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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wildschütz – Kapitel 5

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875
Fünftes Kapitel

Das Waldschloss

Wir führen nun den Leser zum Schloss des Grafen Praßlin. Dies Gebäude bot mit seinen hohen, runden Türmen und Kuppeln ein ernstes Ansehen. Die schwarzen, düsteren Mauern, welche schon manchem Jahrhundert trotzen mochten, schauten weit über die einsame Waldung, welche das Gebäude von allen Seiten umgab. Die Befestigungswerke waren noch in gutem Zustand, sie würden im Fall einer Belagerung noch ausgehalten haben. Die mit Eisengittern verwahrten Fenster und Zugänge gaben jedoch dem Ganzen das Ansehen eines Gefängnisses. Die Zugbrücke befand sich meistens aufgezogen und nur über sie führte der einzige Weg in das Inneren.

Der Graf Praßlin war ein Mann von etwa 60 Jahren und von finsterem, menschenfeindlichen Charakter. Daher scheute man ihn nebst seiner Umgebung. Der düstere Schlossherr vermied fast jeden Umgang und seine Wohnung wurde selten von einem Gast betreten. Geschah indessen das Letztere wirklich, dann musste gewiss ein er­hebliches Ereignis den Besuch herbeigeführt haben.

Das Innere des Schlosses zeigte sich fast ebenso unfreundlich wie dessen Ansehen von außen. Da sah man keine freundlichen Zimmer mit hübschen modernen Möbeln. Die Gemächer waren viel­mehr verblichen und bestanden größtenteils in hohen, gewölbten Hallen, ausgestattet mit alten Tischen und Stühlen von Eichenholz und dabei von so kolossaler Arbeit, dass es für einen einzelnen Mann eine anstrengende Arbeit war, eines von seinem Platz hinweg an einen anderen Ort zu schaffen. Wohin das Auge auch immer blicken mochte, es fand sich nichts, was an eine angenehme Häuslichkeit des gebildeten Lebens erinnert hätte.

Im Erdgeschoss befand sich eine Anzahl unbewohnter Zimmer, angefüllt mit altem zerbrochenem Gerät. Daneben waren mehrere Säle, in welchen die Spinnen ungestört ihre Netze von einem Ende bis zum anderen zogen. Von hier gelangte man durch einen unge­heuren Korridor zu einer Wendeltreppe, welche in den Oberstock führte, wo sich die Wohnzimmer des Grafen befanden.

Um die oben angegebene Zeit befand sich der alte Herr in seinem Zimmer, welches von ihm gewöhnlich verschlossen gehalten wurde, während sein alter Kammerdiener Christian im Vorsaal Wacht hielt, um die etwaigen Befehle seines Gebieters zu erwarten.

Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür des Vorzimmers und hereintrat ein junges Mädchen mit schelmischem Ausdruck in dem hübschen, blühenden Gesicht. Sie schlich leise an den alten Christian heran und noch ehe er ihr Erscheinen gewahrte, versetzte sie ihm einen leichten Schlag auf die Schulter.

»Ei, mein lieber Christian, ich glaube gar, Ihr fangt an zu schlafen, bevor Euch der Graf entlassen hat. Das könnte einmal übel für Euch ablaufen, denn wenn Christian seine Augen geschlossen hat, dann würde es unmöglich sein, den Ruf zu vernehmen, selbst wenn wir die große Sturmglocke zögen, welche einige hundert Stufen hoch über Euren Ohren hängt.«

»Schilt mich deshalb nicht aus, mein liebes Kind«, sagte der Alte gutmütig, sich die Augen reibend, »du weißt, wie wunderlich unser Herr ist. Ich darf fast keine Nacht ruhig schlafen und gestern erst musste ich die halbe Nacht an seinem Bett zubringen; auch stand er nach Mitternacht auf und ich musste ihn bei seinem Spaziergang begleiten.«

