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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Warbattys Testament – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Warbattys Testament

1. Kapitel
In Haidarabad

Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen: Endlich reisten wir in Indien als Touristen, das heißt, ich brauchte nicht jeden Augenblick zu fürchten, dass Harald Harst zu mir, seinem Privatsekretär und Freund sagte, wenn wir irgendwo einem äußerlich ganz harmlos aussehenden Menschen begegneten: »Hm, ob das nicht schon wieder unser Todfeind Warbatty in einer anderen Maske ist?«

Der Zug durchfuhr gerade einen Urwald in einem wahren Schneckentempo. Harst und ich saßen im Speisewagen und genossen die Aussicht auf die Mauern ungeheuer tropischer Baumriesen, undurchdringlichen Unterholzes und all der Schlinggewächse, die stellenweise ganze Vorhänge bildeten, genossen aber auch eine Fischpastete für billiges Geld, wie ich sie so gut nicht wieder gegessen habe.

Der gewandt bedienende Kellner brachte nun eine Eierspeise, erklärte dazu in seiner bescheidenen Art: »In diesem Urwald hausen noch ein paar hundert Gond.« Er sagte das mit einer deutlichen verächtlichen Betonung des Wortes Gond. »Vor fünf Tagen hatten sie die Schienen aufgerissen«, fügte er hinzu. »Es sind Schweine …«

Wenn in Indien ein Farbiger einen anderen mit Schwein bezeichnet, so ist er selbst stets Mohammedaner und das Schwein irgendein gänzlich unzivilisierter Wilder, der vielleicht einen frisch abgeschnittenen Hahnenkopf als Gott anbetet. Denn die Anhänger der Hauptreligionen in Indien, des Brahmanismus, des Islam und des Buddhismus hassen sich wohl als Fanatiker, setzen sich aber durch Beschimpfungen gegenseitig nie herab.

Ich hatte keine Ahnung, was Gond war. Natürlich irgendein wildes Volk. Aber sonst?

Als der Kellner verschwunden war, meinte Harst: »Die Gond sind Reste der Ureinwohner Indiens. Sie teilen das Schicksal vieler Völker, die von den fremden Eroberern in die unwegsamsten Gebiete zurückgedrängt worden sind und dort in dumpfem Hass gegen die neuen Herren des Landes wie wilde Tiere in der Verborgenheit leben. Der größte Teil der Gond ist bereits mit den Hindu vollständig verschmolzen. Die echten Gond sind menschenscheu, leben in Höhlen und hohlen Bäumen, beten Geister an, die sich ihnen in allerlei Geräuschen angeblich offenbaren, stehen vollständig unter dem Einfluss ihrer schlauen Priester und sind heimtückisch, grausam und, wenn gereizt, von einer besinnungslosen Tollkühnheit. Ich fürchte, wir werden es nicht ganz leicht mit ihnen haben.«

Ich wurde aufmerksam.

Er nickte, fiel mir ins Wort: »Ja, wir! Denke bitte an Warbattys Testament!« Er fasste in die Brusttasche, holte des großen Verbrechers letzte Niederschrift hervor, breitete sie auf dem Tischtuch aus und las leise folgende Sätze:

»… in der Nähe von Haidarabad die sogenannten Indra-Ruinen aufzusuchen. Dort scheint die Sonne dem Affen ins Gesicht, und der dunkle Strich, während der Mittagsmahlzeit dreimal verlängert, findet den singenden Vogel, dessen Schnabel den Weg weist, dessen Ende der Anfang ist.«

Harst schaute mich an. »Dies ist das Wichtigste aus Warbattys Testament. Es sind die Angaben, die ich deuten soll, um den Ort zu finden, an dem vielleicht irgendein alter Schatz ruht.« Er lächelte. »Oder an dem es irgendetwas gibt, und dies ist das Wahrscheinlichere, wodurch Warbatty auch noch als Toter mich vernichten kann.«

Bisher hatte Harst mich stets bei dem Glauben belassen, er nehme Warbattys Vermächtnis völlig ernst und glaube an einen wertvollen Fund, den wir in jenen Ruinen machen könnten.

»Du … du fürchtest also so etwas wie eine Falle?«, fragte ich unsicher.

»Natürlich. Oder bist du anderer Ansicht?«

»Hm, ich weiß nicht recht. Vielleicht hatte Warbatty wirklich die Absicht, dir zu beweisen, dass er bei all seiner Verworfenheit doch ein großmütiger Gegner war, der nach seinem Tod in deiner Erinnerung …«

Harst winkte mit etwas ironischem Mundverziehen ab.

