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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 4. – 6. Bändchen – Kapitel XVIII

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Viertes bis sechstes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

XVIII. Der Brief von Karl I.

Nun muss der Leser mit uns über die Seine setzen und uns in das Karmeliterinnen-Kloster der Rue-Saint-Jacques folgen.

Es ist elf Uhr morgens und die frommen Schwestern haben soeben eine Messe für den Erfolg der Waffen von König Karl I. gehalten. Von der Kirche aus sind eine junge Frau und ein junges Mädchen, beide schwarz gekleidet, die eine wie eine Witwe, die andere wie eine Waise, in ihre Zelle zurückgekehrt.

Die Frau ist vor ein gemaltes hölzernes Betpult niedergekniet und einige Schritte von ihr steht, auf einen Stuhl gestützt, das junge Mädchen und weint.

Die Frau muss schön gewesen sein, aber man sieht, dass die Zähren sie alt gemacht haben. Das junge Mädchen ist reizend und die Tränen verschönern es noch. Die Frau scheint vierzig, das Mädchen vierzehn Jahre alt zu sein.

»Mein Gott«, sprach die kniende Beterin, »erhalte meinen Gatten, »erhalte meinen Sohn und nimm mein so trauriges, so elendes Leben.«

»Mein Gott«, sprach das junge Mädchen, »erhalte mir meine Mutter!«

»Deine Mutter vermag nichts mehr für dich in dieser Welt, Henriette«, sprach, sich umwendend, die betrübte Frau. »Deine Mutter hat weder Thron noch Gemahl noch Sohn noch Freunde. Deine Mutter, mein armes Kind, ist von der ganzen Welt verlassen.«

Und in die Arme ihrer Tochter stürzend, brach die Frau in ein lautes Schluchzen aus.

»Meine Mutter, fasst Mut«, rief das junge Mädchen.

»Ah, die Könige sind unglücklich in diesem Jahr«, sprach die Mutter und legte ihr Haupt auf die Schulter des Kindes. »Niemand denkt an uns in diesem Land, denn jeder denkt nur an seine eigenen Angelegenheiten. Solange dein Bruder noch bei uns war, unterstützte er mich, aber dein Bruder ist abgereist und gegenwärtig nicht einmal imstande, dir oder seinem Vater Nachricht zu geben. Ich habe meine letzten Juwelen verpfändet, meine Kleider und die deinigen verkauft, um die Gehälter seiner Diener zu bezahlen, welche sich weigerten, ihn zu begleiten, wenn ich nicht dieses Opfer gebracht hätte. Nun sind wir darauf beschränkt, auf Kosten der Töchter des Herrn zu leben. Wir sind Arme, auf die Hilfe Gottes angewiesen.«

»Aber warum wendet Ihr Euch nicht an die Königin, Eure Schwester?«, fragte das Mädchen.

»Ah«, antwortete die Bekümmerte, »diese Königin, meine Schwester, ist nicht mehr Königin, mein Kind, und ein anderer regiert in ihrem Namen. Eines Tags wirst du das begreifen.«

»Also an den König, Euren Neffen. Soll ich mit ihm sprechen? Ihr wisst, wie sehr er mich liebt, meine Mutter.«

»Ach, der König, mein Neffe, ist noch nicht König, und ihm selbst, wie du weißt, La Porte hat es uns zwanzig Mal gesagt, fehlt es an allem.«

»Dann wollen wir uns an Gott wenden«, sprach das junge Mädchen.

Und es kniete neben seine Mutter nieder.

Die zwei Frauen, welche so nebeneinander vor demselben Betpult knieten, waren die Tochter und die Enkelin von Heinrich IV., die Frau und die-Tochter von Karl I.

Sie hatten soeben ihr Doppelgebet vollendet, als eine Nonne sachte an die Tür klopfte.

»Herein, meine Schwester«, sprach die Ältere von den Frauen, indem sie ihre Tränen abtrocknete und sich erhob.

Die Nonne öffnete ehrfurchtsvoll die Tür.

»Eure Majestät wolle mich gnädigst entschuldigen, wenn ich sie in ihren Betrachtungen störe«, sagte sie, »aber es ist ein Fremder im Sprechzimmer, der von England kommt und sich die Ehre erbittet, Eurer Majestät einen Brief übergeben zu dürfen.«

»Ah, einen Brief! Einen Brief vom König vielleicht! Hörst du? Ohne Zweifel Nachrichten von deinem Vater, Henriette.«

»Ja, Madame, ich höre und hoffe.«

»Und wer ist der Monsieur, sprecht.«

»Ein Edelmann von fünfundvierzig bis fünfzig Jahren.«

»Hat er seinen Name genannt?«

»Mylord von Winter.«

»Mylord von Winter!«, rief die Königin, »der Freund meines Gatten? O, lasst ihn eintreten!«

Und die Königin lief dem Boten entgegen und fasste ihn bei der Hand.

