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Dämonische Reisen in alle Welt – Kapitel VII, Teil 2

Johann Konrad Friederich
Dämonische Reisen in alle Welt
Nach einem französischen Manuskript bearbeitet, 1847.

Kapitel VII, Teil 2

Die Vorstellung begann mit Molieres Meisterwerk, dem Tar­tuffe, auf den das neue Stück folgen sollte. Unter den Zuschauern befanden sich außer den reichsten Parvenüs, Wechsler und Wechselagenten auch viele Damen, welche Vorsteherinnen oder Teilneh­merinnen verschiedener Wohltätigkeitsanstalten waren, wie es deren in Paris so manche gibt, um das große Elend der ärmeren Klasse zu mildern. Als das erste Stück beendet war und sich der Vorhang abermals in die Höhe rollte, stellte die Bühne das prächtige Boudoir einer Bankiersfrau dar. Im Hintergrund erblickte man in einer Art Alkoven das hoch getürmte Thronbett der Dame, dessen Vor­hänge von schwerem grauen Seidensamt mit dicken silbernen Fran­sen besetzt waren. Die Überdecke des Bettes war von antiken, nun wieder so gesuchten Spitzen von wenigstens zwanzigtausend Franken an Wert; das Bettgestell selbst von Palisanderholz in Schiffsform war mit dem künstlichsten Schnitzwerk versehen, reich vergoldet und kostete wenigstens zehntausend Franken. Der Betthimmel stellte eine prächtige, reich mit Federn geschmückte Krone dar. Alles übrige Ameublement in diesen Gemächern passte zu der Pracht des Bettes. Schwellende Gobelinteppiche bedeckten die Fuß­böden, und Fenstervorhänge, für den Wert eines jeden derselben man ein kleines Häuschen für eine arme Familie hätte erbauen können, zierten die Balkone; alles Übrige war im Verhältnis.

Eine in die kostbarsten Stoffe gekleidete Dame, mit schwe­rem Geschmeide behängt, saß in der einen Ecke einer Causeuse, de­ren andere ein wohlgenährter und wohlbeleibter Herr, der schon bei Jahren war, einnahm.

»Also zwei Millionen, lieber Mann, sagst du, dass du bei dem Geschäft mit den Nordeisenbahnaktien verdient hast. Irrst du dich auch nicht?«

»Nein, liebe Frau, es ist eine runde Summe von zwei Millionen, nicht mehr und nicht weniger. Eine Kleinigkeit gegen das, was das Haus R… gewann, die wenigstens zehnmal so viel machten.«

»Nun, wir können einstweilen mit dieser Kleinigkeit zufrieden sein. Du wirst mir doch jetzt erlauben, unseren Mädchen jeder einen anderen echten indischen Kaschmir zu kaufen?«

»In Gottesnamen, nur mache es nicht zu arg.«

»Wo denkst du hin, lieber Mann, nicht über zehntausend Franken das Stück, du kennst ja meine Sparsamkeit.«

»Nun, das lasse ich mir gefallen.«

»Sodann einige Brillanten, Halsbänder, Broschen, Brace­lets, Ohrgehänge, Haarschmuck und sonstige unentbehrliche Klei­nigkeiten.«

Das wird Summa Summarum doch eine ziemliche Rech­nung geben.«

»Ich verspreche dir, dass alles in allem noch nicht volle fünfzigtausend Franken betragen soll.«

Der Bankier seufzte.

»Und dann, lieber Mann, sparen wir ja außerordentlich auf der anderen Seite, keine großen Essen, keine Geld und Zeit rau­benden Feten. Wir leben so einfach und gemütlich, so recht en famille und sehen niemand bei uns als unsere intimen frommen Freunde. Echte Frömmigkeit würzt unser frugales Mahl, fern von uns hal­ten wir alle diese sündigen Weltkinder, diese verlorenen Söhne, die uns einfältige Methodisten, dumme Pietisten schimpfen: Dafür segnet auch Gott unsere Unternehmungen. Nicht wahr, mein lie­ber Mann?«

»Freilich, freilich, liebe Frau.«

»Aber etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches müssen wir doch bei dieser Gelegenheit, ich meine wegen den zwei Millionen, für die liebe Armut tun. Was meinst du, lieber Mann?«

