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Der Detektiv – Band 23 – Die Rätselbrücke – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 23
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Rätselbrücke

Teil 1

Es war gegen zehn Uhr vormittags. Wir saßen an dem vor einem Korbsofa stehenden Tisch und machten uns mit gutem Appetit über den Morgenimbiss her. Harald hatte sich auch eine Stockholmer Zeitung kommen lassen.

Nach einigen gleichgültigen Bemerkungen über das Herbstwetter und zwei Tassen Kaffee, reichte er mir die Zeitung, ohne hineingesehen zu haben, und sagte: »Ich wundere mich, dass Inspektor Brodersen noch nicht hier ist. Die Kriminalpolizei wird doch fraglos schon gemerkt haben, welch seltsamen Vogel sie da in der vergangenen Nacht erwischt hat.«

Ich wurde sofort stutzig. Seltsamen Vogel? Konnte sich das auf James Palperlon, unseren alten Feind, beziehen? Ich stellte die Tasse hin und meinte unsicher: »Was soll ich denn mit der Zeitung? Du weißt gut, dass ich schwedische Blätter nur sehr mühsam lesen kann.«

»Ach so – ganz richtig, mein lieber Schraut!« Dieser Ausruf war Komödie. »Ganz richtig! Dann will ich mal nachsehen, ob die hiesige Presse über die Vorgänge dieser Nacht bereits unterrichtet ist und wie sie ihren Lesern diese Sensationsnachricht zurechtgestutzt hat. Meistens fantasieren die Reporter die Hälfte dazu.«

Er entfaltete die Zeitung, suchte die Spalten durch und rief dann: »Aha – hier haben wir es! Und – schau nur, auch unsere Namen prangen in der Überschrift: Ermordung des stadtbekannten Antiquars Severin Blomberg. Der berühmte Liebhaberdetektiv Harald Harst und sein Privatsekretär Max Schraut in Stockholm. Verhaftung des berüchtigten internationalen Verbrechers James Palperlon.«

Harst zeigte mir diese dick gedruckte Überschrift eines anderthalb Spalten langen Artikels, faltete die Zeitung zu meinem Erstaunen wieder zusammen und sagte achselzuckend: »Es lohnt nicht, das Geschreibsel zu lesen. Es steht doch nur Unsinn drin. Die Überschrift beweist das.«

Ich verstand ihn nicht. »Nur Unsinn? Was heißt das, Harald?«

»Lieber Alter, wenn den Stockholmern da in der dicken Überschrift vorgeredet wird, Palperlon sei hier verhaftet worden, so ist das eben Blech!«

Ich war – wohl mit Recht – starr. Harst steckte sich nun mit aller Gemütsruhe eine Zigarette an und meinte, bevor ich noch etwas fragen konnte: »Lieber Schraut, glaubst du denn wirklich, wir hätten in der verflossenen Nacht Palperlon erwischt?«

»Allerdings«, erklärte ich kleinlaut, denn ich merkte schon, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war.

»Na also«, sagte Harald und blieb vor mir stehen. »Mein Alter, gesehen hast du sie! Aber wieder nur mit den Augen, mit denen du auch vorhin genussfroh deine Scheibe Schinken betrachtetest. Soll ich dir abermals vorhalten, dass man als Detektiv unbedingt das Hauptgewicht auf das geistige Sehen legen muss? Was nützt es, gute Augen zu haben, wenn nicht der Verstand gleichzeitig diese Bilder, die die Sehnerven uns vermitteln, mit prüft? Kurz und gut: Die Narbe an dem Mittelfinger der weiblichen Person, die ganz nett ohne Schleier ausschaute und die mit gut nachgeahmter, sonorer Männerstimme dann zugab, Palperlon zu sein, diese Narbe war kaum sechs Wochen alt, wie ich sofort bemerkte. Mithin war es nicht Palperlon, sondern jemand, den er zu dem mit Blomberg in der vergangenen Nacht vereinbarten Stelldichein geschickt hatte. Jemand! Und es war eine Frau, lieber Schraut, kein verkleideter Mann. Es war eine Frau, das ich auf 20 bis 25 Jahre einschätze, weiter auf eine Deutsche, denn ihr Schwedisch klang genauso germanisch wie das meine.«

Das Telefon auf dem Schreibtisch an der anderen Wand schrillte unaufdringlich.