Lord Winter kniete in die Zelle eintretend nieder und übergab der Königin einen in einem goldenen Etui verwahrten Brief.

»Ah, Mylord«, sprach die Königin, »Ihr bringt uns drei Dinge, die wir seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben: Gold, eine ergebene Seele und einen Brief von unserem Gemahl und Herrn.«

Lord Winter verbeugte sich, aber er vermochte nicht zu antworten, so erschüttert war er.

»Mylord«, sprach die Königin auf den Brief deutend, »Ihr begreift, dass es mich drängt, zu erfahren, was dieses Papier enthält.«

»Ich entferne mich, Madame«, sprach der Lord.

»Nein, bleibt«, sagte die Königin, »wir werden vor Euch lesen. Begreift Ihr nicht, dass ich tausend Fragen an Euch zu machen habe?«

Der Lord ging einige Schritte zurück und blieb dann schweigend stehen.

Die Mutter und die Tochter zogen sich in eine Fenstervertiefung zurück und lasen gierig, die Tochter auf den Arm der Mutter gestützt, folgenden Brief:

Madame und teure Gemahlin!

Wir sind am Ziel angelangt. Alle Quellen, welche mir Gott gelassen hat, sind in dem Lager von Naseby konzentriert, von wo aus ich Euch in Eile schreibe. Hier erwarte ich das Heer meiner meuterischen Untertanen und ich werde zum letzten Mal gegen sie streiten. Bin ich Sieger, so setze ich den Kampf auf lange Zeiten fort, werde ich besiegt, so bin ich gänzlich verloren. In letzterem Fall (Ach! In unserer Lage muss man alles vorhersehen) will ich die Küste von Frankreich zu erreichen suchen; aber kann man dort, will man einen unglücklichen König aufnehmen, der ein so trauriges Beispiel in ein bereits durch bürgerliche Zwistigkeiten aufgeregtes Land bringt? Eure Weisheit und Eure Liebe sollen mir als Führer dienen. Der Überbringer dieses Briefes, Madame, wird Euch sagen, was ich nicht der Gefahr eines Zufalls anvertrauen kann. Er wird Euch erklären, welchen Schritt ich von Euch erwarte. Ich beauftrage ihn auch mit meinem Segen für meine Kinder und mit allen Gefühlen meines Herzens für Euch, Madame und teure Gemahlin.

Der Brief war unterzeichnet statt Karl König – Karl noch König.

So traurig das Lesen dieses Briefes war, dessen Eindrücke Winter auf dem Gesicht der Königin verfolgte, so brachte es doch in ihre Augen einen Strahl der Hoffnung.

»Er mag nicht mehr König sein«, rief sie, »er mag besiegt, verbannt, geächtet werden, er lebe nur. Ach, der Thron ist heutzutage ein zu gefährlicher Posten, als dass ich wünschen könnte, er möchte auf demselben bleiben. Doch sagt mir, Mylord«, fuhr die Königin fort, »verhehlt mir nichts: Wo ist der König? Ist seine Lage so verzweifelt, wie er denkt?«

»Ach, Madame, noch verzweifelter, als er selbst glaubt. Seine Majestät hat ein so gutes Herz, dass er den Hass nicht begreift. Der König ist so ritterlich, dass er den Verrat nicht ahnt. England ist von einem Schwindelgeist befallen, der, ich befürchte es, nur im Blut erlöschen wird.«

»Aber Lord Montrose«, antwortete die Königin, »ich hörte von raschen und großen Siegen, von Schlachten, gewonnen in Inverlashy, in Alfort und in Kilsyth, ich hörte sagen, er marschiere an die Grenze, um sich mit dem König zu verbinden?«

»Ja, Madame, aber an der Grenze traf er Lesly. Er hatte den Sieg durch übermenschliche Unternehmungen ermüdet; der Steg verließ ihn. In Phillipaugh geschlagen, war Montrose, genötigt, die Reste seines Heeres zu verabschieden und als Bedienter verkleidet zu fliehen. Er befindet sich in Bergen in Norwegen.«

»Gott beschütze ihn!«, sprach die Königin. »Es ist wenigstens ein Trost, zu wissen, dass diejenigen, welche so oft ihr Leben für uns gewagt haben, in Sicherheit sind. Und nun, Mylord, da ich die Lage des Königs so sehe, wie sie ist, d.h. verzweifelt, so sagt mir, was Ihr mir im Auftrag meines königlichen Gemahls mitzuteilen habt.«

»Wohl, Madame«, antwortete-Winter, »der König, Euer Gemahl, wünscht, dass Ihr die Stimmung des Königs und der Königin in Beziehung auf ihn erforschen möget.«