»Das überlasse ich dir.«

»Gut, so will ich hundert Franken extra dazu verwenden.«

»Welche Großmut! Gott wird uns dafür belohnen, er wird es uns tausend­mal wiedergeben.«

»Das denke ich auch.«

»Aber wie werden wir sie am besten anwenden?«

»Das überlasse ich deinem Scharfsinn, deinen besseren Einsichten, liebe Frau.«

»Wohlan«, sagte die Dame nach einigem Besinnen, »die Bü­chelchen mit der schönen Geschichte vom armen Josef und der klei­nen Maria sind fast vergriffen, ich habe nur noch wenige Exemplare davon. Wie wäre es, wenn ich das Geld dazu verwendete, wie­der ein paar Tausend drucken zu lassen?«

»Recht so, mein Schatz, besser kannst du das Geld nicht ver­wenden. Man muss der lieben Armut besonders auch mit geistiger Nahrung unter die Arme greifen. Dergleichen schöne Geschicht­chen sind ganz dazu gemacht, sie ihr zeitliches Elend mutiger ertragen zu lernen, in der frohen Hoffnung und Aussicht dereinst in jener Welt desto reichlicher dafür belohnt zu werden.

Das Publikum im ersten Rang fing an, ungeduldig zu wer­den. Man hörte hie und da die Worte: »Wie langweilig.«

Nun trat ein Bedienter in reicher Livree ein, der Dame ein Schreiben übergebend.

Sie öffnete, las, gab es dann ihrem Gemahl, indem sie zu diesem sagte: »Da lies, welche unausstehliche Zudringlichkeit! Frau von D… schickt mir immer solches Gesindel auf den Hals, um es loszuwerden. Sie hat nichts zu verschenken.«

»Aber mein Gott, wir haben ja schon unsere Armen, man kann doch auch nicht aller Welt geben«, sagte der Mann, seiner Frau das Schreiben zurückgebend. »Ja, wir haben schon unsere Armen.« Zu dem Bedienten: »Geh er und sage das dem Überbringer.«

»Der Bediente will fort.«

»Einen Augenblick, wer hat denn den Brief gebracht?«

»Es ist eine schon etwas bejahrte Frau, der Hunger und das Elend sehen ihr aus den Augen, sie ist so schwach, dass sie kaum sprechen kann.«

»Nun, dann müssen wir doch ein Übriges tun. Was meinst du, lieber Mann?«

»Wie du willst, mein Schatz.« Zu dem Bedienten: »Warte er einen Augenblick.«

Die Dame ging in ein Seitenkabinett und kam nach ein paar Augenblicken mit einem dünnen Büchelchen in der Hand zurück, das sie dem Bedienten gab.

»So, da sag er der guten Frau, dies solle sie lesen, da würde sie Trost und Erleichterung finden. Mit was anderem kann ich ihr jetzt nicht helfen, unser Wohltätigkeitsverein, von dem ich Mitglied bin, hat seine bestimmten Armen, die er unterstützt, und ich habe außerdem noch die meinen privatim.«

Der Bediente trat ab.

»Gut, dies erinnert mich daran, dass ich noch diesen Morgen mehrere Armenbesuche zu machen habe und unglücklichen Familien Trost und Unterstützung bringen muss. Ich eile, das gute Werk zu vollbringen, lieber Mann, du …

Ein anderer Bedienter trat ein.

»Das Kind, das alle vierzehn Tage etwas Essen für seine gichtlahme blinde Mutter bekommt, ist da. Was befehlen Madame, das man ihm geben soll?«

»Ihr werdet ihm die gestern sauer gewordene Fleischbrühe und die von der Tafel abgeleerten Brotreste geben.«

»Sehr wohl.«

»Und dann lasst vorfahren.«

Der Bediente trat ab, die Dame klingelte, ließ sich von der herbeispringenden Kammerjungfer den Hut reichen, den Shawl um­werfen, und empfahl sich mit einem a revoir ihrem Mann, der ihr nachrief: »Viel Glück zu dem frommen Werk.«

Auch er wollte abtreten, als ihm ein eintreffender Bedienter ein kleines rosafarbiges Billett übergab, das er hastig erbrach und las.

