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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 4. – 6. Bändchen – Kapitel XVI

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Viertes bis sechstes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

XVI. Vor der Schlacht

Raoul wurde seinen düsteren Betrachtungen durch den Wirt entzogen, der heftig in das Zimmer trat, in welchem die von uns erzählte Scene vorgefallen war und ausrief: »Die Spanier! die Spanier!«

Dieser Ruf war ernst genug, dass jede andere Unruhe verschwinden musste, um derjenigen Platz zu machen, welche der Name der Spanier verursachen sollte. Die jungen Leute zogen Erkundigungen ein und erfuhren, der Feind rücke wirklich durch Houdain und Bethune vor.

Während Monsieur d’Arminges Befehle gab, dass die Pferde, welche sich eben erfrischten, marschfertig gemacht würden, begaben sich die jungen Leute an das höchste Fenster des Hauses, das die Umgegend beherrschte, und sahen wirklich auf der Seite von Mersin und Sains ein zahlreiches Korps von Fußvolk und Reitern zum Vorschein kommen. Diesmal war es nicht mehr eine nomadische Gruppe von Parteigängern, es war ein ganzes Heer.

Es ließ sich nun nichts anderes tun, als dem weisen Rat von Monsieur d’Arminges zu folgen und sich zurückzuziehen.

Die jungen Leute stiegen rasch hinab, Monsieur d’Arminges war bereits zu Pferde. Olivain hielt die zwei Tiere der jungen Leute an der Hand und die Lakaien des Grafen von Guiche bewachten sorgfältig den gefangenen Spanier, welcher auf einem Klepper ritt, den man zu diesem Behuf gekauft hatte. Zu weiterer Vorsicht waren ihm die Hände gebunden.

Die kleine Truppe schlug den Weg nach Cambrin ein, wo man den Prinzen zu finden glaubte; doch er war seit dem vorhergehenden Tage nicht mehr dort und hatte sich, getäuscht durch die falsche Nachricht, der Feind müsste in Essaire über die Lys setzen, nach Bassée zurückgezogen.

Die Nachricht hatte den Prinzen bewogen, seine Truppen von Bethune zu entfernen und all seine Streitkräfte zwischen Vicille-Chapelle und Benthie zusammenzuziehen. Er selbst aber war nach einer Rekognoszierung auf der ganzen Linie mit dem Marschall von Grammont zurückgekehrt und befragte die Offiziere, welche an seiner Seite saßen, über die Erkundigungen, welche jeder von ihnen einzuziehen übernommen hatte. Keiner aber wusste bestimmte Kunde zu geben. Die feindliche Armee war seit achtundvierzig Stunden völlig verschwunden.

Nun ist aber nie ein feindliches Heer so nahe und folglich so bedrohlich, als ob es gänzlich verschwunden ist. Der Prinz war gegen seine Gewohnheit verdrießlich und sorgenvoll, als ein Offizier vom Dienst eintrat und dem Marschall von Grammont meldete, es wünsche ihn jemand zu sprechen.

Der Herzog von Grammont bat mit einem Blick den Prinzen um Erlaubnis und entfernte sich. Der Prinz folgte ihm mit den Augen, und seine Blicke blieben auf die Tür geheftet. Niemand wagte es, zu sprechen, aus Furcht, ihn in seinen Gedanken zu stören.

Plötzlich erscholl ein dumpfer Lärm, der Prinz erhob sich lebhaft und streckte die Hand nach der Gegend aus, von welcher der Lärm kam.

Dieser Lärm war ihm wohl bekannt, es war der einer Kanone.

Alle hatten sich erhoben.

In diesem Augenblick wurde die Tür wieder geöffnet.

»Monseigneur«, sprach der Marschall von Grammont strahlend, »erlaubt Eure Hoheit, dass Ihr mein Sohn, der Graf von Guiche, und sein Reisegefährte der Vicomte von Bragelonne, die Kunde vom Feind geben, die wir suchen und sie gefunden haben?«

»Wie?«, sprach der Prinz lebhaft, »ob ich es erlaube? Ich erlaube es nicht nur, sondern ich wünsche, sie mögen eintreten.«

Der Marschall führte die zwei jungen Leute ein, und diese befanden sich dem Prinzen gegenüber.

