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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Band 26 – Der Saal ohne Fenster – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Saal ohne Fenster

Teil 2

Der Lehrer Hartwich lag mit dick verbundenem Kopf im Bett. Die Fenster des Zimmers, dessen ärmliches Mobiliar in seltsamem Widerspruch zu den auf einem Wandbrett untergebrachten vielseitigen Toilettensachen Fräulein Hanni Brösekes stand, waren weit geöffnet.

Hartwich, ein blondbärtiger Mann, schaute zu Hanni Bröseke empor und sagte leise:

»Es tut mir leid, dass ich Sie aus Ihrem Zimmer verdrängt habe … Hoffentlich bin ich in zwei, drei Tagen so weit wiederhergestellt, dass wir, mein Freund Schreiber und ich, unsere Tour fortsetzen können …«

Er sagte das – und trotz der schwachen Stimme war es herauszuhören – in merklicher Verlegenheit – ganz so, als ob es ihn beunruhigte, hier vor einem jungen Mädchen im Bett zu liegen, wenn auch bis zum Kinn zugedeckt.

Hanni Bröseke amüsierte sich köstlich über die Verwirrung des blassen Schulmeisters. Mit ihrem Bubenkopf und dem kecken, schmalen Jungengesicht sah sie wirklich wie ein verkleideter schlanker Knabe aus.

Hartwichs Freund, Michael Schreiber, lehnte dicht dabei an dem mächtigen Kachelofen und stellte fest, dass Fräulein Hanni an der linken Hand eine Menge kostbarer Brillantringe trug. Auch er war blondbärtig, und unter der Lodenjoppe wölbte sich ihm ein niedliches Bäuchlein zu behaglicher Rundung. Hinter den Gläsern seiner Hornbrille glitzerten ein paar ebenso behaglich-lustige Augen, und diese vergnügten Augen verfolgten nun jede Bewegung Fräulein Hannis kritisch und prüfend, die nun ihre Toilettensachen in ihre niedliche Schürze packte und dabei harmlos weiterplapperte – von diesem und jenem, wie ein zwitscherndes Vögelchen.

Es war nun fünf Uhr nachmittags, und in diesen acht Stunden hatte Michael Schreiber sich sowohl mit den Brösekes als auch mit dem Hausdiener und dem Stubenmädchen sehr angefreundet, sodass August Bröseke zu Viktor, dem überfeinen Hausdiener, geäußert hatte: »Ein ganz netter Kerl, dieser Dorfpauker!«

Hanni hatte nun all ihre Herrlichkeiten in der Schürze und entschwebte mit einem freundlichen Gute Besserung also, Herr Hartwich …

Die Tür klappte hinter ihr zu.

Michael Schreiber ging zum Bett des Kranken Freundes, beugte sich über ihn und fragte laut: »Möchtest du nicht jetzt wieder etwas schlafen, Hermann?« Und ganz leise – als Nachsatz: »Um halb sechs erwartet Rütter mich …«

»Ja – ich werde es versuchen …«, erwiderte Hartwich.

Und auch er hatte die Fähigkeit, flüstern zu können, ohne die Lippen zu bewegen.

»Sage Rütter, dass er ohne uns nichts unternimmt … gar nichts!«

Der Lehrer Schreiber schloss die Fenster, nahm seine Mütze und verließ das Zimmer.

Vorn im großen leeren Schankraum traf er Bröseke, der Zeitung las.

»Telefon haben Sie nicht, Herr Bröseke, – schade – und Gott sei Dank«, sagte er in seiner trocken-witzigen Art. »Schade, weil ich an meine Frau in Kelzig telefonieren will, und Gott sei Dank, weil so eine elektrische Fernquasselstrippe jede Wohnung jederzeit fremden Redeüberfällen öffnet …«

»Der Kaufmann Nerlich hat Fernsprecher«, erklärte Bröseke. »Gehen Sie nur immer die Dorfstraße entlang bis zu der gelben Villa, die Ihnen sofort auffällt. Neben der Villa liegt Nerlichs Haus … Wiedersehen, Herr Schreiber …«

»Wiedersehen … Hartwich schläft … Vielleicht bitten Sie Ihre Töchter, etwas leise im Flur zu sein …«

»Gewiss … gewiss …«

 

*

 

Michael Schreiber telefonierte bei Kaufmann Nerlich nur zum Schein mit seiner Frau.

Er hatte keine. Er war völlig unbeweibt.

Am anderen Ende der Fernquasselstrippe aber stand in Berlin, Polizeipräsidium, Kriminalkommissar Fritz Bechert und hörte Folgendes:

»Es geht uns gut. Wir sind gut untergekommen … Hartwichs Befinden ist den Umständen angemessen …«

Und von Herrn Nerlich aus wanderte Schreiber nordwärts … Er musste das Dorf Dalchow sehr gut kennen … Und dass er zum ersten Mal hier sei, wie er Bröseke gegenüber geäußert hatte, konnte unmöglich stimmen.

Mit Leichtigkeit fand er sich bis zu einem Waldstück hin, das hinter der Schonung am Gemüsegarten des Grünen Sees mitten in Getreidefeldern lag.

Landjäger Rütter war schon zur Stelle.

Die beiden tauschten einen Händedruck, setzten sich dann in einen kleinen Talkessel und begannen ein recht angeregtes Gespräch.

Rütter fragte unter anderem: »Sie haben die beiden feinen Frauen und den Herrn wirklich nirgends bemerkt?«

»Nein … Und ich bin im Haus genug hin und her gegangen …«

»Dann stecken die drei in dem früheren Tanzsaal, dessen drei Fenster Bröseke eigenhändig zugemauert hat …«

»Ah – der Saal ohne Fenster – Ihr Schmerzenskind!«, meinte Schreiber lächelnd.

