Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Das Auge der Prinzessin Singawatha – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Auge der Prinzessin Singawatha

3. Kapitel
Glasaugen

Wir waren wieder allein, saßen unter dem Sonnenzelt des Hecks und sprachen über unsere Lage; das heißt: Harst sprach und ich streute nur selten eine Bemerkung ein.

»Wir haben heute wieder einmal unverschämten Dusel gehabt«, meinte er. »Tatsache! Dass Warbatty uns entkommen ist, ohne zu merken, dass er entkommen sollte, gehört mit dazu.«

»Aber zu Greaper sagtest du doch, die Geschichte sei gründlich verfahren.«

»Ja, man sagt so manches. Ich konnte doch nicht gut ihm folgenden Vortrag halten: Herr Inspektor, wir haben Ihnen bisher etwas verheimlicht. Die Prinzessin Singawatha will fliehen, und wir wollen dabei helfen. Außerdem hat Warbatty mit dem Vater der Prinzessin offenbar ein kleines Geschäft vor, das wir stören möchten. Wenn wir Warbatty nun dingfest gemacht hätten, würde sich uns keine Gelegenheit geboten haben, dahinter zu kommen, um was es sich handelt. Und dies herauszufinden, ist mehr wert als Warbattys Verhaftung, denn ich werde ihm bestimmt bei diesem Geschäft abermals eine feine, haltbare Schlinge legen können. So etwa hätte ich reden müssen. Ich hütete mich. Die Polizei hat mir zu viele Zungen, die leicht mit meinen Geheimnissen durchgehen können. Und dann ist Warbatty gewarnt, der jetzt auch nicht im Entferntesten ahnt, dass wir in dieser Nacht Seiner Hoheit dem Prinzen Achmed einen Besuch abgestattet haben. Du wundertest dich über meine Fantasiegeschichten vorhin. Die tischte ich nur für unseren Cecil auf. Er denkt nun, wir haben es hier lediglich auf ihn abgesehen. Ein Riesenvorteil für uns! Und der zweite: Er ist seiner Schwertbrüder-Leibgarde verlustig gegangen. Die Kerle haben einen bösen Denkzettel bekommen; drei tot, drei verhaftet! Ich hoffe, sie werden hier in Lucknow nur zu sechst vertreten gewesen sein. Warbatty muss also auf die Helfershelfer verzichten und vielleicht allein arbeiten. Begreifst du nun, weshalb ich von Dusel redete?«

»Hm. Du hattest doch aber für Warbatty diese Falle auf dem Kutter vorbereitet. Und dennoch wäre die Falle gar nicht nötig gewesen.«

»Aber Schraut! Ich sagte doch schon: Die Leibgarde sollte weg! Ich dachte, Warbatty würde sich nicht in Person hier einschleichen, sondern nur die braunen Halunken herschicken.«

»Nun verstehe ich!«

»Na also! Jetzt will ich kurz meine Erlebnisse in dem prinzlichen Park schildern. Dieser war scharf bewacht. Vier Wächter stellte ich fest. Ein Beweis, dass Seine braune Hoheit mit Fluchtgedanken seiner Tochter rechnet. Mir lag bei diesem Eindringen in den großen Garten lediglich daran, die Örtlichkeit ein wenig kennen zu lernen. Der Palast selbst muss sehr alt sein. Die Granitquadern sind auch wie für die Ewigkeit bestimmt. Der Harem liegt nach Westen zu in einem Anbau von quadratischer Form. Er hat einen offenen Hofraum; darin ein Gärtchen, einen Springbrunnen und nachts als Wächter drei Panther, die frei umherstreifen. Ich war nämlich auf das Dach geklettert. Es ist flach. Man kommt bequem an den Ziergittern der Fenster empor. Von diesem Dach turnte ich auf den Balkon hinüber, der an der Rückseite des Palastes in Höhe des zweiten Stockwerks entlangläuft. Die Fenster des riesigen Gebäudes waren bis auf zwei dunkel. Und diese zwei erleuchteten waren die des ganz europäisch eingerichteten Arbeitszimmers des Prinzen selbst. Ich habe diese braune Hoheit gesehen. Er war am Schreibtisch bei einer sehr interessanten Arbeit. Er rechnete nämlich offenbar an einem Spielsystem für das Roulette, hatte ein kleines Roulette neben sich stehen und drehte, schrieb, drehte, fluchte, warf den Bleistift hin und machte sich zum Ausgehen im Nebenzimmer fertig, erschien wieder als sehr bescheiden angezogener Eingeborener und zwang mich so, ihm voraus an die Hauptpforte des Parkes, die nach Osten zu liegt, zu eilen und ihn dort zu erwarten.«