»Sprecht, Messieurs«, sagte der Prinz, sie begrüßend, »sprecht zuerst, dann wollen wir uns die üblichen Komplimente machen. Das Dringendste für uns ist jetzt, zu erfahren, wo der Feind steht und was er tut.«

Dem Grafen von Guiche kam natürlich das Wort zu. Er war nicht nur der Ältere von den beiden jungen Leuten, sondern auch bereits dem Prinzen von seinem Vater vorgestellt. Überdies kannte er den Prinzen seit geraumer Zeit, während ihn Raoul zum ersten Mal sah.

Er erzählte also dem Prinzen, was sie in dem Gasthaus zu Mazingarde gesehen hatten. Während dieser Zeit betrachtete Raoul den jungen General, welcher sich bereits durch die Schlachten von Nocroy, Freiburg und Nördlingen so großen Ruhm erworben hatte.

Ludwig von Bourbon, Prinz von Condé, den man seit dem Tod von Heinrich von Bourbon, seinem Vater, durch Abkürzung und nach der Gewohnheit der Monsieur Prinz nannte, war ein junger Mann von höchstens sechsundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahren, mit einem Adlerblick, agl’ occi Grifagni, wie Dante sagt, mit einer gebogenen Nase, mit langen, in Locken herabflatternden Haaren, von mittlerem, aber schönem Wuchs. Er besaß alle Eigenschaften eines großen Kriegers, d.h. Blick, rasche Entscheidung, fabelhaften Mut, was ihn übrigens nicht abhielt, zu gleicher Zeit ein Mann von Eleganz und Witz zu sein, sodass er außer der Revolution, die er durch neue Einrichtungen und strategische Erfindungen in den Krieg brachte, auch in Paris eine Revolution unter den jungen Leuten des Hofes gemacht hatte, deren natürlicher Führer er war, und die man im Gegensatz gegen die Elegants des alten Hofes, für welche Bassompierre, Bellegarde und der Herzog von Angoulême als Muster gedient hatten, Petits-Maitres nannte.

Bei den ersten Worten des Grafen von Guiche und aus der Richtung, von welcher der Lärm der Kanonen kam, hatte der Prinz alles begriffen. Der Feind musste in Saint-Venant über die Lys gesetzt haben und marschierte gegen Lens, ohne Zweifel in der Absicht, sich dieser Stadt zu bemächtigen und das französische Heer zu trennen.

Aber von welcher Stärke war diese Truppe? War es ein Korps, bestimmt, eine einfache Diversion zu bewirken, war es die ganze Armee?

Dies war die letzte Frage des Prinzen, welche von Guiche nicht zu beantworten vermochte.

Da sie aber dem Prinzen als die wichtigste erschien, so hätte derselbe auf diese eine genaue, pünktliche, bestimmte Antwort zu haben gewünscht.

Raoul überwand nun das sehr natürliche Gefühl der Schüchternheit, das sich seiner Person dem Prinzen gegenüber bemächtigte, und sprach, sich ihm nähernd: »Wird mir Monseigneur erlauben, einige Worte über diesen Gegenstand zu wagen, welche ihn vielleicht der Verlegenheit entziehen?«

Der Prinz wandte sich um und schien den jungen Menschen ganz und gar gleichsam in einen einzigen Blick zu hüllen. Er lächelte, als er in ihm ein Kind von kaum fünfzehn Jahren erkannte.

»Allerdings, Monsieur, sprecht«, sagte er, seine kräftige Stimme sänftigend, als richte er das Wort an eine Frau.

»Monseigneur könnte den gefangenen Spanier befragen«, erwiderte Raoul errötend.

»Ihr habt einen Spanier zum Gefangenen gemacht?«, rief der Prinz.

»Ja, Monseigneur.«

»Es ist wahr!«, versetzte von Guiche, »ich hatte es vergessen.«

»Das ist ganz einfach, denn Ihr habt ihn gefangen genommen«, sprach Raoul lächelnd.

Der alte Marschall wandte sich gegen den Vicomte um, dankbar für das seinem Sohn gespendete Lob, während der Prinz ausrief: »Dieser Jüngling hat recht, man führe den Spanier herbei.«

Mittlerweile nahm der Prinz von Guiche beiseite und befragte ihn über die Art und Weise, wie sie den Spanier zum Gefangenen gemacht hatten, und wer dieser Jüngling wäre.