Harst ging hin, rief mir zu: »Wetten, dass es Brodersen ist? Jetzt werden die Herren entdeckt haben, dass James Palperlon noch immer sich seiner Freiheit und der ergaunerten Millionen erfreut.« Er nahm den Hörer auf. »Morgen, Herr Inspektor. Strengen Sie sich nicht unnötig an. Weiß schon, was Sie mir mitteilen wollen, dass sich herausgestellt hat, dass Sie diesen angeblichem Palperlon in die falsche Abteilung des Polizeigefängnisses eingesperrt haben, eben in die Männerabteilung. Woher ich dies erfahren habe? Von niemandem. Aus mir selbst heraus. Mir war es schon in der Nacht in Blombergs Wohnung bekannt. Weshalb ich es Ihnen nicht sagte? Ja – ich war eben überzeugt, Sie würden es sehr bald herausfinden oder die Frau würde es eingestehen. Ich mache nicht gern überflüssige Worte. Ah – also deshalb ist die Sache jetzt erst entdeckt worden. Sie haben die Gefangene nur flüchtig durchsuchen und gleich abführen lassen, weil es doch mitten in der Nacht war. Gewiss, kommen Sie nur. Ich bleibe hier im Hotel. Auf Wiedersehen also!«

Harst legte den Hörer weg, fing abermals an, im Zimmer hin und her zu wandern, als es klopfte.

Harst rief: »Herein.« Es war der Kellner mit einer Visitenkarte.

»Die Dame lässt Herrn Harst inständig bitten, sie zu empfangen«, erklärte der Kellner.

Harst las laut den Namen und Titel der Karte vor: Frau Generalkonsul Theresa Knork,

sagte dann: »Ich lasse bitten …!«

Der Kellner verschwand. Harst blickte mich sinnend an.

»Lieber Schraut«, meinte er leise, »wir werden fraglos sehr Interessantes von dieser Dame zu hören bekommen. Wer mich inständig um eine Rücksprache ersucht, der hat schweren Kummer.«

Es klopfte wieder. Harst öffnete, ließ eine schlanke, große, sehr elegant gekleidete Frau ein, deren Gesicht auf den ersten Blick tiefes Herzeleid, das nur mühsam vor der Welt verborgen werden konnte, verriet.

Dann saß Frau Theresa Knork in dem einen Korbsessel, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Harst hatte in dem zweiten Sessel Platz genommen und ich war auf dem Sofa sitzen geblieben.

»Herr Harst«, begann die Dame sofort und zog nervös ihre lange goldene Lorgnonkette durch die behandschuhten Finger, »ich bin erst heute früh hier eingetroffen. Ich reiste Ihnen nach, traf Sie aber nicht mehr in Kopenhagen an. Dann wurde mir dort auf geheimnisvolle Weise ein Zettel mit der Mitteilung zugesteckt, Sie befänden sich in Stockholm. Als ich hier angelangt war und beim Frühstück im Wartesaal des Hauptbahnhofs die hiesigen Morgenzeitungen durchsah – ich spreche das Schwedische recht fließend –, fand ich den Artikel über die Ermordung Blombergs durch Palperlon und die …«

Harst hatte eine liebenswürdige Handbewegung gemacht und sagte nun: »Gnädige Frau, Sie sind recht erschöpft. Bitte strengen Sie sich durch weitläufige Ausführungen nicht noch mehr an. Sie gestatten, dass ich frage. Dann kommen wir sicher schneller zum Ziel. Sie haben sich auf der Polizei nach meiner Adresse hier erkundigt, nicht wahr? Wann waren Sie auf der Polizei, und wen sprachen Sie dort?«

»Gegen neun Uhr. Kriminalinspektor Brodersen war so freundlich, mir …«

»Danke. Haben Sie ein besonders Interesse an Blombergs Ermordung, gnädige Frau?«

»Ja. Weniger an dem Mord selbst als an …«

»… Palperlon!«, vollendete Harst.

Ich sah, wie die Züge der Dame sich jäh veränderten. Sie erstarrten gleichsam in einem Hass, der ohne Maß und Ziel sein musste.