Lieber Melchior! Schon drei Tage führst du mich mit leeren Versprechungen an der Nase herum, und ich habe weder Shawl noch Schmuckkästchen zu sehen bekommen. Wenn du auch heute dein Versprechen nicht hältst, so weiß ich nicht, was ich davon denken soll. So etwas hätte sich der Marquis von X…, dem ich dir zuliebe den Abschied gab, nie beikommen lassen; aber ihr Handels­volk erlaubt euch alles. Ich erwarte dich bestimmt zwischen drei und vier Uhr diesen Nachmittag, jedoch nicht ohne … sonst, du kennst mich.

Deine Albertine

»Ich weiß nicht, ich habe irgendwo einmal läuten gehört, dass, wenn einem der Teufel bei einem Haar fasst, er bald den ganzen Menschen hat. Packt einem aber eine Lorette bei dem Beutel, so ruht sie nicht, bis sie die ganze Kasse hat. Weh mir, wenn meine Frau eine Ahnung davon hätte. Ich muss sehen, Albertine auf gute Manier wieder loszuwerden, wenn es mich auch noch ein großes Opfer kostet.«

Der Bankier trat kopfschüttelnd ab und die Bühne verwan­delte sich nun in die Wohnung einer armen Familie im sechsten Stock­werk eines Hinterhauses im lateinischen Quartier. Bittere Armut leuchtete aus allen Winkeln der Dachstube hervor. Auf einem alten zerbrochenen Strohstuhl saß eine Frau mit kränklichem, kummervol­lem Aussehen und besserte altes Linnenzeug aus. Vor ihr saß ein sieben- bis achtjähriges Mädchen mit bleichem Angesicht, fast verkrüppeltem Körper, damit beschäftigt, grobe Säcke zu nähen. Auf einem schmutzigen Tisch standen einige zerbrochene Teller, ein Glas und ein Krug.

»Aber liebe Mutter, Rosa bleibt recht lange, und mich hun­gert gewaltig.«

»Gedulde dich, liebe Betty, deine Schwester wird auf das Geld warten müssen. Die reichen Leute wissen nicht, wie es den Armen zumute ist, sonst würden sie nicht so mit ihnen um­gehen und uns wegen einer Kleinigkeit, die für uns so viel be­deutet, oft drei-, viermal wiederkommen heißen. Aber dass auch der Vater so lange ausbleibt, begreife ich nicht und es beunruhigt mich. Er hatte versprochen, in einer Viertelstunde wieder zurück zu sein, und nun ist es vier Stunden, dass er weg ging, und weiß doch, dass wir nichts zum Frühstück haben und auf ihn warten.«

»Und er kann wohl denken, dass seine Betty recht hungrig ist, da sie gestern schon ohne Abendbrot zu Bett ging.«

»Aber wie langweilig, welche Misere, das ist nicht zum Aushalten!«, hörte man wieder in dem ersten Logenrang sagen, »wie kann man so ein albernes Stück zur Aufführung bringen.« Sogar ließ sich einiges Zischen und Pfeifen vernehmen.

Aber die Zuschauer der oberen Galerien geboten Stille, und eine Stentorstimme ließ sich von denselben vernehmen, die ein lautes à la porte mit diesen Unverschämten hören ließ.

Das Stück wurde fortgesetzt.

Die Kammertür öffnete sich rasch und ein elfjähriges Mäd­chen stürzte eilig herein, rufend: »Mutter, liebe Mutter, soeben ist die reiche Bankiersfrau vorgefahren. Sie folgt mir auf dem Fuß.«

»Um Gotteswillen, Kinder, schnell, versteckt den Krug und das Glas, die beiden Töpfe dort am Kamin, fort damit.«

Die Mädchen befolgten, was die Mutter befahl, die ebenfalls aufräumte und ängstlich um sich blickte.

