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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Band 26 – Der Saal ohne Fenster – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Saal ohne Fenster

Teil 1

Der alte Pfarrer von Reddin, dem kleinen märkischen Dorf, hatte Sorgen.

Sorgen, die nichts mit seinem Amt zu tun hatten.

Dieser alte Pfarrer war trotz seiner siebzig Jahre von einer bewundernswerten Frische. Körperlich und geistig. Wie er nun so in seiner Werkstatt stand und das Schnitzmesser eifrig handhabte, um die Christusfigur für seine Kirche recht bald zu vollenden, lag auf seinem von weißgrauem Bart umrahmten Gesicht nicht wie sonst der Ausdruck freudiger Begeisterung für diese Kunst der Bildschnitzerei. Etwas Versonnenes zeigte sich in seinen Zügen, und zuweilen hielt er in seiner Arbeit inne und schaute durch die offene Tür grüblerisch hinaus in den weiten Garten des Pfarrhauses, wo der Sommer all seine grüne Pracht entfaltet hatte.

Da war an einen mächtigen, von Früchten über und über betupften Kirschbaum eine lange Leiter gelehnt, und zwischen den Zweigen hindurch schimmerte ein helles Kleid, eine blaue Wirtschaftsschürze und das blonde Köpfchen eines jungen Mädels.

Es war Helga Marling, die hier bei der Frau Pfarrer Herms die Wirtschaft erlernte – Kochen, Backen, Kleinviehbesorgen und vieles andere, denn die Pastorin war weit und breit als vorzügliche Hausfrau bekannt.

Der Pfarrer Herms, der alte Pfarrer, der noch so jung war, trat nun in die Tür.

»Helgachen – nicht zu waghalsig, Kind …? Kirschbaumäste brechen leicht!«, rief er dem blonden Wildfang zu.

»Meine hundertfünf Pfund tragen sie schon, Onkel Pastor«, kam die fröhliche Stimme aus dem Grün des Baumes zurück.

Herms dachte: Sie ist unbefangen wie immer … Und doch … und doch!

Er seufzte. Das kam bei ihm selten vor.

Und kehrte an seine Arbeit zurück, die ihm heute gar nicht so recht von der Hand gehen wollte.

Seine Gedanken umspielten immer wieder die enttäuschungsvollen Stunden der verflossenen Nacht.

Was er da beobachtet hatte, erschien ihm noch jetzt wie ein Walpurgisnachtspuk.

Und stets von Neuem grübelte er darüber nach, wie man in diese widerspruchsvollen Dinge Licht hineinbringen könnte.

Etwas musste ja geschehen.

Unbedingt …! Pfarrer Herms liebte klare Verhältnisse. Als er Helga Marling, Tochter seines Studienfreundes, des Oberregierungsrats, vor sechs Wochen am ersten Juni in sein Haus aufgenommen hatte, war ihm auch nicht im Entferntesten der Gedanke gekommen, das blonde Kind könnte in das stille Pfarrhaus irgendwelche dunklen Geheimnisse mit hineinbringen – wie eine schwere Bürde, die sie schlau den Augen der Menschen zu entziehen wusste.

Der Pfarrer Herms legte das Schnitzmesser weg.

Nein – mit der Arbeit war es heute nichts … Gar nichts sogar! Und unzufrieden langte er nach seiner kurzen Tabakpfeife, stopfte sie mit braungelbem Grobschnitt und ließ das Stahlrädchen des Feuerzeugs Funken gegen den kleinen Docht sprühen.

Ärgerte sich über sich selbst, weil er seiner treuen Lebensgefährtin die Geschehnisse der Nacht bisher verschwiegen hatte.

Überlegte nochmals, ob er klug daran täte, seine Frau einzuweihen. Und kam zu dem endgültigen Entschluss, vorläufig zu schweigen, da die Pastorin über zu geringe Verstellungskunst verfügte und sicherlich durch ihr verändertes Benehmen Helga argwöhnisch gemacht hätte.