»Nach seinem Tod! Leider wird Warbatty jedoch so leicht nicht sterben, wie du hoffst, mein lieber Schraut. Gewiss, ich hätte Inspektor Plumper nachgeben und mich damit einverstanden erklären können, dass einer der die Leiche untersuchenden Ärzte durch einen winzigen Stich in das Zwerchfell die Sicherheit schaffte, jedes nochmalige Erwachen des Toten zu verhindern. Aber das erschien mir wie ein gemeiner, unwürdiger Meuchelmord.«

»Himmel!«, rief ich ganz entsetzt, »so glaubst du also tatsächlich, dass …«

»… Warbatty nur ein Gift zu sich genommen hat, das den indischen Yoga seit Langem bekannt ist«, vollendete er meinen Satz. Also ein Gift, das die Yoga oder Fakire dazu benutzen, ihr oft angestauntes Experiment des Lebendig-sich-begraben-Lassens auszuführen. Du weißt, dass die Yogi, die eine besondere Kaste bilden, sich bis zu acht Wochen Dauer zwei Meter tief in der Erde in einem Holzkasten in starrkrampfähnlichem Zustand am Leben zu erhalten verstehen. Weshalb sollte Warbatty die Geheimnisse dieser Yogi, jede Lebensäußerung in ihrem Körper zum Aussetzen zu bringen, sich nicht angeeignet haben? Kurz: Ich wette zehn gegen eins, dass sein Testament eine ganz raffiniert ausgeklügelte Falle ist.«

»Na, eine nette Überraschung!«, murmelte ich. »Und ich hatte mich schon so darauf gefreut, endlich mit dir dieses Wunderland als sorgenloser Vergnügungsreisender genießen zu können.«

»Hm, ob dir das nicht sehr bald langweilig geworden wäre? Wir beide sind bereits zu sehr an Aufregungen gewöhnt. Ich jedenfalls verzichte gern auf harmlose Touristenfreuden. Aber das ist Geschmackssache. Jedenfalls, lieber Schraut: Auch wenn Warbatty wirklich dieser schönen Welt für immer Lebewohl gesagt haben sollte, so würden wir doch in den Indra-Ruinen nicht weniger von Gefahren umgeben gewesen sein. Denn diese Ruinen liegen südlich der Stadt inmitten einer Sumpfwildnis, in der ein etwas sagenhafter Fürst der vorhin erwähnten Gond hausen soll, wie mir Inspektor Plumper in Madras mitteilte. Ich weiß also nicht recht, ob Warbatty als Feind nicht mehr vorzuziehen ist als eine Bande dieser Gond mit vergifteten Pfeilen und sonstigen ungemütlichen Mordinstrumenten.«

Ah, also deswegen wusste Harst über diese Wilden so gut Bescheid! Er hatte offenbar schon in Madras, ohne mir etwas davon zu sagen, Erkundigungen über die Gond und die Indra-Ruinen eingezogen.

Er beobachtete nun mein Gesicht, lachte leise auf und meinte: »Du brauchst ja nicht mitzumachen, lieber Alter! Wirklich nicht! Ich werde auch allein herausfinden, was es mit dem Affen, dem die Sonne ins Gesicht scheint, mit dem dunklen Strich und dem singenden Vogel auf sich hat. Das alles klingt so wunderhübsch rätselhaft und poetisch, dass ich geradezu versessen darauf bin, dieses Wortrebus zu lösen. Es wird sehr interessant werden – fraglos! Und ich verspreche, nach meiner Rückkehr von diesem Ausflug dir alles haarklein zu berichten, damit deine schriftstellerischen Versuche keine Unterbrechung durch den Fortfall dieses Abenteuers erleiden.«

»Hör auf!«, rief ich ärgerlich. »Verdammt, ich bin kein Feigling! Aber mit 45 Jahren liebt man schon etwas mehr die Ruhe als mit 29 Jahren!«

Der Zug fuhr wieder schneller. Die gefährliche Urwaldstrecke war passiert.