Harst lächelte mich an. »Du hättest in dieser Nacht eine Spielhölle und eine Opiumhöhle, beides in praktischer Vereinigung, kennen gelernt, wenn ich noch Zeit gehabt hätte, dich von der Westseite der Parkmauer abzuholen. Das war unmöglich. Deshalb genoss ich allein den Vorzug, die Lucknower braune Lebewelt bei Jeu und Opium — natürlich von draußen — in einem äußerlich sehr schäbigen Haus des Eingeborenenviertels bewundern zu können. Zu bewundern war hauptsächlich die abgeklärte Ruhe, mit der die Leute ihr Geld verloren. Ich hing draußen an einem langen Feuerhaken, den ich auf einen Fenstervorsprung gestützt hatte. Meiner Schätzung nach muss Seine Hoheit der Prinz Unsummen gewonnen haben. Ich brachte ihm Glück.«

Harst gähnte. »Das wäre alles. Ich denke, wir gehen jetzt schlafen. Am Tage wird niemand einen Anschlag auf den Kutter wagen. Dort auf dem Bollwerk sitzen zwei Detektive und angeln scheinbar nur. Es ist unsere Schutzwache. Greaper sorgt gut für uns.«

Wir schliefen bis gegen Mittag.

Es war nun der 23. Dezember, ein Tag vor dem Heiligen Abend! Ich erinnerte Harst daran, als wir uns ankleideten.

»Vielleicht verleben wir den Christabend mit der Prinzessin zusammen«, meinte Harst. »Und zwar hier auf dem Kutter.«

Greaper holte uns im Auto zu seinem Bungalow ab. Wir blieben dort bis gegen zehn Uhr. Als wir auf unserem Kutter wieder anlangten, fanden wir zwei Detektive auf dem Deck, die sich nun zurückzogen. Trotz dieser Überwachung durchsuchten wir das Fahrzeug vorsichtshalber vollständig. Dann warf Harst den Motor an. Wir verließen das Hafenbecken und hatten Lucknow eine halbe Stunde später weit hinter uns, bogen nun in einen von hohem Röhricht bedeckten Seitenarm ein, verbargen den Kutter und kehrten im Beiboot zur Stadt zurück, nun ganz sicher, dass Warbatty selbst bei schärfster Wachsamkeit unmöglich wissen konnte, wo wir geblieben waren.

Die Nacht war sternenklar. In der Nähe der Stadt war der Bootsverkehr trotz der nächtlichen Stunde recht lebhaft. Die Gumti ist ja auch für größere Dampfer schiffbar, und die Landesprodukte gehen vielfach zu Wasser auf riesigen, flachen Segelfahrzeugen stromabwärts.

Als wir die mittelste Pfeilerreihe der Eisenbahnbrücke erreicht hatten, sahen wir sofort, weshalb die Prinzessin oder doch die dieser ergebene Person gerade diesen Platz als Rendezvous ausgewählt hatte. Es gab hier eine winzige Felsbank, auf der die Pfeiler ruhten. Infolge des flachen Wassers wurden die Durchgänge der Brücke rechts und links von diesen Pfeilern für den Schiffsverkehr nicht benutzt. Wellenbrecher aus Beton in Halbkreisen gruppiert, sperrten den Zugang und ließen nur kleinere Boote durch. Daher war es hier auch still und einsam.

Wir legten unser winziges Beiboot an einem der Pfeiler fest und warteten, nur zuweilen ein paar Bemerkungen austauschend, der Dinge, die da kommen sollten. Es war nun etwa 20 Minuten vor Mitternacht.

Eine nervöse Unruhe bemächtigte sich meiner. Ich wehrte die Gedanken ab, aber sie kehrten immer wieder zurück, verdichteten sich stetig mehr zu dem Verdacht, dieses Rendezvous könnte doch vielleicht eine Falle sein.

Schließlich vermochte ich nicht länger zu schweigen.