Harst betrachtete Frau Theresa Knork genauso aufmerksam wie ich, merkte, wie sie nun vor Erregung kein Wort über die bebenden Lippen brachte, und sagte leise und in seinem einschmeichelnden Tonfall: »Bitte – bitte, beruhigen Sie sich! Ich ahne bereits so manches. Sie haben eine Tochter, gnädige Frau, und diese Tochter dürfte Ihnen durch Palperlon entfremdet worden sein.«

Da schnellte sie förmlich hoch, streckte die Arme aus, keuchte hervor: »Entfremdet? Nein – gestohlen hat er sie mir! Und jetzt ist auch noch mein Mann verschwunden!«

Aufschluchzend sank sie wieder in den Sessel zurück, schlug die Hände vor ihr plötzlich von Tränen überströmtes Gesicht und wimmerte: »Wenn Sie mir nicht helfen, Herr Harst, sehe ich weder Magda noch meinen Mann jemals wieder.«

Harst rückte seinen Sessel dicht neben sie, meinte gütig und mitfühlend: »Vor mir können Sie sich so geben, wie Ihnen ums Herz ist, gnädige Frau. Vor mir können Sie auch in allem offen sein. Sie müssen es sogar. Denn wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich eben alles wissen. So – und nun berichten Sie mir, was sich in Ihrer Familie ereignet hat. Aber bitte ganz kurz, nur die Hauptsachen. Nach Einzelheiten, die mir wichtig scheinen, werde ich schon fragen.«

Bevor Frau Theresa Knork jedoch beginnen konnte, erschien Inspektor Brodersen. Harst bat ihn, Platz zu nehmen, nachdem er ihm schnell zugeraunt hatte, zu verschweigen, dass Blombergs Mörder kein Mann, sondern eine junge Frau sei.

Dann hörten wir die Knorkʼsche Familientragödie. Ich will diese hier in aller Kürze wiedergeben.

Der Bremer Großkaufmann Johannes Knork war gleichzeitig Generalkonsul der Argentinischen Republik. Er besaß nur ein Kind, eine sehr begabte, aber auch sehr eigenwillige und temperamentvolle Tochter namens Magda. Vor anderthalb Jahren etwa hatte er Frau und Kind für den Winter nach Ägypten geschickt. In Heluan lernten die Knorkʼschen Damen einen jungen Amerikaner kennen, der sich James Palwson nannte. Palwson war in vielem eine etwas geheimnisvolle Persönlichkeit, besaß aber eine geradezu unheimliche Macht über Frauen. Alles, was an Damen damals in Heluan weilte, schwärmte für ihn. Bereits nach einer Woche merkte Frau Knork, dass Palwson sich um ihre Tochter weit mehr kümmerte, als ihr lieb war. Mit dem feinen Instinkt der erfahrenen Weltdame hatte sie schnell die Abenteurernatur dieses Menschen durchschaut, warnte nun Magda eindringlich vor Palwson und schien damit auch Erfolg zu haben. James Palwson blieb noch weitere acht Tage und reiste dann ab. Frau Knork atmete auf.

Aber – sie tat es zu früh. Drei Tage nach Palwsons Abreise verschwand Magda spurlos, und zwar nach einer Tennispartie im Hotelpark. Frau Knork depeschierte sofort an ihren Gatten, der denn auch fünf Tage drauf in Heluan eintraf. Magda war jedoch nicht aufzufinden, obwohl der Generalkonsul einen Privatdetektiv von Ruf mitgebracht hatte, der sich alle Mühe gab, dieses rätselhafte Abhandenkommen eines jungen Mädchens aufzuklären. Erst einen Monat später gelang es ihm festzustellen, dass Magda heimlich in einer Verkleidung nach Kairo, dann nach Suez und weiter nach Aden gereist war, dass sie in Aden in Begleitung eines Mannes gesehen worden war, der nur Palwson gewesen sein konnte, und dass das Paar dann einen Dampfer nach Bombay benutzt hatte. Von da ab verlor sich die Fährte.

Magdas Eltern kehrten völlig gebrochen nach Bremen zurück, mieden allen Verkehr und lebten nur ihrem Schmerz um ihr einziges Kind. Der Generalkonsul hatte jedoch den Privatdetektiv beauftragt, die Nachforschungen nach Magda unermüdlich fortzusetzen.