»Monsieur«, sagte der Prinz, zu Raoul zurückkehrend, »ich weiß, dass Ihr einen Brief von meiner Schwester, der Frau von Longueville, bei Euch habt, aber ich sehe, dass Ihr es vorzogt, Euch durch einen guten Rat, den Ihr mir erteiltet, selbst zu empfehlen.«

»Monseigneur«, versetzte Raoul errötend, »ich wollte Eure Hoheit nicht in dem so wichtigen Gespräch mit dem Monsieur Grafen unterbrechen; doch hier ist der Brief.«

»Es ist gut«, entgegnete der Prinz. »Ihr werdet ihn mir später geben. Hier kommt der Gefangene. Denken wir an das Wichtigere.«

Man brachte den Parteigänger.

Es war einer von den Condottieri, wie man sie in jener Zeit noch fand, Leute, gealtert in schlimmen Streichen aller Art, ihr Blut verkaufend an jeden, der es bezahlen wollte. Seitdem er gefangen war, hatte er kein einziges Wort gesprochen, sodass diejenigen, welche ihn festgenommen hatten, nicht einmal wussten, welcher Nation er angehörte.

Der Prinz schaute ihn mit einer Miene unbeschreiblichen Misstrauens an.

»Von welcher Nation bist du?«, fragte der Prinz.

Der Gefangene erwiderte einige Worte in fremder Sprache.

»Ah, ah! Es scheint, er ist ein Spanier. Sprecht Ihr Spanisch, Grammont?«

»Meiner Treue, Monseigneur, sehr wenig.«

»Und ich gar nicht«, sagte der Prinz lachend. »Messieurs«, fügte er, sich gegen seine Umgebung wendend, bei, ist einer unter Euch, der Spanisch spricht und mir als Dolmetscher dienen will?«

»Ich, Monseigneur«, antwortete Raoul.

»Ah, Ihr sprecht Spanisch?«

»Hinreichend, wie ich glaube, um die Befehle Eurer Hoheit bei diesem Fall zu vollziehen.«

Während dieser ganzen Zeit war der Gefangene unempfindlich geblieben, als hätte er gar nicht begriffen, worüber es sich handelte.

»Monseigneur lässt Euch fragen, von welcher Nation Ihr seid«, sagte der Jüngling im reinsten Kastilisch.

»Ich bin ein Deutscher«, antwortete der Gefangene.

»Was Teufels, sagte er?«, fragte der Prinz, »und was für ein neues Kauderwelsch ist das?«

»Er sagt, er sei ein Deutscher, Monseigneur«, erwiderte Raoul, »ich zweifle jedoch daran, denn sein Akzent ist schlecht und seine Aussprache mangelhaft.«

»Ihr sprecht also auch Deutsch?«, fragte der Prinz.

»Ja, Monseigneur«, antwortete Raoul.

»Genug, um ihn in dieser Sprache zu befragen?«

»Ja, Monseigneur.«

»Fragt ihn also.«

Raoul begann sein Verhör, aber die Tatsache unterstützte seine Meinung. Der Gefangene hörte nicht oder stellte sich, als hörte er nicht, was Raoul ihm sagte, und Raoul verstand nur schlecht seine mit Flämischem und Elsässischem vermischten Antworten.

Doch trotz der Anstrengung des Gefangenen, um ein regelmäßiges Verhör zu vereiteln, erkannte Raoul den natürlichen Akzent dieses Menschen.

»Non siete Spagnuolo«, sagte er, »non siete Tedesco, siete Italiano?«

Der Gefangene machte eine Bewegung und biss sich in die Lippen.

»Ah, das verstehe ich vortrefflich«, sprach der Prinz von Condé, »und da er ein Italiener ist, so will ich das Verhör fortsetzen. Ich danke, Vicomte«, fügte der Prinz lachend bei, »ich ernenne Euch von diesem Augenblick an zu meinem Dolmetscher.«

Aber der Gefangene war ebenso wenig geneigt, italienisch wie in den anderen Sprachen zu antworten. Er trachtete nur danach, die Fragen zu umgehen und zu vereiteln. Auch wusste er weder die Zahl des Feindes noch die Namen derjenigen, welche ihn befehligten, noch den Zweck des Marsches der Armee.

