzen will, fuhr ich durch das Zimmer, ihn zu packen, ihn zu erwürgen und zu töten. Aber ehe ich den Stuhl erreicht hatte, fiel er um, als ob etwas vor mir geflohen sei. Mein Tisch schwankte, die Lampe stürzte und erlosch, und das Fenster schlug zu, als ob ein ertappter Verbrecher sich in die Nacht hinaus gerettet hätte, indem er die Fensterflügel mit beiden Händen erfasste.

Er war also entflohen. Er hatte Angst gehabt, Angst vor mir.

Ich werde ihn also morgen, oder später einmal an irgendeinem Tag in meinen Händen, in meinen Fäusten halten und ihn zu Boden drücken können; beißen und töten nicht manchmal Hunde ihren Herrn?

18. August. Ich habe den ganzen Tag über nachgedacht. Ja, ich werde ihm gehorchen, ich werde seinen Eingebungen folgen, ich werde seinen Willen erfüllen, ich werde mich dienstbar machen, unterwürfig und feige. Er ist stärker, aber die Stunde wird kommen …

19. August. Ich weiß – ich weiß – ich weiß alles. Ich habe eben in der Revue du Monde Scientifique Folgendes gelesen:

Aus Rio de Janeiro kommt eine wunderbare Nachricht. In diesem Augenblick wütet in der Provinz San Paolo eine Art epidemischer Verrücktheit, die man den ansteckenden Krankheiten vergleichen muss, mit denen im Mittelalter die Völker Europas heimgesucht wurden. Die Einwohner verlassen verstört ihre Häuser, geben ihre Dörfer auf, lassen ihre Äcker im Stich, weil sie sich für verfolgt halten, besessen, beherrscht, wie Tiere in Menschengestalt, durch Wesen, die unsichtbar sind, obgleich man sie berühren kann, durch vampirgleiche Wesen, die sich nächtens von ihrem Leben nähren, und die außerdem Wasser und Milch trinken, ohne dass sie, wie es scheint, andere Nahrung berühren.

Professor Don Pedro Henriquez ist in Begleitung von mehreren bekannten Ärzten nach der Provinz San Paolo gereist, um an Ort und Stelle Ursachen und Symptome dieser eigenartigen Gestörtheit zu studieren und dem Kaiser die geeignetsten Maßregeln, um die von der Krankheit ergriffene Bevölkerung wieder zur Vernunft zu bringen, vorzuschlagen.

O, ich erinnere mich jetzt, ich erinnere mich des wunderschönen brasilianischen Dreimasters, der am letzten 8. Mai die Seine herauf unter meinen Fenstern vorüberfuhr. Ich fand ihn damals so hübsch, so hell, so freundlich. Das Wesen war darauf. Es kam von da drüben, wo es herstammt, es hat mich gesehen, hat mein weißes Haus gesehen und ist vom Schiff in den Strom gesprungen. O mein Gott! Mein Gott!

Nun weiß ich alles. Nun errate ich es. Die Zeit, da der Mensch herrschte, ist vorüber.

Er ist gekommen, er, der die erste Furcht der frühesten, naiven Völkerschaften war, Er, den die geängstigten Priester austrieben, den die Zauberer in dunklen Nächten anriefen, ohne dass er ja erschienen wäre, dem vorahnend die flüchtigen Herren der Welt all die riesigen oder zierlichen Gestalten der Riesen, Gnomen, Geister, Feen, Kobolde liehen. Nach den groben, aus einer primitiven Furcht geborenen Vorstellungen empfanden feinsinnigere Menschen ihn deutlicher. Mesmer hat ihn geahnt, und seit zehn Jahren schon haben die Ärzte genau das Wesen seiner Macht festgestellt, ehe er sie ausgeübt hat. Sie haben mit der Waffe des neuen Herrschers gespielt: der Fähigkeit, einen geheimen Willen der gefesselten menschlichen Seele aufzuzwingen. Sie haben es Magnetismus, Hypnotismus, Suggestion und ich weiß nicht was alles genannt. Ich habe gesehen, wie sie sich gleich unvorsichtigen Kindern mit dieser fürchterlichen Macht unterhielten. Wir unglücklichen, unseligen Menschen! Er ist gekommen, der – der, wie heißt er – der – es ist mir, als riefe er mir seinen Namen zu und ich höre ihn doch nicht, der – ja, er ruft ihn, ich lausche, ich kann nicht, wiederhole, der – Horla, – ich habe es gehört, – der Horla, – der ists, – der Horla – ist da!