Der Privatdetektiv brachte nach weiteren vier Monaten heraus, dass Magda und Palwson sich kurze Zeit in Gwalior in Indien aufgehalten hatten und dass Palwson fraglos ein Abenteurer schlimmster Sorte sei, der ständig den Namen wechselte und sich unter anderem auch Palperlon nannte. Zu Gesicht bekam er die beiden jedoch niemals. Ein Jahr fast verging. Das Ehepaar Knork hatte sich bereits mit dem Gedanken abzufinden gesucht, Magda nie mehr wiederzusehen, als diese ganz unvermutet heimkehrte, sich den Eltern zu Füßen warf und ihre Verzeihung erflehte. Sie wurde ihr gewährt. Sechs Wochen blieb sie in der Villa des Generalkonsuls, ohne sich je über die Grenzen des großen, zu dem Besitztum gehörigen Parkes zu entfernen. Sie lebte wie einst nur ernsten Studien, malte, las wissenschaftliche Werke und lehnte jede Frage der Eltern nach Palwson mit dem Bemerken ab, sie wünsche nicht mehr an diese Vergangenheit erinnert zu werden. Sie war dabei keineswegs seelisch niedergedrückt. In ihrem ganzen Wesen bekundete sie eine große Selbständigkeit und ein Zielbewusstsein, das ihr bald ein gewisses Übergewicht über ihre nachsichtigen Eltern gab.

Nach Ablauf von sechs Wochen verschwand sie abermals. Eines Morgens fand man ihr Bett unberührt. Ein Koffer fehlte, in dem sie einige Kleider und etwas Wäsche mitgenommen hatte. Diesmal hatte der von dem Generalkonsul sofort herbeigerufene Privatdetektiv mehr Glück. Er ermittelte schon am folgenden Tag, dass Magda mit einem älteren Herrn nach Berlin gereist war. In Berlin jedoch ging jede Spur verloren. Die bedauernswerten Eltern ahnten, dass ihr Kind von Neuem von jenem Abenteurer entführt worden war. Dann brachten die deutschen Zeitungen die ersten Notizen über Harald Harsts Kampf gegen den größten, genialsten Verbrecher aller Zeiten, gegen James Palperlon. Mit Entsetzen erkannten nun erst der Generalkonsul und seine Gattin, wer ihnen ihre Tochter geraubt hatte.

Zwei Monate später wurde in die Knorkʼsche Villa eingebrochen und dabei auch ein in dem Arbeitszimmer des Generalkonsuls in die Wand eingelassenes Stahlschränkchen aufgebrochen und ausgeplündert. Die Diebe, die Geld und Schmuck im Gesamtwert von 120.000 Mark erbeutet hatten, wurden nicht entdeckt.

Abermals vierzehn Tage darauf musste der Generalkonsul, der als Hauptaktionär an einer neuen Diamantmine in Südafrika beteiligt war, dorthin reisen. Die Mine, die unweit des Flusses Muwuru im Sululand lag, war infolge der reißenden Strömung und der zahllosen Stromschnellen des Muwuru nur mithilfe einer natürlichen Felsenbrücke zu erreichen, der die umwohnenden Sulus den Namen Brücke der Geheimnisse oder Rätselbrücke deswegen gegeben hatten, weil sie angeblich niemanden passieren ließ, der eine der den Sulus heiligen, grünbraun gesprenkelten Matsauaschlangen getötet hatte.

Johannes Knork kehrte aus Afrika nicht heim. Vor drei Wochen hatte seine Gattin die Nachricht erhalten, dass er sich eines Abends kurz vor dem Eintreffen an der Muwurubrücke aus dem Lager entfernt hatte und seitdem verschwunden war. Seine Begleiter nahmen an, er sei von Löwen zerrissen worden.

Frau Knork glaubte nicht an ein solches Ende ihres Gatten. Als sie in ihrer Erzählung bis zu diesem Ereignis gelangt war, fügte sie die Bemerkung ein: »Niemals werde ich Johannes als tot betrauern, Herr Harst! Er war ein kräftiger Mann, ein vorzüglicher und erprobter Jäger. Er kannte die afrikanischen Verhältnisse ganz genau. Er selbst hat bei einer Jagdexpedition im Sululand vor zwei Jahren die Diamantmine am Muwuru entdeckt. Herr Harst, ich beschwöre Sie: Reisen Sie nach Afrika und suchen Sie meinen Gatten. Nur Ihnen traue ich es zu, das Geheimnis seines Verschwindens aufklären zu können.«

Harst erwiderte der bereits wieder von ihrem Schmerz völlig Überwältigten, er würde ihr bestimmt helfen. Aber er sagte das in so düsterem und zögerndem Ton, dass die Dame aufmerksam wurde und ängstlich fragte: »Mein Gott, fürchten Sie etwa, dass Johannes tot ist, Herr Harst?«

»Ich fürchte es nicht, kann Ihnen aber auch keinerlei Hoffnung machen, dass er noch lebt, gnädige Frau«, erklärte er nicht minder ernst und streckte ihr mitleidig die Hand hin, die er dann in der seinen behielt. »Sie sind eine schwergeprüfte Frau«, fuhr er fort. »Vielleicht steht Ihnen sogar noch das Schwerste nahe bevor.«

Sie schüttelte müde den Kopf.