»Es ist gut«, sprach der Prinz, der die Ursache dieser Unwissenheit wohl begriff, »dieser Mensch ist plündernd und mordend gefangen genommen worden. Er hätte sein Lebens durch Sprechen erkaufen können; er will nicht sprechen. Führt ihn weg und lasst ihn über die Klinge springen.«

Der Gefangene erbleichte. Die zwei Soldaten, welche ihn herbeigebracht hatten, nahmen ihn jeder bei einem Arm und führten ihn gegen die Tür, während der Prinz, sich nach dem Marschall von Grammont umwendend, bereits den von ihm erteilten Befehl vergessen zu haben schien.

Auf der Türschwelle blieb der Gefangene stehen. Die Soldaten, welche nur ihren Befehl kannten, wollten ihn zwingen, weiterzugehen.

»Einen Augenblick«, sagte der Gefangene auf Französisch, »ich bin bereit zu sprechen, Monseigneur.«

»Ah, ah!«, rief der Prinz, »ich wusste wohl, dass wir damit enden würden. Ich habe ein vortreffliches Mittel, die Zungen zu lösen. Benutzt es, Ihr jungen Leute, in der Zeit, wo Ihr befehlen werdet.«

»Aber unter der Bedingung«, fuhr der Gefangene fort, »dass mir Eure Hoheit durch einen Eid mein Leben sichert.«

»Auf mein adliges Ehrenwort«, sprach der Prinz.

»Dann fragt, Monseigneur.«

»Wo ist das Heer über die Lys gesetzt?«

»Zwischen Saint-Venant und Aixe.«

»Von wem wird es befehligt?«

»Von dem Grafen von Fuensaldagna, von dem General Beck und von dem Erzherzog in Person.«

»Aus wie viel Mann besteht es?«

»Aus 18.000 Mann und 36 Feldstücken.«

»Und es marschiert?«

»Gegen Lens.«

»Ihr seht, Messieurs!«, rief der Prinz, sich mit triumphierender Miene gegen den Marschall von Grammont und die übrigen Offiziere umwendend.

»Ja, Monseigneur«, sagte der Marschall, »Ihr habt erraten, was dem menschlichen Genie zu erraten möglich ist.«

»Ruft le Plessis-Belliève, Vellequier und d’Erlac zurück«, sagte der Prinz, »ruft alle Truppen zurück, welche diesseits der Lys stehen. Sie sollen sich bereithalten, noch in dieser Nacht zu marschieren. Morgen greifen wir aller Wahrscheinlichkeit nach den Feind an.«

»Aber bedenkt«, Monseigneur«, sprach der Marschall von Grammont, »dass wir, wenn wir unsere ganze verfügbare Mannschaft sammeln, kaum die Zahl von 13.000 Mann erreichen werden.«

»Monsieur Marschall«, entgegnete der Prinz mit dem bewunderungswürdigem Blick, der nur ihm angehörte, »mit den kleinen Heeren gewinnt man die großen Schlachten.«

Dann sich gegen den Gefangenen umwendend: »Man führe diesen Menschen weg und bewache ihn sorgfältig. Sein Leben hängt von den Nachrichten ab, die er uns gegeben hat. Sind sie wahr, so ist er frei; sind sie falsch, so erschieße man ihn.«

Man führte den Gefangenen weg.

»Graf von Guiche«, versetzte der Prinz«, »Ihr habt lange Zeit Euren Vater nicht gesehen; bleibt bei ihm. Monsieur«, fuhr er, sich an Raoul wendend, fort, »wenn Ihr nicht zu müde seid, so folgt mir.«

»Bis an das Ende der Welt, Monseigneur!«, rief Raoul, der für diesen jungen General, welcher ihm seines Rufes so würdig zu sein schien, eine unbewusste Begeisterung fühlte.

Der Prinz lächelte. Er verachtete die Schmeichler, aber er schätzte die Enthusiasten.

