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Der Detektiv – Band 22 – Um die Millionenbeute – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 22
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Um die Millionenbeute

Teil 1

Harsts Laune war in jenen Tagen nach der Flucht James Palperlons die denkbar schlechteste. So schweigsam und in sich gekehrt war er bisher nie gewesen. Ich merkte, dass ihm die Äußerungen der Kopenhagener Presse genau so nahe gingen, wie der kühl-förmliche Abschied von Lord Melville. Dieser machte ihm zum Vorwurf, Palperlons Entweichen durch ungenügende Sicherheitsmaßregeln erleichtert zu haben. Die dänischen Zeitungen wieder brachten sehr deutlich zum Ausdruck, dass Harst unbedingt die Hilfe der Kopenhagener Polizei hätte im Anspruch nehmen müssen.

Für mich als Freund und Privatsekretär Harald Harsts waren es damals ebenfalls schwere Tage. Wir hatten unter unseren richtigen Namen in einem der ersten Pensionate Wohnung genommen. Zu dem Pensionat gehörte ein großer Garten, in dem noch ein kleineres Logierhaus stand. In diesem hausten wir in zwei Zimmern des Hochparterres, deren vier Fenster zu den Tennisplätzen hinaus gingen.

Es war am Morgen des vierten Tages. Ich erwachte in unserem gemeinsamen Schlafzimmer über dem Prasseln eines starken Regenschauers gegen die Fenster.

Ich richtete mich auf. Harsts Bett war leer.

Leer? Ich schaute genauer hin. Ich sah nun, dass er es offenbar gar nicht benutzt hatte. Ich war gestern Abend vor ihm schlafen gegangen und auch sofort eingeschlummert.

Ich zog mich hastig an und öffnete die Tür nach dem Salon, trat ein. Mein Blick fiel auf die grünbezogene Schreibtischplatte. Dort lag ein Brief. Adresse: Herrn M. Schraut. Also für mich – von Harst! Da ahnte ich schon, dass er Kopenhagen verlassen und in diesen Tagen vor mir so ein wenig Komödie gespielt hatte. Der umfangreiche Brief lautete:

Mein lieber Alter! Um deinen festen Schlaf habe ich dich immer schon beneidet. Die hiesige Luft scheint besonders schlafhaltig zu sein. Dass ich in diesen drei Nächten, seit wir der Frau Ebba Blörnken die Ehre unserer Anwesenheit erweisen, stets vier bis fünf Stunden dich schnöde allein gelassen habe, hast du in hervorragendster Weise nicht bemerkt.

Also: Ich war Nachtschwärmer vom ersten Abend an.

An diesem ersten Abend verließ ich unseren Salon gegen halb eins bei Regen und Sturm durch das Fenster, lehnte es nur an, band es mit einer Strippe am Weinspalier fest, damit es nicht aufflog und kletterte über den rückwärtigen Gartenzaun. Diesen Weg wählte ich stets. Ich nahm ein Auto und fuhr hinaus nach Klampenborg zu unserem Freund, dem Fischer Göllpaart, dessen Sohn Gunnar ich 500 Kronen versprochen hatte, wenn er herausbrächte, wo Palperlon gelandet war.

Ich hatte ihm auch verschiedene Winke gegeben, wo und wie er nach Palperlons Motorboot suchen sollte. Ich war überzeugt, dass Palperlon irgendwo in der Nähe eines Küstenortes mit Eisenbahnverbindung das Boot versenkt hatte, um jede Spur hinter sich zu verwischen und sofort in irgendeiner Maske die Bahn benutzen zu können. Die Anzahl dieser Küstenorte, die hier infrage kamen, ist nicht allzu groß. Gunnar sollte im Norden bei Helsingör anfangen.

Als ich seine Eltern in Klampenborg damals nachts heraustrommelte, war er nicht daheim. Ich verabschiedete mich also sofort wieder, bestieg das wartende Auto und fuhr zu dem Vorsteher der Kopenhagener Zweigstelle der Auskunftei Schimmelpfeng. Herr Meyer ist geborener Berliner, Junggeselle und Kunstfreund. Er war noch auf und besichtigte gerade eine alte Stutzuhr, die er am Tage gekauft hatte. Ich vertraute ihm gegen Zusicherung voller Verschwiegenheit an, dass ich Palperlon das Armband wieder abjagen wollte, und bat ihn, mir auf Grund seiner Allerweltsweisheit mitzuteilen, wo ein Gauner wohl ein Schmuckstück von so hohem Wert am leichtesten und am günstigsten verkaufen könne.

Herr Meyer schrieb mir ein Dutzend Namen und Adressen in den verschiedensten Städten des europäischen Kontinents auf, lächelte geschmeichelt, als ich die Vielseitigkeit seiner Firma gebührend lobte, lehnte eine Bezahlung der Auskunft ab und führte mich in sein Museum, in dem er als begeisterter Sammler von Antiquitäten manch interessantes Stück stehen hatte, darunter auch ein mechanisches Spielzeug in Gestalt eines auf einer Schüssel ruhenden Menschenhauptes, das nicht nur die Lider, die Augen und den Unterkiefer bewegte, sondern auch die Zunge herausstreckte und deutlich Papa und Mama sagte.

