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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 48

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Die Tidianshöhle

Ein Schäfer des Grafen von Falkenstein, Tidian geheißen, weidete alltäglich seine Herde auf einem waldigen Berg, nahe der Burg. Es war ein braver, fleißiger Bursche, den jedermann gern hatte und dem die Lebensfreude aus den treuherzigen Augen schaute. Heute aber saß Tidian gegen seine Gewohnheit recht trübe da. Nichts konnte ihn erheitern, und die Sprünge der jungen Zicklein, die ihn sonst so sehr ergötzt hatten, blieben unbeachtet. Es war auch kein geringer Kummer, der ihn drückte und ihm allen Frohsinn nahm. Im Dorf wohnte nämlich ein reicher, geiziger Müller. Der hatte ein liebliches Töchterchen, welches Tidian schon als Kind lieb gehabt hatte. Auch das Mädchen zog den braven und freundlichen Schäfer allen übrigen Burschen des Dorfes vor. Und so waren die beiden denn einig geworden, dass sie Mann und Frau werden wollten.

Sie waren so glücklich in ihrer Liebe, dass sie gar nicht daran gedacht hatten, ob der Müller auch in ihre Verbindung willigen werde. Voller Hoffnung war Tidian zu ihm gegangen und hatte um die Hand seiner Tochter gebeten.

Der Müller aber hatte ihn barsch und heftig angefahren, wie er, ein armer Schäfer, es nur wagen könne, um die Tochter eines reichen und angesehenen Mannes anzuhalten. Er möge seiner Wege gehen und niemals zurückkehren, denn alles Bitten nütze nichts. Sein Kind heirate nur einen Mann, der an Reichtum zu ihm passe.

Das war der Grund, warum der lustige Tidian nun so traurig aussah und weder die Blumen und Bäume, denen er sonst so zugetan war, noch seine Tiere beachtete.

Als die Mittagssonne ihre Strahlen glühend herniedersandte, wandte sich Tidian mit seiner Herde zu einer Höhle, die er stets bei Sonnenbrand oder Unwetter aufsuchte. Nachdem es kühler geworden war, trieb er sie wieder ins Freie. Da bemerkte er unmittelbar vor der Höhle eine wunderschöne blaue Blume. Er pflückte dieselbe und betrachtete sie staunend, denn obwohl er weit und breit alle Pflanzen des Gebirges kannte, eine solche Blume hatte er noch nie gesehen. Lange bewunderte er sie und sog ihren herrlichen Duft ein. Dann befestigte er sie an seinem Hut. Aber, o Wunder! Kaum hatte er den Hut wieder auf dem Kopf, als ihm ganz seltsam zumute wurde. Alles erschien ihm weit schöner als zuvor. Die Vögel sangen die lieblichsten Weisen, die Bäume rauschten geheimnisvoll, und den kleinen Waldblümlein entströmte ein Duft, so balsamisch und so köstlich, wie Tidian ihn noch nie wahrgenommen hatte. Aber größer wurde das Staunen des Schäfers noch, als er sich zu der eben verlassenen Höhle umsah. Blendende Helligkeit strahlte daraus hervor, als ob dort viele tausend Kerzen brannten. Zagend trat Tidian näher. Der Sand, der auf dem Boden lag, glänzte wie eitel Gold.

Eine liebliche Stimme rief: »Komm nur herein und nimm von dem Sand, so viel du tragen kannst. Und wenn es wieder Neumond ist, kehre zurück und hole mehr.«

Erst schüchtern, doch bald dreister, zumal ihn die Unsichtbare so freundlich ermuntert hatte, füllte der Schäfer seine Taschen bis zum Rand und ging dann hocherfreut mit dem kostbaren Geschenk heim.

Man riet ihm, einem Goldschmied im Städtchen den Sand zu zeigen, und Tidian folgte bald diesem Rat. Der Goldschmied machte große Augen, als er die glänzenden Körnlein erblickte. Er fragte den Schäfer, auf welche Weise er dieselben erhalten, bat ihn, nur ja wiederzukommen, wenn er abermals einen solchen Fund tun würde, und gab dafür dem Überglücklichen eine ganze Handvoll Goldstücke.

Auf dem Rückweg in sein Dorf berechnete Tidian, dass er noch dreimal um die Zeit des Neumondes in die Höhle gehen müsse, um sich von dem kostbaren Sand zu holen; dann würde er genug haben, den reichen Müller um seine Tochter zu bitten.

Den ganzen Monat blieb es auf dem Berg beim Alten; auch die Höhle, die der Schäfer nicht ohne ein leises Bangen durchsuchte, war wie sie immer gewesen. Doch als der Neumond kam, da begann abermals das geheimnisvolle Weben, wieder erglänzte die Höhle wie ein Strahlenmeer, und wieder lag der flimmernde Sand am Boden. Tidian machte es wie das erste Mal. Als der Neumond dreimal wiedergekehrt, war der Schäfer ein reicher Mann geworden.