»Harald«, flüsterte ich dem mir auf der zweiten Ruderbank gegenübersitzenden Freund zu, »hältst du es für gänzlich ausgeschlossen, dass die Prinzessin etwa mit Warbatty unter einer Decke steckt? Unser Cecil hat leider derartig weit verzweigte Verbindungen, dass man bei ihm auf alles gefasst sein muss.«

»Lieber Schraut, ich habe Beweise, dass Warbatty nichts mit der Prinzessin zu schaffen hat, wenigstens nicht in dem Sinne, wie du dich soeben äußertest.«

»Beweise? Dann hast du mir auch wieder etwas verschwiegen. Du hast mehr in der verflossenen Nacht erlebt, als du mir mitteiltest.«

»Vielleicht …«

Ich blickte ihn etwas verstimmt an. »Du fällst abermals in den alten Fehler zurück«, meinte ich leicht gereizt. »Weshalb vor mir immer wieder dieses Versteckspielen? Du hast damit, denke ich, schon genug schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Aber, lieber Alter«, unterbrach er mich. »Jeder Mensch muss seine kleinen Schwächen haben. Damit wir uns aber nicht heute am Weihnachtsvorabend entzweien, will ich nachgeben. Seine braune Hoheit der Prinz ging nicht direkt zu der Spiel- und Opiumhöhle, sondern vorher noch zu einem eingeborenen Goldwarenhändler, der dicht am Ufer der Gumti ein kleines, angenehm durch seine Sauberkeit auffallendes Haus nebst Garten besitzt. Ich hatte infolge meiner Frechheit wieder Glück. Die Fenstervorhänge schlossen nicht dicht. So stellte ich fest, dass der Prinz mit einem Europäer verhandelte, der unserem Cecil auffallend glich. Nun, es ist Warbatty gewesen. Er sah sehr würdig aus, spielte offenbar die Rolle irgendeines Gebildeten. Die beiden saßen an einem Tischchen bei einer Petroleumlampe. Freund Cecil zeigte dem Prinzen vier kleine Gegenstände von derselben Form, ovale Dinger in Größe kleiner Pflaumen etwa. Erst wusste ich nicht recht, was es war. Dann erkannte ich – na, rate mal, was?«

»Wie soll ich das erraten?«

»Oh, denke bitte an das Gerücht, dass die Prinzessin bei einem Anschlag auf ihr Leben ein Auge verloren haben soll.«

»Wie, etwa Glasaugen?«

»Ganz recht: Vier Glasaugen legte Warbatty dem Prinzen vor. Ahnst du nun, welche Rolle er Achmed Ibur Dau gegenüber spielt?«

»Hm, vielleicht die eines Augenarztes?«

»Ohne Zweifel. Jedenfalls dürfte er die vier Glasaugen in Europa – die Schweiz ist ja berühmt für diese ihre Spezialindustrie – besorgt haben. Das sogenannte Attentat ereignete sich den Gerüchten nach vor sechs Monaten. Damals war Warbatty bestimmt hier in Indien, wie wir wissen, und hat schon da mit den Vorbereitungen für seine großangelegten Gaunerstreiche begonnen. Seine Bekanntschaft mit dem Prinzen dürfte also vielleicht durch den Verlust des Auges Singawathas vermittelt worden sein – vielleicht! Ich sehe in dieser Beziehung noch nicht klar. Du vielleicht?«

»Ich? Wenn ein Harald Harst …« Ich schwieg plötzlich. Mein Blick war auf ein Boot gefallen, das ich draußen auf dem Fluss zwischen den Wellenbrechern hindurch bemerkte. Es war klein und zeigte ein rotes und ein grünes Licht.

»Das Boot!«, rief ich Harst leise zu. »Dort …«

Er wandte schnell den Kopf. »Wirklich, es ist …«

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als sich etwas ereignete, das uns beide für Sekunden geradezu lähmte.

Neben dem Boot tauchte ein zweites, größeres auf. Wir hörten das Puffen eines Motors, hörten zwei Angstschreie, schrill, heiser, sahen die beiden Insassen des kleinen Nachens hochschnellen, vernahmen das Splittern und Krachen von Holz, dann wieder halb erstickte Rufe.

Das rote und grüne Licht waren wie weggewischt. Auch das kleinere Boot war verschwunden. Das größere glitt weiter. Die Wellenbrecher entzogen es unseren Blicken.

All das spielte sich so blitzschnell ab, dass das Ganze bei diesem ungewissen Dreivierteldunkel wie ein Spuk wirkte.

Ich griff nach den Rudern.