Dieser Kopf sollte aus Nürnberg und aus dem 15. Jahrhundert stammen. Leider musste ich Herrn Meyer erklären, dass man ihn mit dieser Rarität gründlich angeschmiert hätte. Ich bewies ihm, dass der Metallteller, auf dem der Wachskopf festgeschraubt war, aus einer Legierung bestand, die erst eine Erfindung der Neuzeit ist, und dass das Uhrwerk in dem Kopf (der Hinterkopf ließ sich abklappen) ohne Frage Fabrikarbeit war. Worauf Meyer himmelhoch schwor, bei seinem nächsten Aufenthalt in Stockholm dem Kerl, der ihm das Ding angedreht hatte, gehörig seine Meinung zu sagen. Dieser Kerl heißt Severin Bloomberg. Merk dir den Namen.

In der folgenden Nacht wurde es bei schönstem Wetter eine Mondscheinfahrt nach Klampenborg. Wieder traf ich Gunnar nicht an. Ich hatte mich damals so etwas »zurechtgestutzt«. Harald Harst sah ganz anders aus. Der blasse, nach »Galizien« ausschauende und sehr gebrochen Englisch sprechende Herr, der dann den einzigen Kopenhagener Biedermann, der auf Meyers Zettel vertreten war, herausklingelte, wurde von dem ehrwürdigen Doktor der Philosophie und Privatgelehrten Olaf Doornblam zunächst sehr zurückhaltend empfangen, nannte sich Miesgoeslaw Podzrcz und erklärte im Verlauf einer Unterhaltung über alle Schmuckstücke, ihm sei zufällig eine Brosche aus der Renaissancezeit, Emailmalerei mit Brillantkranz, in die Finger geraten, die er gern verkaufen möchte.

Doornblam fragte, ob ich die Brosche bei mir hätte. Ich verneinte, verneinte aber absichtlich so, dass es mehr eine Bejahung war. Ich erklärte weiter, ich würde ihm die Brosche morgen Nacht bringen. Fügte in einem Atem hinzu, ob er vielleicht auch Interesse für altertümliche Armbänder habe.

Als ich altertümliche Armbänder sehr vorsichtig erwähnte, zogen sich seine Augenbrauen hoch, seine Lider schlossen sich und er versuchte den Ahnungslosen zu spielen, obwohl er fraglos sofort an den Melville-Schmuck gedacht hatte, von dem die Zeitungen ja vor zwei Tagen in Riesenartikeln berichtet hatten.

Nun, ich versprach ihm dann, als er auf den Köder anbiss, das Armband ebenfalls in der nächsten Nacht mitzubringen. Aus seinem Verhalten merkte ich, dass der Melville-Talisman ihm bisher nicht angeboten worden war. Das genügte mir oder hätte mir genügen sollen. Wenn ich trotzdem dann gestern Nacht, nachdem ich Gunnar Göllpaart gesprochen hatte, wieder bei ihm mich einfand, so lag das eben daran, weil der junge Fischer bedeutend mehr Schlauheit entwickelt hatte, als ich ihm zutrauen konnte. Er hatte nämlich jenseits des Øresundes auf der schwedischen Seite in einem Fischerdorf unweit Arlöf, der ersten Station nördlich von Malmö, von einem Bekannten erfahren, dass ein paar Fischer in einer nahen Bucht durch einen auf der Wasseroberfläche schwimmenden großen Ölfleck auf die Vermutung gekommen seien, dort müsse ein kleiner Dampfer oder dergleichen gesunken sein. Du ahnst wohl schon, dass die Fischer auf diese Weise das in nur drei Meter Tiefe liegende kleine Motorboot gefunden und in aller Stille geborgen hatten. Sie wussten sehr gut, dass die Polizei in Kopenhagen nach einem solchen Boot suchte, hüteten sich aber, den Fund zu melden, weil sie den Motor sehr gut für sich brauchen konnten. Gunnar hat dann auf dem nahen Bahnhof Arlöf sich nach einem einzelnen Reisenden erkundigt und wirklich ermittelt, dass ein älterer, in der Gegend ganz unbekannter Herr eine Fahrkarte 1. Klasse nach Stockholm gelöst hatte. Dies war gegen acht Uhr morgens zu dem gerade fälligen Zug geschehen. Und um diese Zeit konnte Palperlon längst schwedischen Boden erreicht haben.

Lieber Alter, ich habe hier eine halbe Stunde bei Niederschrift dieser Aufklärung über meine plötzliche Abreise pausieren müssen, weil ich es für ratsam hielt, das Licht auszudrehen und mich im Dunkeln an das Fenster zu stellen.

Jetzt nun habe ich Grund, diesen Brief schleunigst zu beenden und dir Folgendes aufzutragen: Reise morgen heim nach Berlin und erwarte mich dort. Grüße meine Mutter herzlich und bestelle ihr, dass ich bald dort einzutreffen hoffe. Wohin ich gereist bin, verschweige ich dir. Jedenfalls nicht nach Stockholm. Und weshalb ich diesmal auf deine Begleitung verzichte, will ich nur andeuten: Dieser weißbärtige Simson ist kein zu verachtender Feind und arbeitet mit Mitteln, denen gegenüber selbst Palperlons Mörderfantasie harmlos genannt werden muss. Du würdest nur meine Bewegungsfreiheit behindern. Alles Weitere mündlich, besonders meinen zweiten Besuch bei dem Millionär Doktor Doornblam, wobei ich dem Tod näher als je zuvor war. Leb wohl – Wiedersehen. Dein H. H. (Nachschrift: Sei vorsichtig. Doornblam wird vielleicht auch dir eine Falle stellen wollen).