Noch waren die armen Leute nicht fertig mit Aufräumen, als ein reich galonierter Livreebedienter die Kammertür öffnete, zu wel­cher Madame Tournier, die Dame die wir schon in der ersten Szene sahen, mit dem Ausruf eintrat: »Ach mein Gott! Ich bin ganz außer Atem, es ist entsetzlich hoch«, und dann, sich auf einen Stuhl niederwerfend, zu der Frau sprach: »Gesteht, dass man übernatürliches Mitleid haben muss, sich zu solch einer Höhe zu versteigen, um Euch guten Leuten Trost und Unterstützung zu bringen.«

»Wenn Sie wüssten, Madame, wie sehr wir Ihre Güte erkennen …«

»Schon gut. Nun was habt Ihr getrieben, seitdem wir uns das letzte Mal sahen?«

»Wir arbeiteten, so viel wir konnten, Madame, aber du lieber Gott, dass will alles nichts heißen.«

»Ja, Ihr seid vielleicht nicht sparsam genug.«

»Du lieber Gott, wir drehen jeden Pfennig zehnmal um, ehe wir ihn ausgeben, und nur das Allernötigste wird angeschafft.«

»Neulich will man Euch doch mit Eurem Mann und den Kindern bei einer Flasche Bier in der Nähe des Platzes Walhubert haben sitzen sehen.«

»Ach, Madame, das mag wahr sein: Am Samstag vor drei Wochen, wir hatten seit sechs Wochen keine frische Luft geschöpft, da beredete ich meinen armen Mann, die Kinder zu ihrer und seiner Erholung ein wenig ins Freie zu führen. Wir machten einen Spaziergang durch den Pflanzengarten und ließen uns dann ermüdet vor einer Schenke des Boulevard de L’hopital nieder, wo wir uns mit einer Flasche Bier à sechs Sou erquickten.«

»Leute, denen man Wohltaten erzeigt, dürfen sich dergleichen nicht erlauben und am allerwenigsten in Schenken sehen lassen, sonst könnte man sich leicht veranlasst finden, ihnen diese Wohltaten zu entziehen.«

»Ach, liebe Madame, wenn Sie wüssten, wie wir …«

»Schon gut, ich kenne das«, fiel die Dame der Frau mit strengem Ton ins Wort, »man muss nicht an Zerstreuungen denken, solange man die Unterstützung anderer bedarf. Auch will ich hoffen, dass Ihr Euch des teuren Kaffees gänzlich entwöhnt habt.«

Die Dame ließ ihre Augen mit Späherblicken die Runde in der ganzen Mansarde machen.

»Was habt Ihr für die letzten Kartoffeln bezahlt?«

»Ach Gott, es waren kranke Kartoffeln. Für vier Sou hatten wir indessen so viel, dass wir alle so ziemlich satt wurden, doch befanden wir uns sämtlich einige Tage unwohl nach dem Genuss derselben.«

»Nun, es wird eben nicht so viel zu sagen gehabt haben?«

»Gottlob, es ging vorüber, doch war mein armer Mann einen halben Tag außerstande, etwas zu tun.«

»O, man muss auch nicht gleich gar zu empfindlich sein. Ich habe öfters ganze Tage lang Migräne, Kolik oder Blähungen und gehe dennoch meinen Verrichtungen nach. Wenn ich zum Beispiel heute mein Befinden hätte berücksichtigen wollen, so wäre ich nicht zu Euch gekommen, gute Frau.«

»Ach, die Madame sind allzu gütig.«

»Was trinkt Ihr gewöhnlich?«

»Ich und die Kinder unfiltriertes Wasser1, mein armer Mann von Zeit zu Zeit einen Schluck selbstgemachten Cidre2

»So. Doch keinen Branntwein?«

»Bewahre der Himmel.«

Die Dame stand auf, machte die Runde im Zimmer, sah und roch in alle Töpfe, Krüge und Flaschen, die sie fand, und setzte endlich rasch ein Glas, an dem sie gerochen, wieder auf den Kamin, von dem sie es genommen hatte.