»Bitte – wozu ein Saal ohne Licht, das heißt – ohne Fenster!«, ereiferte der Landjäger sich.

»Wenn das alles wäre!«, sagte Schreiber achselzuckend. »Ich habe seit unserer Ankunft im Grünen See schon Wichtigeres bemerkt als den Saal ohne Fenster …!«

»Und – das wäre?«

»Das wäre zum Beispiel: Die drei Mädels, Fanni, Anni, Hanni, sind niemals die Töchter August Brösekes …«

»Nanu ..!«

»Nein, denn wenn Bröseke auch jetzt diesen Namen führt, so heißt er doch in Wahrheit ganz anders. Dass es einen August Bröseke mit drei Töchtern gibt, die auf Fanni, Anni, Hanni getauft sind, bezweifle ich nicht. Nur unser Bröseke hier ist es nicht. Der heißt in Wahrheit Wilhelm Meyer mit y oder mit Künstlernamen Wilm Merina, Hofzauberkünstler Seiner schwarzen Majestät des Kaisers von Abessinien …«

Der brave Rütter hätte sich beinahe vor Staunen den Mund verrenkt. »Ah – so – was!«, stotterte er hervor.

Und das so laut, dass eine Krähe vom nächsten Baum erschrocken davonstrich.

Dann aber fragte er: »Woher in aller Welt wissen Sie das, Herr Schr … Schreiber?«

Er hätte sich fast verplappert. Ihm war streng untersagt worden, Schreibers bekannteren Namen hier je zu gebrauchen!

»Weil dieser Wilhelm Meyer vor drei Jahren, also 1921, mit in eine Kriminalaffäre verwickelt war, nur in einer Nebenrolle, und weil mein Freund Har … twich damals den Herrschaften zu ein paar Jahren Zuchthaus verhalf. Kurz: Hartwich mit seinem fabelhaften Personengedächtnis hat Wilm Merina alias Wilhelm Meyer wiedererkannt. Meyer hat zwei Jahre abzusitzen gehabt. Etwa April dieses Jahres muss er entlassen worden sein.«

»Oh – dann hat der Kerl hier fraglos auch wieder etwas vor! Was hatte er denn damals ausgefressen?«

»Nicht viel … Er war nur Mitglied einer internationalen Bande geworden, die es liebte, D-Zug zu fahren und die Reisenden zu bestehlen …«

»Soso! Und noch weitere Neuigkeiten, Herr Schreiber?«

»Wenn es Sie interessiert: Die drei jungen Damen, Fanni, Anni, Hanni, tragen echte Brillantringe, deren Wert beträchtlich ist, besitzen Toilettensachen aus Silber und feinstem Kristall, gebrauchen die teuersten Dinge zur Hand-, Haut- und Zahnpflege, und …«

»Donnerwetter, mir sagten sie, die Ringe seien nur Simili …!«, brach Rütter wütend los.

Schreiber lachte … »Und was halten Sie von Herrn Viktor Manz, dem Hausknecht?«

»Der war früher was anderes – Bankbeamter, ist abgebaut worden und hat die Stelle nur aus Not angenommen.«

»Ob es wahr ist?« Schreiber zog die Schultern hoch. »Ich glaube es nicht! Genau so wenig, wie ich die Hortensia Bienert für ein harmloses Bienchen ansehe!«

»Was meint denn nun Herr Hartwich?«, forschte Rütter gespannt.

»Der meint über die Sache selbst noch gar nichts. Nein, der meint nur, dass sich schon alles historisch entwickeln wird, nachdem die Geschichte mit dem Radunfall und Ihrem zufälligen Erscheinen funktioniert hat und wir Gäste im Grünen See geworden sind. Ohne Ihr Dazukommen, Herr Rütter, hätte dieser Bröseke-Merina uns nie aufgenommen. Und der Straßenstaub hat die rote Farbe auf Hartwichs künstlich geschundenem Gesicht in eine Schmutzkruste verwandelt, die den Eindruck, den der arme Verletzte auf die Damen machte, noch erhöhte …«

»Also gibt es vorläufig für mich nichts zu tun, Herr Schreiber?«

»Doch! Sie müssen vorsichtig feststellen, wem das Motorboot gehört, in dem der Herr und die beiden eleganten Frauen hier heute zum vierten Mal innerhalb eines Monats erschienen sind.«

»Soll geschehen, Herr Schreiber …«

»Im Übrigen aber halten Sie sich bitte völlig zurück. Hartwich lässt Ihnen noch besonders einschärfen, dass Sie nichts ohne uns unternehmen dürfen. Er erklärte mir schon vor drei Tagen auf Ihren ausführlichen Brief hin in Berlin, dass dieser Saal ohne Fenster fraglos ein Problem werden wird.«

»Verstehe, ein verwickelter Kriminalfall!«

»Ja … Und jetzt wollen wir uns trennen. Sobald ich Sie sprechen muss, werde ich an der Ostecke des Heckenzaunes der Gastwirtschaft ein großes Stück Zeitung befestigen, das Sie mit dem Fernglas erspähen können. Dann finden Sie sich zur selben Stunde wie heute hier ein.«

Schreiber kehrte auf Umwegen in den Grünen See zurück, wo er Herrn August Bröseke erzählte, er habe noch einen Spaziergang gemacht, und seine Frau habe er nun auch von dem kleinen Unfall Hartwichs in Kenntnis gesetzt.

Dann ging er in den Wirtsgarten. Hortensia brachte ihm den Nachmittagskaffee.

Das schlanke große Mädchen trug nun Holzpantoffeln auf nackten Füßen von zweifelhafter Sauberkeit, berlinerte stark und spielte die echte Landpomeranze mit einigem Geschick.