O, der Geier hat die Taube verzehrt, der Wolf das Schaf gefressen, der Löwe den Büffel trotz seiner spitzen Hörner verschlungen. Der Mensch wieder hat den Löwen mit Pfeil, Schwert, Pulver und Blei getötet. Aber der Horla wird aus uns Menschen machen, was wir aus Pferd und Ochsen gemacht haben: seine Sache, seinen Diener, seine Speise, allein durch die Kraft seines Willens. Wir unglücklich Unseligen!

Und doch empört sich manchmal das Tier und tötet den, der es gebändigt hat. Ich will auch … ich könnte . . . aber man müsste ihn kennen, ihn berühren, ihn sehen. Die Gelehrten sagen, dass das Auge des Tieres von dem unsrigen verschieden ist, nicht so sieht, wie unser Auge, … und mein Auge kann den neuen Ankömmling, der mich unterdrückt, nicht erkennen!

Warum? O, jetzt erinnere ich mich an die Worte des Mönchs vom Mont-Saint-Michel: Sehen wir den hunderttausendsten Teil von dem, was es gibt. Der Wind zum Beispiel, die größte Kraft der Natur, der Menschen umwirft, Gebäude niederlegt, Bäume entwurzelt, der das Meer in Wogenbergen aufwühlt, der Klippen und Felsen zerschmettert und der die größten Schiffe hinaus in die Brandung wirft, der Wind, der tötet, pfeift, seufzt und stöhnt – haben Sie ihn gesehen und können Sie ihn sehen? Und er existiert trotzdem.

Und ich überlegte mir noch weiter. Mein Auge ist so schwach, so unvollkommen, dass es selbst nicht einmal feste Gegenstände unterscheiden kann, wenn sie nur durchsichtig sind wie Glas. Wenn eine große Spiegelscheibe ohne Belag in meinem Weg steht, so ist mein unvollkommenes Auge daran schuld, dass ich dagegen renne, wie ein im Zimmer verflogener Vogel sich an den Fensterscheiben den Kopf einstößt. Tausend Dinge täuschen das Auge. Was ist also Erstaunliches daran, wenn es einen neuen Körper, den das Licht durchstrahlt, nicht erkennen kann?

Ein neues Wesen. Warum nicht? Es musste ja kommen. Warum sollten wir die Letzten sein? Wir unterscheiden das neue Wesen nicht, wir erkennen es nicht, wie alle anderen, die vor uns geschaffen sind, einfach, weil es vollkommener ist, weil sein Körper feiner und vollendeter ist, als der unsrige, als unser schwacher Leib, der dahinvegetiert wie eine Pflanze, ein Tier, unser Leib der sich mühsam von der Luft nährt, von Gras und Fleisch, eine animalische Maschine, den Krankheiten zur Beute, Verstümmelungen, der Verwesung anheimgegeben, schlecht ins Gleichgewicht gesetzt, lächerlich, verrückt, erstaunlich schlecht gemacht, ein grobes, zerbrechliches Werk, nur die Skizze zu dem Wesen, das wirklich intelligent und schön werden könnte.

Wir sind so wenige Lebewesen auf der Erde, von der Auster bis zum Menschen. Warum sollte nicht ein neues entstehen, nachdem einmal die Periode vollendet, für die die Entstehung der Arten in langsamer Folge charakteristisch ist? Warum nicht eine Art mehr? Warum soll es nicht auch Bäume geben mit Riesenblumen, leuchtend und duftend über weite Landstrecken? Warum soll es keine anderen Elemente geben als Feuer, Luft, Erde und Wasser. Es sind ihrer vier, nur vier, diese Nährväter aller Wesen. Wie armselig! Warum sind es nicht vierzig, vierhundert, viertausend. Wie ist alles elend, dürftig, jammervoll auf dieser Erde, wie sparsam zugemessen, armselig erfunden, plump gemacht. Dieser Liebreiz am Elefanten, am Flusspferd, diese Eleganz am Kamel!

Aber ihr werdet sagen: Der Schmetterling ist doch wie eine Blume, die da fliegt. Ich aber träume von einem, der groß sein müsste gleich wie hundert Welten, mit Flügeln, deren Gestalt, Schönheit, und Farbe ich nicht erklären kann, aber vor mir sehe. Er eilt von Stern zu Stern, erquickt sie und erfüllt sie mit Duft durch den leichten Schlag seiner Flügel. Und die Völker dort oben sehen ihm entzückt begeistert nach, wenn er vorüberfliegt …

Wen meine ich denn? Er ist es, er, der Horla, der mich quält, der mich auf diese wahnsinnigen Gedanken bringt, er sitzt in mir, er wird meine Seele; ich muss ihn töten.