Am Nachmittag gegen fünf Uhr kamen wir in Haidarabad an. Die Stadt ist bekanntlich die Residenz des größten Vasallenstaates des indischen Kaiserreichs. Der Nizam von Haidarabad, der vornehmste mohammedanische Fürst Indiens, gehört zu den reichsten Leuten der Erde. Die Schatzkammern seines Palastes sollen tatsächlich unschätzbare Werte an Kleinodien, besonders an Edelsteinen, enthalten. Kein Wunder weiter, denn die berühmte indische Diamantenstadt Golkonda ist ja ganz in der Nähe, und dort sind vor Jahrhunderten Diamanten in solcher Zahl gefunden worden, dass der Name Golkonda noch heute eine ähnliche Bedeutung wie Kimberley mit seinen Diamantgruben hat, eben die eines Fundortes märchenhafter Reichtümer.

Es gibt zwei Städte mit dem Namen Haidarabad. Die Residenz des Nizam, des Fürsten der Fürsten, mit ihren fast eine halbe Million Einwohnern ist jedoch mit dem in Nordwestindien liegenden Haidarabad (60 000 Einwohner) überhaupt nicht zu vergleichen.

Aber das große Haidarabad enttäuschte mich sehr. Gewiss, die riesige alte Steinmauer, die die Stadt umgibt und aus der in kurzen Abständen Bastionen und kleine Forts vorspringen, ebenso die prachtvollen öffentlichen Parks vor den Toren wirkten malerisch und echt orientalisch-märchenhaft, aber das Innere der Stadt mit den zumeist ganz engen Gassen war doch zu sehr lediglich Eingeborenenviertel, das heißt unsauber, düster, muffig und fraglos ein gefährlicher Pest- und Choleraherd.

Wir stiegen in dem damals einzigen deutschen Fremdenheim ab. Es war überfüllt. Die Inhaberin Frau von Tezra, die Witwe des Hofkapellmeisters des Nizam, brachte uns jedoch, als sie hörte, wer die Gäste waren, in ihrer eigenen Wohnung im sogenannten Salon unter. Sie bedienerte Harst, als sei er der Nizam selbst, und bereits eine Stunde nach unserem Eintreffen wusste das ganze große Haus, dass der berühmte Harald Harst nun unter diesem Dach weilte.

Bei der gemeinsamen Abendtafel wurden wir gebührend bestaunt. Wir saßen inmitten einer deutschen Touristengesellschaft, die das bekannte Stangensche Reisebureau durch Indien geleitete. Neben mir rechter Hand hatte ein dicker Rentier seinen Platz, der sofort von mir wissen wollte, ob Harst es wohl übernehmen würde, ihm seinen Schirm mit echt goldener Krücke, der ihm gestern in der großen Moschee gestohlen worden war, zurück zu verschaffen.

»Ich zahle gern hundert Mark dafür«, meinte er. »Und Sie, Herr Schraut, sollen auch 20 bekommen …«

Ich lachte ihn vergnügt an. »Herr Pickering, solche Sachen machen wir nicht. Für Geld überhaupt nichts! Harst ist nämlich selbst mehrfacher Millionär …«

Uns gegenüber wieder saß ein Graf Harstein von Hardefels, ein älterer Herr, der nach einer Weile Harst sehr gönnerhaft fragte: »Was verdienen Sie eigentlich so als Detektiv? Mir war mal Familiensilber gestohlen. Da musste ich einem Ihrer Berliner Kollegen 300 Mark Vorschuss geben und kriegte das Silberzeug doch nicht zurück.«

Harst merkte, dass der Herr Graf von ihm offenbar bisher nicht viel wusste und erklärte deshalb ganz liebenswürdig: »Ich bin nur Liebhaberdetektiv, das heißt, ich betreibe die Verbrecherjagd nur aus Neigung, nicht als Erwerb.«

»Ja, Herr Harst ist nämlich mehrfacher Millionär«, schrie mein Rentier dem Grafen zu.

Dieser entschuldigte sich daraufhin, schlug einen anderen Ton an und bewies so, dass nicht der Mensch, sondern die Millionen von ihm gebührend berücksichtigt wurden.

Ich erwähne Pickering und Adalbert von Harstein-Hardefels hier nur deswegen, weil wir mit ihnen anderswo dann ein unvermutetes Wiedersehen feiern sollten.

Gleich nach Tisch sagte Harst zu mir: »Du, einmal und nicht wieder. Nicht zehn Pferde schleppen mich nochmals in diesen Speisesaal! Na, morgen hoffe ich ja auch zu den Indra-Ruinen aufbrechen zu können. Pferde und einen Führer werden wir bald haben.«