»Ich werde die Augen gut offenhalten«, entschied der Pfarrer weiter. »Was in dieser Nacht geschah, ist fraglos bereits mehrmals vorgekommen … und wird nochmals vorkommen!«

Dann ging er in die Küche, wo die Pastorin das Frühstück für ihn schon bereitgestellt hatte.

 

Um dieselbe Zeit stand Herr August Bröseke, Besitzer des Gasthauses Zum Grünen See in Dalchow, dem zum Kirchspiel Reddin gehörigen zweiten Dorf, vor seinem verwahrlosten Besitz und blickte zum Dalchower See hinab, dessen Spiegel im Sonnenlicht funkelte und gleißte, als ob es wirklich Glas wäre.

Bröseke hatte das Gasthaus erst Ende Mai dieses Jahres billig erworben. Die Wirtschaft war seit Jahren völlig vernachlässigt gewesen, da die Ausflügler das neue Terrassenrestaurant am anderen Ende des Dorfes immer mehr bevorzugt hatten. Nun erschien hier im Grünen See nur höchst selten ein Gast, und wenn sich einmal jemand in die abgelegene Kneipe verirrte, schwor er sich, nie wieder dieses Haus zu betreten, wo man einen miserablen Kaffee, lauwarmes Bier und mäßige Speisen unverschämt hoch bezahlen musste. Nur junge Leute fanden sich eher mit diesen Mängeln ab, da die drei Töchter des Witwers Bröseke nicht allzu zimperlich in der Unterhaltung waren und rasche Vertraulichkeiten nicht weiter übelnahmen. Doch auch solchen Grünschnäbeln wusste Bröseke sehr bald das Haus wieder zu verleiden. Kurz: Im Grünen See gab es nie etwas zu tun, und wenn die Dalchower Bauern und Fischer nicht so gedankenträge gewesen wären, hätten sie sich wohl längst gefragt, wovon August Bröseke eigentlich lebte und weshalb er hier in die Einsamkeit gezogen sein mochte – noch dazu mit drei heiratsfähigen Töchtern!

Dieser Bröseke, ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit bartlosem, hagerem Gesicht, in dem unter dicken buschigen Brauen ein paar unruhige graue Augen irrlichterten, schaute noch immer den flachen, mit Hafer bestandenen Hügel zum See hinab, wo soeben ein Motorboot an dem wackeligen Steg festgemacht hatte.

Zwei auffallend elegante Damen und ein Herr kamen nun aus der Kajüte des Bootes zum Vorschein und schritten vom Seeufer nach Osten zu davon, bis ein kleines Waldstück sie den Blicken Brösekes entzog.

Bröseke wollte gerade wieder das Haus betreten, als sich von Norden auf der nach Reddin führenden Landstraße zwei Männer näherten, zwei Radler, von denen der eine schwer hinkte und sich auf den anderen stützte, der beide Räder führte und auch den Rucksack des Hinkenden sich übergehängt hatte.

Bröseke musterte sie, drehte sich um und wollte ins Haus.

Da rief der Kleinere der beiden, der sich mit den Rucksäcken, den Rädern und dem Verletzten abmühte, dem Wirte zu: »Hallo – können wir vielleicht bei Ihnen einen Tag rasten? Wir sind Lehrer und wollten eine Ferientour nach Freienwalde an der Oder unternehmen. Vor einer Viertelstunde stürzte mein Freund Hartwich mit dem Rad … Sie sehen ja, er hat sich auch das Gesicht blutig geschlagen …«

»Tut mir leid … Habe keine Fremdenzimmer …«

Das klang unwirsch.

Bröseke schritt weiter, setzte schon den Fuß auf die Steinstufe der Vortreppe, als hinter ihm ein gurgelnder Schrei ertönte.

Der Verletzte war ohnmächtig geworden, war mit dem Gesicht in den Straßenstaub gefallen, der in ganzen Wolken hochwirbelte.

»Herr Wirt …!«, rief der Kleine abermals, »helfen Sie mir – schnell!«

In seiner Stimme lag etwas so Flehendes, Angstvolles, dass August Bröseke, freilich nur in Rücksicht auf den gerade des Weges kommenden Landjäger Rütter, tatsächlich zusprang und mit anfasste, den Bewusstlosen ins Haus und in eines der hinteren Erdgeschoßzimmer zu tragen.