»Pfui, das stinkt ja doch nach Branntwein.«

»Mein Gott! Madame, Sie irren sich«, sagte die Frau betroffen, «das kann nicht sein …«

»Ja, liebe Mutter«, fiel ihr das jüngste Mädchen ins Wort, »es ist das Glas, in dem der Vater vorgestern für einen Sou Kognat holen musste, als ihm so übel nach den kranken Kartoffeln wurde.«

»Ach ja, Madame, jetzt entsinne ich mich«, sagte die Frau mit zitternder Stimme. »Höre Sie, gute Frau, wenn Sie mich belügen und ich dahinter komme, dass Ihr Euch dem Trunk ergebt, dann ist es aus mit uns. Ich kenne nichts Abscheulicheres als das Laster des Trunkes und die Unmäßigkeit. Ein Mensch, der nach Branntwein riecht, kann mich in Ohnmacht fallen machen. Darum darf mir auch nie ein Arbeiter vors Gesicht, und schon ein paar Dutzend Bedienter jagte ich weg, weil sie morgens einen Schnaps tranken. Richtet Euch also danach.«

Die Dame fuhr noch eine Weile mit ihrer derben Straf- und Sittenpredigt fort und examinierte dabei alle Winkel, visitierte einen alten Kasten, den sie leer fand, fragte noch, wann man des Morgens aufstehe, zu welcher Zeit man sich des Abends niederlege, gab endlich den Kindern sowie der Mutter jedem einen Semmelweck, den sie aus einem Papier nahm, das der Bediente hatte, zog hierauf ihren Beutel, reichte der Frau ein Zehn-Sou-Stück nebst einem kleinen Päckchen, indem sie zu ihr sagte, »dies lässt Euch der Wohltätigkeitsverein des Quartiers zukommen und hier lege ich noch fünf Sou darauf. Ich will hoffen, dass Ihr erkennt, was man für Euch tut, seid sparsam und mäßig, ich werde Erkundigungen einziehen. Und kann ich damit zufrieden sein, so seht Ihr mich in vier bis sechs Wochen, wenn es meine Zeit erlaubt, wieder.«3

Die Dame wollte abtreten, als sich die Tür öffnete und ein Junge in einer Halbbluse mit einem Billett in der Hand hereinstürzte und die Dame fast über den Haufen rannte.

»Bin ich hier recht bei der Frau des Tagelöhners P.?«

»Ja, mein Sohn, was habt Ihr?«

»Hier ein Schreiben von Euerm Mann.«

Die Frau nahm dem Knaben das Billett ab, las es und ließ es mit dem Ausruf  großer Gott , das fehlt uns noch fallen und sank bewusstlos auf einen Stuhl nieder.

Die Dame gab dem Bedienten einen Wink, der das Papier aufhob und es ihr überreichte.

Sie las:

Liebe Frau! Soeben wurde ich durch einen Garde de Commerce verhaftet und ins Schuldgefängnis abgeführt. Der dicke Fleischer, dem wir noch die 53 Franc für Suppenknochen schulden, als unserer Betty nach ihrer letzten Krankheit Fleischbrühen verordnet wurden, um sich wieder zu erholen, ließ mich setzen. Gott wolle dir und den armen Kindern helfen, mich muss mein Kreditor, wenn auch schlecht genug, nähren.

»Wie, liederliche Schulden machen, Bier und Branntwein saufen, soll man da nicht alles Mitleid abschwören«, rief die Dame aus, »mich habt ihr gesehen! (Es ist doch lauter Lumpenpad, das Bettelvolk).«

Sie entfernte sich, von ihrem Bedienten gefolgt, im höchsten Zorn.

Die Szene veränderte sich abermals und man erblickte ein geräumiges Gemach, das Beratungszimmer einer versammelten Jury darstellend, die über einen des Raubmordes angeklagten Ver­brecher ihr entscheidendes Schuldig oder Nicht schuldig aussprechen sollte. Die Geschworenen waren eben eingetreten und begannen ihre Beratungen.

»Meine Herren«, sagte der Chef derselben, nachdem alle Platz genommen hatten, »es ist wohl keiner unter uns, der noch den geringsten Zweifel an der Schuld des Angeklagten hegen könnte. Nach all den Beweisen. die uns vorgelegt wurden, sowie nach den Aussagen der Zeugen ist dieser Durand, trotz seiner frommen und scheinheiligen Miene, seiner sanften, süßen Sprache und den Versicherungen der Entlastungszeugen, derjenige, der den verruchten Raubmord an dem unglücklichen Fournier verübt hat. Was mich anbelangt, so stehe ich keinen Augenblick an, auf Ehre, Pflicht und Gewissen vor Gott und den Menschen das Schuldig über diesen Heuchler auszusprechen! Welcher von Ihnen könnte anderer Meinung sein?«

»Wohl keiner«, riefen mehrere Stimmen.