»Oh – was sollte sich wohl noch ereignen, das mein vor Schmerz fast totes Herz noch erregen könnte?«

Harst blickte sie ernst an. »Gnädige Frau, nehmen Sie all Ihre Kraft zusammen, damit Sie unter der Mitteilung nicht zusammenbrechen, die ich Ihnen machen muss. Palperlon ist abermals entwischt. Die junge Frau, die verhaftet wurde und die sich geschickt für James Palperlon ausgab, ist …«

»Magda!«, schrie Frau Knork auf. »Magda, mein Kind, eine Mörderin! Oh, dieser Schurke! Er wird sie zu diesem Verbrechen angestiftet haben. Er hat sie …« Schon wieder erstickte ein Tränenstrom ihre Stimme.

Wir saßen schweigend da. Gegenüber dieser Verzweiflung eines lieben Mutterherzens wäre jedes Trostwort eine leere Redensart geblieben.

Welche Energie diese Frau jedoch besaß, zeigte sich nun noch deutlicher als vorhin. Theresa Knorks Tränen versiegten.

»Herr Inspektor«, sagte sie zu Brodersen, »ich habe ein Recht darauf, mein Kind zu sehen. Hat Magda zugegeben, wie sie heißt, hat sie Ihren Namen genannt?«

»Nichts sprach sie bisher – nichts!«, meinte Brodersen leise und mit einem Blick auf die Dame, der verriet, dass er Herz genug besaß, mit ihr mitzufühlen.

Harst schaute auf. Er blickte Frau Theresa Knork an und sagte: »Ich möchte Sie noch einiges fragen. Ihr Gatte entdeckte die Muwuru-Mine bei einem Jagdausflug. Meldeten damals die Zeitungen die Auffindung dieser neuen Diamantenlager?«

»Ja, Herr Harst. Mein Mann wollte sofort eine Aktiengesellschaft gründen, um …«

»Danke, gnädige Frau. Ihr Gatte hat die genaue Ortsangabe über die Lage der Mine wahrscheinlich stets geheim gehalten, nicht wahr?«

»Allerdings. Er hatte damals aus Afrika rohe Edelsteine im Wert von zwei Millionen mitgebracht. Diese ohne Mühe aus der Mine aufgelesenen Steine genügten den Herren als Beweis des Reichtums der Fundstelle.«

»Ihr Gatte wird doch aber wohl eine Skizze über die Lage der Mine angefertigt haben. Hat diese Skizze vielleicht in dem Wandstahlschränkchen gelegen?«

Frau Knork blickte Harst überrascht an. »So ist es. Die Skizze glaubte er dort am sichersten aufgehoben.«

»Wer hatte Kenntnis von dieser Skizze und dem Ort, wo sie verwahrt wurde?«

»Nur mein Mann, ich und Magda.«

»Also auch Ihre Tochter. Das dachte ich mir. Es musste so sein. Sonst wäre Palperlons Vorgehen unverständlich.«

»Welchen Beruf nannte James Palwson damals in Heluan als den seinen?«, fragte Harst jetzt weiter.

»Er gab an, Bergingenieur zu sein«, erwiderte Frau Theresa Knork. »Er erzählte viel von seinen Reisen in die entlegensten Gebirgsgegenden, von Gold- und Silberminen und …«

»Danke, gnädige Frau. Als der Einbruch in Ihre Villa geschah, befand sich damals noch die Skizze in dem Wandschränkchen?«

»Ja. Aber die Diebe ließen sie unbeachtet. Sie war auf ein Stück gegerbte Haut gezeichnet. Dieses quadratische Lederstück hatte mein Mann zu einem Beutel für einen wertvollen Meerschaumpfeifenkopf zusammengenäht, damit es ganz harmlos wirkte.«