19. August. Ich werde ihn töten. Ich habe ihn gesehen. Ich habe mich gestern Abend an meinen Tisch gesetzt und so getan, als ob ich aufmerksam schriebe. Ich wusste wohl, dass er um mich irren würde, ganz nahe bei mir, so nahe, dass ich ihn vielleicht berühren könnte, ihn packen, und dann wäre vielleicht die Kraft der Verzweiflung über mich gekommen, ich hätte Hände, Knie, Brust, Stirn, Zähne gebraucht, ihn zu erwürgen, zu erdrücken, tot zu beißen und zu zerreißen.

Und ich lauerte ihm mit allen meinen überreizten Sinnen auf.

Ich hatte beide Lampen und die acht Lichter auf dem Kamin angesteckt, als ob ich ihn in dieser Helle besser sehen könnte.

Vor mir steht mein Bett, ein altes Eichenbett mit Säulen. Rechts ist der Kamin, links die Tür, sorgfältig geschlossen, nachdem ich sie lange Zeit offen gelassen hatte, um ihn hereinzulocken. Hinter mir steht ein hoher Spiegelschrank, der mir täglich dazu gedient hat, mich zu rasieren, mich anzuziehen und in dem ich mich jedes Mal, wenn ich vorüberging, von Kopf bis zu Fuß betrachtete.

Ich tat so, als schriebe ich, um ihn zu täuschen, denn auch er spähte nach mir. Und plötzlich fühlte ich, ich war meiner Sache ganz sicher, dass er über meine Schulter gebeugt las, dass er da war und mein Ohr streifte.

Ich stand auf, streckte die Hände aus und drehte mich so schnell um, dass ich beinahe gefallen wäre. Nun und? Man sah hier so gut wie am hellen Tag, und ich sah mich nicht in meinem Spiegel. Das Glas war leer, klar, tief, hell erleuchtet, aber mein Bild war nicht darin, und ich stand doch davor, ich sah die große, klare Spiegelscheibe von oben bis unten und sah das mit entsetzten Augen an! Ich wagte nicht mehr, vorwärtszugehen, ich wagte keine Bewegung zu machen, ich fühlte, dass er da war, aber dass er mir wieder entwischen würde, er, dessen undurchdringlicher Körper hinderte, dass ich mich selbst spiegeln konnte.

Und Entsetzen! Plötzlich sah ich mich selbst in einem Nebel mitten im Spiegel, in einem Schleier, wie durch Wasser hindurch und mir war es, als ob dieses Wasser von links nach rechts glitte, ganz langsam, sodass von Sekunde zu Sekunde mein Bild in schärferen Linien erschien. Es war wie das Ende einer Sonnenfinsternis. Was mich verbarg, schien keine festen Umrisse zu haben, aber eine Art Durchsichtigkeit, die allmählich heller wurde.

Endlich konnte ich mich vollkommen erkennen, wie täglich, wenn ich in den Spiegel blicke.

Ich hatte ihn gesehen, und das Entsetzen blieb mir in den Gliedern, dass ich jetzt noch zittere.

20. August. Wie soll ich ihn töten, da ich ihn nicht fassen kann? Durch Gift? Aber er würde sehen, wie ich es ins Wasser mische – und übrigens könnten denn unsere Gifte seinem undurchdringlichen, unfassbaren Körper etwas anhaben? Nein, nein, nein, wahrscheinlich nicht … Also? Also?

21. August. Ich habe aus Rouen einen Schlosser kommen lassen und habe bei ihm für mein Zimmer eiserne Fensterläden bestellt, wie man sie in Paris an einzelnen Privathäusern im Erdgeschoss hat, zum Schutz gegen Diebe. Eine ebensolche Tür wird er mir auch anfertigen. Ich habe getan, als ob ich feige wäre, aber ich mache mich ja selbst darüber lustig.

22. September. Rouen, Hotel Continental. Es ist geschehen! Es ist geschehen! Aber ob er tot ist? Ich bin ganz bestürzt von dem, was ich gesehen habe.

Also gestern, als der Schlosser die Läden und die eiserne Tür angebracht hatte, ließ ich bis Mitternacht alles offen stehen, obwohl es schon anfing, kalt zu werden.

Plötzlich fühlte ich, dass er da war, und eine unsinnige Freude überfiel mich. Ich habe mich langsam erhoben, bin nach rechts gegangen, dann wieder nach links, bedächtig hin und her, dass er meine Gedanken nicht erraten sollte. Dann habe ich die Stiefel ausgezogen und gleichgiltig die Pantoffeln angelegt. Darauf habe ich die eisernen Läden zugemacht und bin ganz ruhig zur Tür gegangen und habe auch sie zweimal herumgeschlossen. Dann ging ich ans Fenster zurück und habe ein Vorlegeschloss davorgelegt und den Schlüssel in die Tasche gesteckt.