»Ach, Ihr wisst es«, antwortete die Königin, »der König ist nur ein Kind und die Königin eine Frau, und zwar eine sehr schwache. Monsieur von Mazarin ist alles.«

»Sollte er in Frankreich die Rolle spielen wollen, welche Cromwell in England spielt?«

»O nein, es ist ein geschmeidiger, verschlagener Italiener, dem es vielleicht von Verbrechen träumt, der es aber nie wagt, sie zu begehen, und gerade im Gegensatz gegen Cromwell, welcher über zwei Kammern verfügt, hat Mazarin im Parlament nur die Königin zur Stütze.«

»Ein Grund mehr, dass er einen König beschützt, den die Parlamente verfolgen.«

Die Königin schüttelte voll Bitterkeit den Kopf. »Wenn ich meinem eigenen Urteil trauen darf«, sagte sie, »so wird der Kardinal nichts tun oder vielmehr gegen uns sein. Meine Gegenwart und die meiner Tochter belästigen ihn bereits.«

»Umso mehr wird ihm die des Königs zur Last sein, Mylord«, fügte Henriette schwermütig lächelnd bei. »Es ist traurig und beinahe schmählich, zu bekennen, dass wir den Winter im Louvre ohne Geld, ohne Wäsche, fast ohne Brot zugebracht haben und zuweilen in Ermanglung von Holz nicht aufgestanden sind.«

»Schauderhaft!«, rief der Lord, »die Tochter von Heinrich IV., die Frau von König Karl. Warum wandtet Ihr Euch nicht an den ersten Besten von uns?«

»Das ist die Gastfreundschaft, welche einer Königin der Minister gibt, von dem sie ein König verlangen will.«

»Aber ich hörte von einer Heirat zwischen Seiner Hoheit, dem Prinzen von Wales, und Mademoiselle von Orleans sprechen«, sagte der Lord.

»Ja, ich hatte einen Augenblick Hoffnung dazu, die Kinder liebten sich, aber die Königin, welche anfangs zu dieser Liebe die Hände bot, hat ihre Ansichten verändert. Der Monsieur Herzog, der das Entstehen ihrer Vertraulichkeit ermutigt hatte, verbot seiner Tochter, ferner an diese Verbindung zu denken. Ah, Mylord«, fuhr die Königin fort, ohne dass sie daran dachte, ihre Tränen zu trocknen. »Es ist besser, zu kämpfen, wie es der König getan hat, und zu sterben, wie er es vielleicht tun wird, denn als Bettlerin zu leben, wie ich es tue.«

»Mut, Madame«, sprach Lord Winter, »Mut, verzweifelt nicht. Es liegt in den in diesem Augenblick so sehr erschütterten Interessen von Frankreich, den Aufruhr bei dem ihm benachbarten Volk zu bekämpfen. Mazarin ist ein Staatsmann und er wird diese Notwendigkeit begreifen.«

»Aber seid Ihr sicher«, sagte die Königin, »dass man Euch nicht zuvorkommen wird?«

»Wer soll mir zuvorkommen?«

»Joye, Pridge, Cromwell.«

»Ein Schneider, ein Krämer, ein Bierbrauer! Ach, ich hoffe, Madame, der Kardinal würde mit solchen Menschen nicht in Verbindung treten.«

»Ei, was ist er denn selbst«, fragte Henriette.

»Aber für die Ehre des Königs, für die der Königin …«

»Wir wollen hoffen, dass er etwas für diese Ehre tut«, erwiderte Henriette. »Ein Freund besitzt eine so gute Beredsamkeit, dass Ihr mich beruhigt. Gebt mir also Eure Hand und gehen wir zu dem Minister.«

»Madame«, sprach der Lord sich verbeugend, »diese Ehre macht mich ganz verwirrt.«

»Aber wenn er sich weigerte«, sagte Henriette stillstehend, »und wenn der König die Schlacht verlöre.«

»So würde Seine Majestät nach Holland fliehen, wo, wie ich vernommen habe, Seine Hoheit, der Prinz von Wales, verweilt.«

»Könnte Seine Majestät für die Flucht auf viele so treue Diener zählen, wie Ihr seid?«

»Ach nein, Madame, aber es ist für den Fall vorhergesehen, und ich habe Verbündete in Frankreich.«

»Verbündete?«, sprach die Königin den Kopf schüttelnd.

»Madame, wenn ich alte Freunde wiederfinde, die ich einst gehabt habe, so stehe ich für alles.«

»Vorwärts, Mylord«, sagte die Königin, mit dem peinigenden Zweifel von Leuten, welche lange Zeit unglücklich gewesen sind, »gehen wir, und Gott erhöre Euch.«

Die Königin stieg in den Wagen und der Lord begleitete sie zu Pferde, gefolgt von zwei Lakaien.