Das Mädchen schien über diese Erklärung erschreckt worden zu sein. Sie drängte sich näher an den alten Diener heran. Ängstlich seine Hand erfassend, flüsterte sie in leisem Ton: »Wie, Ihr hättet gestern die Runde gemacht? Sagt mir doch nur um des Himmelswillen, was den Grafen zu so abenteuerlichen Hand­lungen bewegen mag. Ich muss gestehen«, fügte sie noch leiser hinzu, »der alte Herr kommt mir so unheimlich vor. Ich fürchte mich schon, wenn ich des Abends hier vorübergehen soll. Man sagt, es sei nicht richtig mit ihm.«

»Still, mein Kind, die Leute fabeln gern und man muss nicht alles glauben, was sie in Bezug auf unseren Herrn auskramen. Es mag sein, dass er eine große Ausnahme von anderen Menschenkin­dern macht, aber …«

Plötzlich hallte der gellende Ton einer Glocke durch die öden Räume des Hauses. Das Mädchen eilte hinaus, und während Christian sich schnell erhob, horchte er gespannt, als erwarte er einen nochmaligen Ruf. Seine Erwartung wurde denn auch bald gerecht­fertigt: Der helle Klang eines silbernen Glöckchens wurde in dem Zimmer des Grafen vernehmlich und Christian zögerte nicht, dem erhaltenen Ruf sofort zu folgen.

Noch waren nicht fünf Minuten vergangen, als der Kammer­diener wieder heraustrat. Wir benutzen diesen Umstand, um den Leser zum Gemach jenes eigentümlichen Mannes zu führen.

Dasselbe besaß eine ziemliche Höhe und war von bedeutendem Umfang. Die Tapeten, welche die Wände bekleideten, waren ver­schossen, und einige sehr alte Gemälde, die an den Wänden umher zerstreut hingen, ließen kaum noch das Dargestellte erkennen.

Im Hintergrund des Zimmers stand ein großer schwerer Eichen­tisch, und an demselben saß in einem ungeheuren Armstuhl Graf Praßlin. Er trug eine Art Turban auf der hohen Stirn, unter welchem hier und da eine silberne Locke sichtbar wurde. Der Schimmer einer Ampel, die von der gewölbten Decke herab­hing, beleuchtete die Züge des Greises vollkommen, sein Blick war trotz der hohen Jahre noch lebhaft und in seinem interessanten Ge­sicht lag ein Ausdruck, welcher Achtung gebot.

Vor ihm auf dem Tisch lagen eine Anzahl Briefe und Bücher, von denen die Ersteren bewiesen, dass er nicht ganz von der Außen­welt abgeschnitten lebte, und an den Zweiten sah man, dass sich der Einsame keineswegs der düsteren Macht eines stumpfen Hinbrütens überließ.

Die weiße Hand, welche leicht zitterte, hielt ein Schreiben, worauf die ganze Aufmerksamkeit des Grafen gerichtet schien, denn er saß unbeweglich und der Blick haftete mit großem Ernst auf den Schrift­zügen.

»Ja«, murmelte er endlich, »es ist eine unumstößliche Wahrheit, dass ich dich, mein einziges Kind, mein einziger Erbe, mehr geliebt habe als mich selbst, und wenn ich mich frage, warum ich dich verstieß, dann habe ich keine andere Antwort als diese – weil du den Willen deines Vaters nicht geachtet hast. Ich sehne mich jetzt an dem Abend meines Lebens, dich noch einmal zu sehen. Ich möchte, ehe ich sterbe, dir verzeihen. Doch mein Wunsch wird nicht, kann nicht in Erfüllung gehen«, fuhr er nach einer Pause in seinem Selbstgespräch fort, »die Wogen des Weltmeeres trennen uns und mein Sehnen ist vergeblich. Mein Ruf dringt nicht durch die unermessliche Weite zu dir hinüber nach dem Land, was dir zur zweiten Heimat geworden ist.« Der Sprecher senkte bei diesen Worten den Kopf auf die Brust, er schien schmerzlich bewegt und seine Hand fiel kraftlos herab.

Da trat Christian leise ins Zimmer. Der Graf, welcher das Geräusch vernommen hatte, fuhr rasch auf.