»Noch eine letzte Frage, gnädige Frau«, meinte Harst. »Dann wollen wir versuchen, ob wir Ihre Tochter nicht zum Sprechen bringen. Sie erwähnten, dass Ihnen in Kopenhagen auf geheimnisvolle Weise Nachricht über meinen Aufenthalt hier in Stockholm gegeben wurde. Wollen Sie mir bitte hierüber Näheres mitteilen.«

»Oh, darüber lässt sich nicht viel sagen, Herr Harst. Mir begegnete auf der Straße in Kopenhagen ein alter Fischer oder Matrose, reichte mir einen Brief und war wieder verschwunden, bevor ich noch recht wusste, dass ich von einem Fremden diesen Brief entgegengenommen hatte.«

Sie öffnete ihr goldenes Handtäschchen. »Bitte – hier ist Umschlag und Brief. Alles ist mit Maschine geschrieben. Ich habe keine Ahnung, wer der Absender ist. Unter den drei Zeilen steht lediglich ein fremdländisch klingender Name: Lihin Omen!«

»Also hatte ich richtig vermutet!«, rief Harst leise und nickte mir vielsagend zu. Dann las er den kurzen Brief unseres Konkurrenten:

Sehr geehrte gnädige Frau! Ein Freund teilt Ihnen mit, dass Harald Harst sich in Stockholm aufhält. Sie tun recht daran, ihn um Hilfe zu bitten. Ihre Tochter muss diesem Scheusal von Palperlon entrissen werden. Ich bin ehrlich: Meine Kunst versagt hier! Ich hätte für Sie, Ihre Tochter und Ihrem Gatten keine Mühe gescheut. Ihr ergebenster Lihin Omen!

Harst hatte sich erhoben. »Herr Inspektor, wenn es Ihnen genehm ist, fahren wir jetzt zum Polizeigefängnis«, wandte er sich an Brodersen.

Dieser hatte sein Dienstauto vor dem Hotel warten lassen. Während der Fahrt in dem geschlossenen Kraftwagen fragte Harst Frau Knork, ob ihre Tochter nicht schon vor der Reise nach Heluan ernsthafte Bewerber gehabt habe.

Frau Theresa Knork entgegnete ohne Zögern: »Magda hatte einen Bewerber, den wir mit Freuden als Schwiegersohn willkommen geheißen hätten. Es war ein sehr reicher, feingebildeter Mann. Aber Magda war er gleichgültig.«

»Dürfte ich den Namen erfahren?«

Die Frau Generalkonsul zauderte. »Muss ich ihn wirklich nennen? Nun, es sei. Der Herr ist der Berliner Privatgelehrte und Kunstsammler Dr. Erwin Branden, ein mehrfacher Millionär.«

»Soso. Nun, dieser Herr interessiert mich nicht weiter«, meinte Harst.

Wir waren angelangt. Brodersen führte uns in sein Dienstzimmer. Frau Knork musste sich in einen Aktenraum nebenan hinter die handbreit geöffnete Tür setzen.

Sie setzte sich auf den bereitgestellten Stuhl mit dem Gesicht nach den beiden Fenstern hin. Wie vereinbart, begann Harst dann anstelle Brodersens das Verhör, und zwar in deutscher Sprache.

»Geben Sie zu, den Antiquitätenhändler Severin Blomberg erschossen zu haben?«, fragte er mild.

Beim Klange der vertrauten Heimatslaute zuckte Magda Knork zusammen. Ihre Blicke verrieten eine schnell sich steigernde Besorgnis. Dann veränderten ihre Züge sich plötzlich. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und mit einem Ausdruck ohnmächtigen Hasses schaute sie Harst nun an, stieß dann hervor: »Oh, ich weiß, wer Sie sind, Harald Harst! Der Verfolger eines Unglücklichen, den ich liebe, dem Sie aber aus Rachsucht Verbrechen über Verbrechen andichten!«

»Palperlon hat Sie belogen, Fräulein Knork, belogen in allem!«, sagte er mit jenem Ernst, der seine Wirkung nie verfehlte. »Sie sind ihm lediglich Mittel zum Zweck gewesen. Er brauchte Sie, um zu erfahren, wo Ihr Vater die Muwuru-Skizze versteckt hielt. Dann weiter dazu, in die Villa gefahrlos einbrechen zu können.«

Magda Knorks Antlitz wechselte abermals den Ausdruck. Sie blickte Harst zweifelnd an. Unruhe und Angst erschienen auf ihren Zügen.