»Nein, wir bleiben!«, sagte Harst ruhig. »Es hat keinen Zweck. Es ist besser, man bemerkt uns nicht.«

»Aber das war doch eben eine geradezu unerhörte Fahrlässigkeit!«, meinte ich empört. »Das Motorboot hat den Nachen überrannt, und man müsste doch wenigstens versuchen …«

»… versuchen, die Sache wieder einzurenken«, vollendete Harst. »Sehr richtig! Das werden wir auch. Von Fahrlässigkeit war hier keine Rede. Im Gegenteil. Das Motorboot wollte das Boot rammen. Es fehlt deinen Augen an der nötigen Übung, lieber Alter, Vorgänge auseinander zu halten, die sich sehr schnell abspielen. Den Leuten in dem Motorboot kam es lediglich darauf an, sich der beiden Insassen des Nachens, offenbar Frauen, ohne Aufsehen zu erregen, zu bemächtigen. Sie haben die Frauen an Bord gehoben, bevor das kleine Boot unterging. Ich fürchte, diese Frauen werden die Prinzessin und deren Vertraute gewesen sein. So, jetzt können auch wir ins offene Wasser hinaus. Ich werde sehr kräftig rudern. Steuere auf dem kürzesten Wege zu dem Nebenflüsschen hin, in dem wir gestern Nacht waren.«

Das Beiboot schoss davon. Wenn ein Harst mit seinem trainierten Körper sich in die Riemen legte, dann schaffte es auch. Bereits zehn Minuten später landeten wir an derselben Stelle wie gestern; und abermals zehn Minuten darauf hatten wir die Mauer des Parkes unweit der Hauptpforte überklettert und huschten in den Büschen um den Palast herum. Dann begann eine für mich lebensgefährliche Kletterpartie an den Fenstergittern und Mauerverzierungen empor bis zu einem balkonartigen Vorbau des zweiten Stockes. Hier auf dem Balkon duckten wir uns hinter einer Rollwand zusammen. Die Fenster vor uns waren dunkel.

»Seine braune Hoheit wird ohne Zweifel bald erscheinen«, meinte Harst flüsternd. »Hinten im Park in der Autogarage war noch Licht. Das Auto dürfte die beiden Nacheninsassen hierher zurückgeschafft haben.«

»Also Achmed Ibur Dau hat …«

»Natürlich hat er die beiden Frauen überfallen oder doch überfallen lassen.«

Im gleichen Moment, als Harst dem letzten Worte ein warnendes Pst folgen ließ, flammten in dem Zimmer vor uns die sechs Birnen einer elektrischen Krone auf.

Die Fenster hatten Seidenvorhänge. Man sah die fantastischen Blumen und Drachen darauf mit scharfen Umrissen gegen diese Lichtfülle sich abheben.

Harst stand auf, schlich an die Tür, die auf den Balkon hinausführte, und winkte mir dann. Die Vorhänge klafften in der Mitte dreifingerbreit auseinander. Diese Spalte genügte, den Raum überblicken zu können.

In einem altertümlichen, geschnitzten Sessel mit überreichen Elfenbeinverzierungen saß eine junge Frau in einem dunklen, seidenen Mantel. Um das blonde Haar war ein dunkler Schleier geknotet. Das linke Auge aber hatte eine schwarze Augenklappe, deren Bänder über Stirn und Wange hinliefen.

Rechts von dem Mädchen lehnte an einem mit Büchern und Zeitschriften bedeckten Tisch ein schlanker, elegant gekleideter Hindu. Der dunkle Jackenanzug, der blendend weiße Kragen, die Krawatte mit großer Perle als Nadel, das gescheitelte, leicht ergraute Haar, das von einem gleichfalls bereits weißlich schimmernden Spitzbart umrahmte Gesicht, die hellbraune Hautfarbe des schmalen, länglichen Antlitzes und die großen, schwarzen Augen darin gaben ein vollkommenes Bild von einem jener modernen indischen Nabobs, die zu Dutzenden besonders gern ihre Millionen in dem leichtlebigen Paris verprassen.

Alles in allem war der Prinz Achmed – denn er konnte es ja nur sein, eine nicht gerade unsympathische Erscheinung. Sehr sympathisch dagegen wirkte auf mich das Mädchen. Trotz der entstellenden Augenklappe erkannte man sofort den zarten Liebreiz dieses Gesichts, in dem nur der Mund und das Kinn insofern den Eindruck holdester Weiblichkeit verwischten, als beide einen überaus zielbewussten Charakter fast zu stark ausprägten. Die Lippen waren schmal und bildeten nun nur eine gerade, rote Linie, so fest waren sie aufeinandergepresst.

»Singawatha«, flüsterte Harst. »Man sieht es ihrer Hautfarbe an, dass ihre Mutter eine Deutsche war.«