»Vorwärts, Monsieur«, sagte er. »Ihr seid gut im Rat, wir haben soeben einen Beweis davon erhalten. Morgen werden wir sehen, wie Ihr bei der Tat seid …«

»Und ich, Monseigneur«, sprach der Marschall«, »was soll ich tun?«

»Bleibt, um die Truppen zu empfangen. Entweder werde ich sie selbst holen oder ich schicke einen Eilboten, damit Ihr mir sie zuführt. Zwanzig gut berittene Wachen, das ist alles, was ich zu meinem Geleit brauche.«

»Das ist sehr wenig«, versetzte der Marschall.

»Genug«, entgegnete der Prinz. »Habt Ihr ein gutes Pferd, Monsieur von Bragelonne?«

»Das meine ist diesen Morgen getötet worden, und ich reite einstweilen das von meinem Bedienten.«

»Verlangt und wählt selbst in meinen Ställen ein Pferd, welches Euch zusagt. Keine falsche Scham. Nehmt, was Euch am besten dient. Ihr braucht es vielleicht diesen Abend und morgen ganz gewiss.«

Raoul ließ sich das nicht zweimal sagen. Er wusste, dass bei den Oberen, besonders wenn die Oberen Prinzen sind, die äußerste Höflichkeit darin besteht, dass man ohne Zögern und Abwägen gehorcht. Er ging in die Ställe hinab, wählte ein andalusisches isabellfarbiges Pferd, sattelte und zäumte es selbst, denn Athos hatte ihm anempfohlen, im Augenblick der Gefahr ein so wichtiges Geschäft niemand anzuvertrauen. Er kehrte zu dem Prinzen zurück, der in diesem Augenblick zu Pferde stieg.

»Nun, Monsieur«, sagte er zu Raoul, »wollt ihr mir den Brief geben, dessen Überbringer Ihr seid.«

Raoul reichte den Brief dem Prinzen.

»Haltet Euch in meiner Nähe, Monsieur«, sagte dieser.

Der Prinz gab seinem Pferd die Sporen, hing den Zaum auf den Sattelknopf, wie dies seine Gewohnheit war, wenn er die Hände frei haben wollte, entsiegelte den Brief von Frau von Longueville und entfernte sich im Galopp auf der Straße nach Lens, begleitet von Raoul, während die Boten, welche die Truppen zurückrufen sollten, in entgegengesetzten Richtungen mit verhängten Zügeln fortsprengten.

Der Prinz las während seines eiligen Rittes.

»Monsieur«, sprach er nach einem Augenblick, »man sagt mir alles möglich Gute von Euch; ich habe Euch nur eines zu bemerken, nämlich, dass ich nach dem wenigen, was ich von Euch gesehen und gehört habe, noch mehr von Euch denke, als man mir sagt.«

Raoul verbeugte sich.

Bei jedem Schritt, der die kleine Truppe gegen Lens führte, erschollen indessen die Kanonenschüsse näher und näher. Der Blick des Prinzen war gegen dieses Geräusch mit der Starrheit eines Raubvogels gerichtet. Man hätte glauben sollen, er besäße die Macht, die Vorhänge von Bäumen zu durchdringen, welche sich vor ihm ausdehnten und den Horizont begrenzten.

Von Zeit zu Zeit dehnte sich die Nase des Prinzen aus, als drängte es ihn, den Pulverdampf einzuatmen, und er schnaufte wie ein Pferd.

Endlich hörte man den Donner der Kanonen so nahe, dass man offenbar nur noch eine Meile vom Schlachtfeld entfernt war. An der Wendung der Straße erblickte man das kleine Dorf Aunay. Die Bauern waren in großer Bestürzung. Das Gerücht von den Grausamkeiten der Spanier hatte sich verbreitet und stürzte jeden in Schrecken. Die Frauen waren bereits gegen Vitry geflohen; einige Männer blieben allein.

Bei dem Anblick des Prinzen liefen sie herbei. Einer derselben erkannte ihn.

»Ach! Monseigneur«, sprach er, »kommt Ihr, um alle diese Schurken von Spaniern und alle diese Räuber von Lothringern zu verjagen?«

»Ja«, antwortete der Prinz, »wenn du mir als Führer dienen willst.«

»Gern, Monseigneur, wohin soll ich Eure Hoheit führen?«

»An einen erhabenen Ort, von wo aus ich Lens und seine Umgebung sehen kann.«

»Das soll geschehen, und was weiter?«

»Kann ich mich dir anvertrauen? Bist du ein guter Franzose?»