Da sprach Harst schon weiter. »Beantworten Sie mir eine Frage, die dann alles klären wird. Hat Palperlon mit Ihnen in Heluan über Ihres Vaters Entdeckung im Sululand gesprochen? Sagte er nicht, dass gerade er als Bergingenieur sich für neue Minenfunde interessiere?«

Das junge Mädchen senkte den Kopf. Eine Weile nichts. Dann ein sehr zögerndes Ja!

»Nun, das genügt. Hören Sie mich an, Fräulein Knork. Ich will Ihnen in Kürze auseinandersetzen, weshalb Palperlon Sie umgarnt hat. Sie werden ihm in Ihrer Arglosigkeit in Heluan erzählt haben, dass Ihr Vater über die Muwuru-Mine eine Skizze angefertigt hätte, die er aber sehr sorgfältig verwahrt hielte. Er wusste Sie dann zu betören. Er war jedoch vorsichtig und wartete viele Monate, ehe er wieder einen Schritt weiterging. Er wollte Sie nicht argwöhnisch machen, und er hat stets Geduld bei der Verwirklichung seiner großzügigen Pläne bewiesen. Er schickte Sie heim zu Ihren Eltern. Unter welchem Vorwand, ist gleichgültig. Inzwischen hatten Sie ihm anvertraut, dass die Skizze in dem Wandschränkchen lag. Zu diesem wird nur Ihr Vater einen Schlüssel besessen haben. Jedenfalls hat Palperlon Sie dann während der sechs Wochen, die Sie daheim waren, des Öfteren heimlich besucht. Ist es nicht so?«

Magda Knork nickte nur. Sie hob den Kopf nicht mehr. Ihre Wangen hatten alle Farbe verloren. Man merkte, wie sehr das Misstrauen bereits ihre Seele mit allerlei Zweifeln peinigte.

»Palperlon wollte bei diesen Besuchen lediglich die Gelegenheit zu dem Einbruch auskundschaften«, fuhr Harst fort. »Nachdem Sie aus Ihrem Elternhaus dann wieder auf seine Veranlassung entflohen waren, führte er den Einbruch aus. Es kam ihm dabei lediglich darauf an, die Muwuru-Skizze schnell abzeichnen zu können. Zum Schein stahl er, was des Mitnehmens wert war. Jetzt aber, Fräulein Knork, hat er Sie abschütteln wollen. Ich weiß nicht, wie es ihm möglich war, Sie dazu zu bewegen, Blomberg niederzuschießen. Vielleicht hat er Ihnen eingeredet, Blomberg stehe mit mir im Bunde und wolle mir behilflich sein, ihn zu fangen.«

»So ist es«, sagte das junge Mädchen leise. Sie hob den Kopf und schaute durch das Fenster mit einem völlig seelenlosen Blick auf das gegenüberliegende Haus, während ihr Gesicht wie zu einer Maske erstarrte. Diese bleichen, ausdruckslosen Züge wirkten fast beängstigend. Noch beängstigender war das, was folgte.

Wie im Traum sprach sie nun vor sich hin: »Mir fiel es schon damals auf, dass er immer wieder auf die als Pfeifenbeutel verborgende Skizze zurückkam! Also deshalb … deshalb …!«

Frau Theresa Knork erschien plötzlich in der Tür.

»Magda … Magda, … mein Kind!«, rief sie mit tränenschwerer Stimme und breitete die Arme nach ihrer Tochter aus.

Die junge Frau jedoch blickte nur flüchtig zu der Mutter hin, stand auf, sagte fest, aber mit seltsam klangloser Stimme: »Mein Leben ist verpfuscht. Ich weiß jetzt, dass Palperlon mich hintergangen hat, dass nur er der Einbrecher gewesen sein kann.« Sie schaute Harst dabei an. »Ich glaube jetzt auch alles andere, was von Palperlon behauptet wird. Er hatte mich in ein Netz von Lügen eingesponnen. Ich habe oft an seinen Worten gezweifelt. Eine Frau, die liebt, ist leicht zu täuschen, wehrt nur zu gern alle Zweifel von sich ab.« Dann wandte sie sich an Brodersen. »Lassen Sie mich in meine Zelle zurückführen. Nachmittags will ich Ihnen alle Fragen beantworten.«

Frau Knork stand mit schlaff herabhängenden Armen da.

»Magda!«, rief sie nochmals.

Aber ihre Tochter schüttelte nur den Kopf und sprach wie in die Luft hinaus: »Es gibt keine Magda Knork mehr …«