»Ein Wort, meine Herren«, sprach ein schon älterer, sehr gelassen scheinender Mann. »Auch ich muss eingestehen, fast die moralische Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu haben, doch so sehr sich auch alle Umstände vereinigen, die Schuld desselben zur höchsten Wahrscheinlichkeit zu machen, so ist dies doch immer noch keine Gewissheit und der Fall seiner Unschuld eine Möglichkeit und denkbar.«

»Bah!« fiel dem Sprecher ein etwas cholerischer Mann ins Wort, »wie mögen Sie nur noch den geringsten Zweifel hegen; nach all dem, was wir gehört und gesehen haben, muss der Kerl der Mörder sein. Dies ist so klar wie das Sonnenlicht. Man liest seine Schuld in seinen Augen.«

»Herr Sellier hat recht«, stimmten ihm mehrere der Ge­schworenen bei, »klar ist es, dass dieser Sanftmut heuchelnde Mensch der Mörder ist, er und kein anderer.«

»Indessen schienen selbst der Präsident und der Generalproku­rator an die mögliche Unschuld des Angeklagten zu glauben, wenigstens ließen die an uns gerichteten Worte des Letzteren so etwas vermuten«, sagte der ältliche Mann.

»Die haben Sie ganz missverstanden«, meinte der Cholerische, »und ich begreife nicht ,wie man einem Mörder das Wort reden kann«, setzte er zornig hinzu.

»Herr Sellier hat vollkommen recht«, sagte der Chef der Jury. »Fünf Personen haben in dem Angeklagten den Menschen erkannt, der an jenem unheilvollen Tag in der Schenke Zum Wolf mit blutigen Fingern gesehen wurde, von der Gegend herkommend, in welcher man einige Stunden darauf den ermordeten Leichnam Fourniers fand, und der nach einer kleinen Viertelstunde auf dem Pferd des Ermordeten davonjagte.«

»Aber drei andere Zeugen, die sich ebenfalls in der Schenke befanden, behaupteten, dass Durand ein weit helleres Haar habe als jener, der etwas gehinkt, obwohl sie eine große Ähnlichkeit mit demselben eingestanden haben.«

»Was will dies auch sagen, ein etwas helleres Haar, man darf nur im Licht sitzen, so scheint jedes Haar sogleich heller. Ich für meinen Teil stimme für das unbedingte Schuldig.

»Damit bin ich nicht einverstanden, wenigstens sollte man bei nur einigermaßen zweifelhaften oder nicht ganz klar erwiesenen Tatsachen, so oft es sich um Leben und Tod handelt, immer die mildernden Umstände eintreten lassen. Ich kann nicht ohne Schauder an die Möglichkeit denken, mit die Ursache an dem Tod eines Unschuldigen zu sein. Aus dem Kerker, von den Galeeren ist im Falle der Unschuld immer noch Rettung und wenigstens teilweises Gutmachen möglich. Wer aber kann von den Toten auferwecken? Meine Herren, denken sie an Jean Calais, an Lescure, an so viele andere, über welche die Jury ihr tödliches Schuldig aussprach, und deren Unschuld sich später erwiesen hatte, an die drei armen Teufel, über die vor kaum einem Jahr eine belgische Jury, als des Raubmordes angeklagt, das Todesurteil sprach, welches der König glücklicherweise in lebenslängliche Kettenstrafe verwandelte; drei Monate darauf kam ihre Unschuld sonnenklar an den Tag, da man die wahren Mörder eingefangen hatte, die dann auch bald ihre ver­ruchte Tat mit allen Nebenumständen eingestanden haben … Ich stimme für schuldig mit mildernden Umständen.«

»Und ich erkläre den Angeklagten für schuldlos«, sagte ein anderer Geschworener. »Auch ich«, stimmte ein Dritter.