»Ich bin ein alter Soldat von Rocroy, Monseigneur.«

»Halt«, sagte der Prinz und gab ihm seine Börse, »das ist für Rocroy. Willst du nun ein Pferd oder ziehst du es vor, zu Fuß zu gehen?«

»Zu Fuß, Monseigneur, zu Fuß, ich habe immer bei der Infanterie gedient. Überdies gedenke ich Eure Hoheit auf Wegen zu führen, wo Sie selbst abzusteigen genötigt sein werden.«

»Vorwärts«, sprach der Prinz, »und keine Zeit verloren.«

Der Bauer lief vor dem Pferd des Prinzen her. Hundert Schritte vom Dorf schlug er einen kleinen Weg ein, der sich durch ein hübsches Tal zog.

Eine halbe Meile marschierte man so unter einer Bedeckung von Bäumen. Die Kanonen erschollen so nahe, das man bei jedem Schuss hätte glauben sollen, man höre die Kugel pfeifen. Endlich fand man einen Fußpfad, der vom Wege abging und sich auf der Seite eines Berges hinzog. Der Bauer wählte diesen Fußpfad und forderte den Prinzen auf, ihm zu folgen. Dieser stieg ab, befahl einem seiner Adjutanten und Raoul, dasselbe zu tun, und den anderen, seine Befehle zu erwarten, dabei aber sehr auf ihrer Hut zu sein, und fing an, den Fußpfad zu ersteigen.

Nach zehn Minuten war man in die Ruinen eines alten Schlosses gelangt. Diese Ruinen bekränzten den Gipfel eines Hügels, von dessen Höhe aus man die ganze Umgegend beherrschte. Auf kaum eine Viertelmeile erschaute man Lens hart bedrängt und vor Lens die ganze feindliche Armee. Mit einem Blick umfasste der Prinz die ganze Strecke, welche sich vor seinen Augen ausdehnte, von Lens bis Vismy. In einem Augenblick entrollte sich die Wahlstätte, welche am anderen Tag Frankreich vor einer Invasion retten sollte, vor seinem Geist. Er nahm einen Bleistift, riss ein Blatt aus seiner Schreibtasche und schrieb:

Mein lieber Marschall!

In einer Stunde wird Lens in der Gewalt des Feindes sein. Kommt zu mir, bringt das ganze Heer mit Euch. Ich werde in Vendrin sein, um es seine Stellung fassen zu lassen. Morgen haben wir Lens wieder eingenommen und den Feind geschlagen.

Dann sich gegen Raoul umwendend, sagte er: »Geht, Monsieur, jagt mit verhängten Zügeln und stellt diesen Brief Monsieur von Grammont zu.«

Raoul verbeugte sich, nahm das Papier, stieg rasch den Berg hinab, schwang sich auf sein Pferd und ritt im Galopp davon.

Eine Viertelstunde danach war er beim Marschall.

Bereits war eine Abteilung von Truppen angelangt. Den Rest erwartete man jeden Augenblick. Der Marschall von Grammont stellte sich an die Spitze aller verfügbaren Infanterie und Kavallerie und ließ den Herzog von Chatillon zurück, um die übrigen Truppen zu erwarten und nachzuführen.

Die ganze Artillerie war zum Aufbruch bereit und setzte sich in Marsch.

Es war sieben Uhr abends, als der Marschall am Sammelplatz ankam. Der Prinz erwartete ihn daselbst, denn er hatte es gesagt, Lens war beinahe, unmittelbar nach dem Abgang von Raoul in die Gewalt des Feindes gefallen. Das Einstellen der Kanonade hatte überdies dieses Ereignis verkündigt.

Man erwartete die Nacht. Mit dem Eintritt der Finsternis langten nach und nach die von dem Prinzen herbeigerufenen Truppen an. Es wurde Befehl gegeben, dass keine derselben die Trommel rühren oder die Trompete blasen lassen sollte.