Derweil bewachte der stämmige Rütter draußen die Fahrräder, von denen das eine arg verbogen war, und die prall gefüllten Rucksäcke.

Ein kaum merkliches Lächeln umspielte dabei seinen Mund.

 

*

 

August Bröseke hatte eine Stunde später seine drei Töchter, den Hausdiener und das Stubenmädchen vorn im leeren Schankraum versammelt.

Die fünf standen dicht um ihn herum, und was Bröseke ihnen nun dringlichst ans Herz legte, war merkwürdig genug.

»Ich hätte die beiden Schulmeister niemals aufgenommen, wenn nicht der Landjäger Rütter die Geschichte mit angesehen hätte … Die beiden sind ohne Frage harmlose Kaninchen, aber – Vorsicht ist stets am Platz! Also richtet Euch danach! Und besonders du, lieber Viktor, solltest endlich dein Äußeres mehr deiner jetzigen Stellung anpassen. Deine Hände sind viel zu sauber, und wenn du dich die Woche einmal rasierst, genügt das … Das Gleiche gilt von Ihnen, Hortensia …« Und dies galt nun dem feschen Stubenmädchen.

Hortensia meinte nur: »Rasieren kommt bei mir wohl nicht infrage … Und bäuerlich genug bin ich schon angezogen …!«

»Glauben Sie …? Der Anzug allein macht es nicht! Wirklich nicht, Hortensia!« Seine Stimme wurde scharf. »Sie sollten mehr auf mich hören, Hortensia! Sobald hier in diesem Lausenest auch nur der geringste Argwohn bei einem der Dickschädel oder bei dem Landjäger rege wird, wir könnten nicht sein, was wir scheinen wollen, dann … haben wir verspielt! So, nun geht wieder an die Arbeit. Ich werde froh sein, wenn die Schulmeister erst wieder Leine ziehen! Wir können hier im Grünen See keinen Fremden brauchen!«

Die fünf verschwanden, und August Bröseke eilte die Treppen des alten Hauses empor – bis zum Dach, öffnete hier die Luke und ging über das knirschende Pappdach bis zum nördlichen Schornstein, der einer Antenne als Stützpunkt diente. Das andere Ende der Doppelantenne war am Flaggenstock vorn am Giebel des Hauses befestigt. Diese Antenne hatte Bröseke selbst gespannt und bei der Post einen einfachen Detektorapparat zum Abhören der Berliner Rundfunkdarbietungen ordnungsmäßig angemeldet, hatte dem Landjäger aber gelegentlich erzählt, dass der Empfang noch sehr schwach sei, was Rütter dann selbst einmal festgestellt hatte.

Neben diesem Schornstein blieb Bröseke stehen und blickte nach Norden zu in die Ferne, wo zwischen zwei Waldstücken flache Getreidefelder in reifem Gelb leuchteten.

Er zog sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.

Mehrmals …

Bröseke tat dies sehr umständlich, ließ das Tuch dabei flattern und machte sich dann an der Antenne etwas zu schaffen.

Zehn Minuten darauf finden wir ihn hinten im Gemüsegarten am wackligen Tor der Dornenhecke im leisen Gespräch mit den beiden eleganten Damen und dem Herrn aus dem Motorboot.

Die Rückseite des Gemüsegartens grenzte an eine Tannenschonung, und hier in dieser Schonung lag hinter einem von den Dörflern für den Winter gesammelten Haufen Reisig der stramme, schnauzbärtige Landjäger Fritz Rütter, ehemals Wachtmeister bei den 2. Jägern, und beobachtete mithilfe eines Fernglases die Begrüßung zwischen Bröseke und den geputzten Städtern.

Er murmelte, als die vier nun in dem buschreichen Garten untertauchten: »Der Teufel mag daraus schlau werden! Nur gut, dass ich die Geschichte an die richtige Adresse weitergegeben habe!«