Und plötzlich merkte ich, dass er um mich herum sich bewegte, dass er Angst hatte, und mir befehlen wollte, ihm zu öffnen. Ich hätte ihm beinahe gehorcht, aber ich gehorchte doch nicht, stemmte mich an die Tür, öffnete sie zur Hälfte, gerade weit genug, dass ich selbst rückwärts mich durchzwängen konnte, und da ich sehr groß bin, und mein Kopf bis oben heranreicht, wusste ich ganz bestimmt, dass er mir nicht entwischen könnte. Dann habe ich ihn allein ins Zimmer eingeschlossen, ganz allein. Diese Freude! Ich hatte ihn erwischt! Darauf bin ich hinuntergelaufen, in den Salon unter meinem Schlafzimmer, habe die beiden Lampen genommen, das Petroleum auf den Teppich, über die Möbel, überall hingeschüttet, habe Feuer angelegt und mich gerettet, nachdem ich die große Eingangstür sorgfältig zweimal verschlossen hatte.

Dann ging ich in meinen Garten hinaus, in ein Lorbeergebüsch, um mich zu verstecken. O, wie lange das dauerte, wie lange das dauerte! Alles war dunkel, stumm, unbeweglich. Kein Windhauch ging, kein Stern war zu erblicken, große Wolkenberge, die man nicht sah, lasteten schwer, schwer auf meiner Seele.

Ich schaute mein Haus an und wartete. O, wie lange Zeit das dauerte. Ich meinte schon, das Feuer wäre ausgegangen oder er hätte es gelöscht, er, als plötzlich unten unter dem Druck der Hitze ein Fenster barst und eine große, rot und gelbe, lange, dünne, züngelnde Flamme längs der weißen Wand leckte und sie küsste bis an das Dach hinauf. Ein Schein fiel auf die Bäume, auf die Äste, auf die Blätter, und sie bebten vor Angst. Die Vögel erwachten. Ein Hund fing an zu heulen. Ich glaube, es wurde Tag. Dann sprangen noch zwei andere Fenster auf und ich sah, wie das ganze Erdgeschoss nur noch eine Feuerglut war. Aber plötzlich tönte ein Schrei, ein fürchterlicher, spitzer, herzzerreißender Schrei, der Ruf einer Frau in die Nacht hinaus und zwei Mansardenfenster öffneten sich. Ich hatte meine Dienstboten vergessen. Ich sah ihre entsetzten Gesichter und sah, wie sie winkten.

Da packte mich das Entsetzen und ich lief zum Dorf und schrie: »Hilfe! Hilfe! Feuer! Feuer!«

Ich begegnete Menschen, die schon herbeigestürzt kamen und drehte mit ihnen um, um zu sehen.

Jetzt war das ganze Haus nichts mehr als ein fürchterlicher, prachtvoller Scheiterhaufen, ein Riesenscheiterhaufen, der die ganze Gegend beleuchtete, ein Scheiterhaufen, in dem Menschen verbrannten und worin auch er verbrannte, er, er, mein Gefangener, das neue Wesen, der neue Herr, der Horla.

Plötzlich brach zwischen den Mauern das ganze Dach zusammen und ein Feuerregen schoss zum Himmel auf. Ich sah durch alle offenen Fenster die Glut, den Schmelzofen dort drinnen und ich dachte frohlockend daran, dass er dort drinnen saß, in dem Ofen, tot.

Tot? Vielleicht. Sein Leib? Aber war sein Leib, den das Licht durchdrang, nicht unzerstörbar für Mittel, die unseren Leib zerstören?

Wenn er nun nicht tot war? Vielleicht hat nur die Zeit Macht über das unsichtbare, furchtbare Wesen. Wozu sollte es diesen durchsichtigen, ungreifbaren, geisterhaften Leib geben, wenn er gleich uns Schmerzen, Wunden, Krankheit und vorzeitige Zerstörung fürchten müsste?

Vorzeitige Zerstörung? Daher das ganze Entsetzen des Menschen! Nach dem Menschen kommt der Horla, nach dem, der täglich sterben kann, zu jeder Stunde, zu jeder Minute, durch jedes Unglück, ist der gekommen, der nur an einem bestimmten Tag, zu bestimmter Stunde, zu bestimmter Minute sterben kann, weil sein Dasein abgelaufen ist.

Nein, nein, nein, kein Zweifel, kein Zweifel, er ist nicht tot! Ja und dann? Dann? Da werde ich also mich töten müssen, mich!