Um neun Uhr war es völlig Nacht geworden. Eine letzte Abenddämmerung erleuchtete indessen die Ebene. Man setzte sich schweigend in Marsch. Der Prinz befehligte die Kolonne.

Jenseits Aunay angelangt, erblickte das Heer Lens. Einige Häuser standen in Flammen und ein dumpfes Geräusch, das den Todeskampf einer im Sturm genommenen Stadt andeutete, drang bis zu den Soldaten. Der Prinz bezeichnete jedem seinen Posten. Der Marschall von Grammont sollte die äußerste Linie halten und sich an Mericourt anlehnen. Der Herzog von Chatillon bildete das Zentrum, der Prinz den rechten Flügel.

Die Schlachtordnung vom anderen Tag sollte dieselbe sein, wie die der am Tag vorher eingenommenen Stellung. Jeder sollte sich auf dem Terrain befinden, woraus er zu manövrieren hätte.

Die Bewegung wurde in der tiefsten Stille und mit der größten Pünktlichkeit ausgeführt. Um zehn Uhr nahm jeder seine Stellung ein. Um halb elf Uhr durchlief der Prinz die Posten und gab die Parole für den anderen Tag.

Drei Dinge waren vor allem den Führern empfohlen, welche darüber wachen sollten, dass die Soldaten dieselben gewissenhaft beobachteten.

Erstens, dass die verschiedenen Korps sich bei dem Marsch gut beobachteten, damit die Reiterei und die Infanterie auf derselben Linie wäre und dass jede die bestimmte Entfernung einhielte;

zweitens, nur im Schritte anzugreifen;

drittens, den Feind zuerst schießen zu lassen.

Der Prinz gab den Grafen von Guiche, seinem Vater, und behielt Bragelonne für sich, aber die zwei jungen Leute baten um Erlaubnis, die Nacht miteinander zubringen zu dürfen, was ihnen auch bewilligt wurde.

Es wurde für sie ein Zelt in der Nähe des für den Marschall bestimmten aufgeschlagen. Obwohl der Tag ermüdend gewesen war, so fühlte doch weder der eine noch der andere ein Bedürfnis zu schlafen.

Überdies ist es eine wichtige, ernste Sache, selbst für die alten Soldaten, der Vorabend einer Schlacht, und noch viel wichtiger für zwei junge Leute, die dieses furchtbare Schauspiel zum ersten Mal sehen sollten.

Am Vorabend einer Schlacht denkt man an tausend Dinge, die man bis dahin vergessen hatte, und die einem jetzt in den Kopf kommen; am Vorabend einer Schlacht werden die Gleichgültigen Freunde, die Freunde Brüder. Es versteht sich von selbst, dass, wenn man im Grunde seines Herzens ein zärtliches Gefühl hegt, dieses Gefühl ganz natürlich den höchsten Grad der Begeisterung erreicht, den es zu erreichen imstande ist.

Es ist zu glauben, dass jeder von den zwei jungen Leuten von einem solchen Gefühl bewegt wurde, denn nach wenigen Augenblicken setzte sich jeder von ihnen an ein Ende des Zeltes und fing an, auf dem Schoß zu schreiben.

Die Briefe wurden lang, die vier Seiten bedeckten sich nach und nach mit feinen und gedrängten Buchstaben. Von Zeit zu Zeit schauten sich die jungen Leute lächelnd an. Sie verstanden sich, ohne etwas zu sprechen. Diese zwei zartfühlenden, sympathischen Naturen waren bestimmt, einander zu verstehen, ohne zu sprechen. Sobald die Briefe vollendet waren, legte jeder den seinen in zwei Umschläge, wo keiner den Namen der Person lesen konnte, an welche er ihn gerichtet hatte. Er müsste den ersten Umschlag zerreißen. Dann näherten sie sich einander und tauschten ihre Briefe lächelnd aus.

»Wenn mir Unglück widerfahren würde …«, sagte Bragelonne.

»Wenn ich getötet würde …«, sprach von Guiche.

»Seid unbesorgt«, sagten alle beide.

Hierauf umarmten sie sich wie zwei Brüder, hüllten sich jeder in seinen Mantel ein und schliefen den jungen, lieblichen Schlaf, den die Vögel, die Blumen und die Kinder schlafen.