»Nein, das ist zu toll, meine Herren«, fiel nun wieder der cholerische Mann ein. »Wird denn in Frankreich noch nicht genug gemordet und geraubt! Man ist kaum seines Lebens mehr sicher; also muss man nach ihrer Meinung, meine Herren, der Tat bei­gewohnt haben, um überzeugt zu sein. Erst gestern haben die Journale wieder über drei Morde berichtet, und …«

»Und heute widerrufen«, fiel ihm der ältliche Mann ins Wort. »Sie wissen, wie viel diese Lügenzeitungen täglich erfinden, um ihr Blatt pikanter zu machen, und auf einen Widerruf kommt es ihnen nicht an.«

»Sie hätten sich besser zum Advokaten und Verteidiger des Mörders als zur Jury gepasst. Zum Glück kommt es hier nicht auf Sie an«, und sich zu den anderen wendend, fuhr der Verteidiger höchst aufgeregt fort: »Ich bitte Sie, meine Herren, sprechen Sie sich aus: Ist Durand schuldig oder nicht? Ich bin überzeugt, die große Mehrheit unter Ihnen hat so viel gesunden Menschenverstand, um einzusehen, dass dieser Durand des angeklagten Mordes schuldig ist.« Und so fuhr der Mann fort, seine Meinung in einem fast befehlenden Ton den Übrigen aufzubringen, von denen die meisten nicht imstande waren, eine eigene Meinung zu haben, ja kaum ein Wort hervorzubringen vermochten, und einige unter ihnen nicht einmal ihren Namen schreiben konnten.

Mit einer Mehrheit von sechs Stimmen, also von neun Mitgliedern der Jury, wurde über den des Raubmordes Angeklagten das unbedingte Schuldig ausgesprochen; die, welche wenigstens für die wildernden Umstände waren, hatte der cholerische Mann überschrien.

Die Szene verwandelte sich nun in den Richtplatz. Man sah den zum Tode verurteilten Durand, auf dem Schafott noch seine Unschuld beteuernd, den tröstenden Priester von sich stoßend, guillotinieren.

Kaum war der Kopf des Unglücklichen gefallen, als man un­ter der gaffenden Menge den Ausruf vernahm: »Haltet ein, ich bin der Mörder!« Bewusstlos stürzte das Individuum, welches diese Äußerung getan hatte, nieder.

Der Mensch hatte, wie es sich bald erwies, nur zu wahr gesprochen.

Noch führte man dem Publikum die herzzerreißende Szene der Verzweiflung der hinterlassenen Gattin und drei unerzogener Kinder des Hingerichteten vor. Die Rolle der Ersteren spielte die Rachel wahrhaft hinreißend grässlich.

Das Publikum erhielt nun seine Bewegungs- und Redefreiheit wieder.

»Ein recht abgeschmacktes Stück!«, ertönte es von den meisten fashionablen Plätzen. »Kein Sinn, kein Zusammenhang«, sprachen andere.

»Aber ganz aus dem Leben gegriffen und wohl zu beherzi­gen«, meinte man in den höheren Regionen.

Hierauf begann das neue Stück, in welchem Rachel die Jung­frau machte.

Michel und der Hinkende wollten dieser Vorstellung nicht bei­wohnen und entfernten sich.

Nach beendetem Theater begab sich der königliche Commissair zu dem Direktor des français und fuhr ihn mit den Worten an: »Was ins Teufelsnamen fiel Ihnen ein, Herr, ein solches Stück wie das, das nach dem Tartuffe folgte, das nicht angekün­digt war und die Zensur nicht passiert hatte, und von dem auch keine Proben gehalten wurden, aufführen zu lassen! Sie werden ins Teufels Küche kommen!«

»Herr Commissair, ich bin so unschuldig an demselben wie das Kind in Mutterleib und zittere selbst noch am ganzen Körper. Das muss ein Blendwerk, ein Spiel des Teufels gewesen sein.«

Show 3 footnotes

  1. In Paris wird in der Regel alles Wasser, da es aus der Seine kommt, in den Häusern durch sogenannte Fontänen filtriert.
  2. Ein Getränk, das sich die armen Leute von Wasser, welches sie über getrocknete Apfelscheiben gießen, sodann einige Tage stehen und gären lassen, machen. Die Flasche kommt etwa auf einen halben Sou.
  3. Wer vielleicht glaubt, dass diese Schilderung übertrieben ist, der versuche einmal, einem solchen Armenbesuch, besonders von den sogenannten Frommen, beizuwohnen.