»Was willst du und weshalb wagst du es, mich zu stören?«, fragte er in finsterem Ernst. »Hast du nicht mehr Achtung vor deinem Herrn? Doch ja, ich weiß es, die Schufte wollen dem alten grauhaarigen Mann keinen Respekt mehr beweisen.« »Verzeiht, Herr Graf«, stammelte Christian, »es ist eine dringende Notwendigkeit, die mich einzutreten nötigte. Ein Fremder ist draußen am Tor und wünscht eingelassen zu werden, indem er vorgibt, für den Herrn Grafen sehr wichtige Nachrichten zu bringen.«

Der Greis schien verwundert. »Es ist schon so spät«, sagte er nach einer Pause.

»Die Uhr ist auf zehn«, bemerkte Christian und zugleich ver­nahm man den dumpfen Schall der großen Turmglocke, welcher hohl und schaurig klagend verhallte.

»Es scheint mir sonderbar«, bemerkte der Graf, »dennoch aber will ich den Fremden heute noch sehen und sprechen. Christian, geh hinab, nimm noch einige Knechte mit und öffne das Tor. Dann bringe den Besuch zu mir herauf.«

Der Angeredete machte eine tiefe Verbeugung und entfernte sich.

Der Graf war von seinem Platz aufgestanden. Er ging un­ruhig mehrmals in seinem Zimmer auf und ab und blieb endlich unbeweglich stehen, während auf seinen Zügen ein Ausdruck gezeichnet lag, der die Erwartung verriet, mit welcher er der Ankunft des Fremden entgegensah.

Das Knarren und Rasseln der Schlösser, begleitet von herannahenden Schritten, zeigten ihm an, dass der Angemeldete in wenigen Minuten erscheinen würde. Die Flügeltüren wurden rasch geöffnet und herein trat ein Mann mit stolzer Haltung, eingehüllt in einen langen Marderpelz.

Graf Praßlin machte eine Bewegung des Unwillens. Er war es nicht gewohnt, dass der Besuchende, wie es gegenwärtig geschah, ohne alle Rücksicht gegen die Etikette handelte und ihn in vollem Reisehabbit seine Aufwartung zu machen sich erdreistete.

Der Eingetretene, in welchem wir unseren Reisenden wieder­erkennen, machte eine leichte Verbeugung, und nachdem er einige Worte der Entschuldigung gesagt hatte, überreichte er dem Grafen ein versiegeltes Schreiben, das derselbe zu lesen begann, während die düsteren Blicke des Fremden unverwandt auf den Zügen des alten Herrn ruhten.

Nachdem der Lesende zu Ende war, entglitt das Papier seiner bebenden Hand. Er setzte sich nieder, ohne seinen Gast einzuladen, ein Gleiches zu tun.

»Ich gehorche den Bestimmungen des Gesetzes«, sagte er nach einer Pause. »Befehlen Sie sonst noch etwas, mein Herr?«, fuhr er dann gegen den unheimlichen Boten sich wendend, fort.

»Ich ersuche den Herrn Grafen, diese Schrift mit seinem Namen zu unterzeichnen«, bemerkte der Gefragte, indem er einen Bogen entfaltete und dem Schlossherrn vorlegte.

Der Aufgeforderte unterschrieb und fast war noch keine Viertel­stunde verflossen, als der Fremde das Schloss wieder verließ.

Der Graf hatte den Scheidenden bis zu der Tür begleitet. Er kehrte nun wieder an seinen Schreibtisch zurück, und die großen, hellen Augen zur Dede emporhebend, murmelte er: »Dem Himmel sei Dank; ich glaube, dass ich meine Schuld ohne Zeugen werde büßen dürfen, eine Gnade, welche mein halbes Vermögen aufwiegt. Tor!«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »kannst du aber deshalb mit Gott und deinem Gewissen Frieden machen? Nein – es wird kein Tropfen Blut weniger an meiner Hand, das ich vergoss.« Der Sprechende begann zu zittern, und während er einem Nebenzimmer zuwankte, verbarg er das Gesicht mit den Händen. Bald darauf lag das Schloss in der tiefsten Finsternis begraben.