Sein Herr, der Graf von Falkenstein, der um diese Zeit Hochzeit halten und für seine Braut ein schönes goldenes Brautkränzlein machen lassen wollte, ging eines Tages zu dem Goldschmied, um dasselbe zu bestellen. Er hieß den Meister, das schönste Gold, das er habe, zu dieser Arbeit zu verwenden.

Der Goldschmied meinte, der Herr Graf solle schon mit seiner Arbeit zufrieden sein; denn er wolle nur Tidiangold, das Kostbarste, das es gäbe, dazu nehmen.

Als der Ritter von Falkenstein darauf fragte, warum denn das Gold diesen Namen führe, erzählte ihm der Goldschmied, dass es in der Höhle gefunden werde, welche nach seinem Schäfer so benannt wäre, dass es aber nur diesem allein möglich sei, die dort verborgenen Schätze zu erlangen.

Staunend hatte der Graf diese Worte vernommen; hatte er doch keine Ahnung gehabt, dass sein Grund und Boden so kostbares Gold berge. Und diese Schätze sollten nicht ihm, dem rechtmäßigen Besitzer, sondern seinem Untergebenen zugutekommen: Nimmermehr!

Eilends ging der Graf ins Dorf, um den Schäfer, der bereits seine Herde heimgetrieben hatte, aufzusuchen. Mit glückstrahlendem Gesicht trat Tidian seinem Herrn entgegen; denn der reiche Müller hatte ihm heute, nachdem er die Schätze des Schäfers geprüft, seine Tochter versprochen. Aber finster blickte der Graf dem glücklichen Tidian ins Antlitz und fragte, ob es wahr sei, dass er sich große Schätze aus der Höhle geholt habe. Unbefangen erzählte der Schäfer seinem Herrn den ganzen Hergang, worauf dieser entgegnete, dass ihm der Diebstahl, den er an des Grafen Eigentum begangen habe, vergeben sein und er ungestraft seiner Wege gehen solle, wenn er zu Neumond ihn, den Ritter von Falkenstein, in die Höhle führen wolle.

Gern versprach dies der Schäfer, der höchst betroffen darüber war, dass der Graf von gestohlenem Gold gesprochen hatte. Die unsichtbare, liebliche Stimme hatte ihm doch erlaubt, so viel zu nehmen, wie er Lust habe. Der Schatz musste also doch der Besitzerin jener Stimme und nicht seinem Herrn gehören.

Als der Neumond sich am Himmel zeigte, führte Tidian, wie er es versprochen hatte, den Grafen in die Höhle. Entzückt und überrascht blickte dieser auf die Schätze; einen solchen Reichtum hatte er nicht vermutet. Mit fieberhafter Angst füllte er große Säcke mit dem herrlichen Sande immer fürchtend, dass er nicht genug bekäme.

Tidian nahm kein Körnchen mehr. Er hatte genug, um die Geliebte zu heiraten, und mehr verlangte er nicht.

Als nach Verlauf eines Mondes der Graf abermals zu seinem Schäfer herabkam, um mit ihm die Höhle zu betreten, sah er bleich und abgezehrt aus. Die Habsucht hatte sich des Ritters bemächtigt. Ruhelos war er am Tage umhergewandert, um nachts sich schlaflos auf seinem Bett zu wälzen. Die Angst, dass der Schäfer ihn des Goldes berauben, dass er auch anderen sein Geheimnis kundtun würde, quälte ihn entsetzlich.

Je näher die Stunde kam, wo die Schätze sich zeigen sollten, umso mehr steigerte sich die Goldgier und die Angst des Grafen. Da stieg ein furchtbarer Gedanke in ihm auf, dem er in demselben Augenblick die Tat folgen ließ. Er wandte sich gegen den ahnungslos und ruhig hinter ihm her schreitenden Schäfer, ergriff seinen Dolch und durchbohrte dem armen Tidian beide Augen. Dann eilte er allein vorwärts in die Höhle. Aber als er dieselbe betrat, schwand der helle Schimmer, ein furchtbares Getöse erhob sich und eine donnernde Stimme rief: »Hebe dich hinweg, du Mörder!«

Entsetzt, wie von bösen Geistern gefolgt, stürzte der Graf hinaus, rannte weiter und weiter; aber noch immer erscholl das Heulen, welches er in der Höhle vernommen hatte, in seine Ohren, noch immer hörte er den schrecklichen Schrei des Schäfers. Als er spät in der Nacht halb tot vor Angst und Ermüdung sein Schloss erreichte, brachte man ihm die Kunde, dass seine innig geliebte Braut gestorben sei. Von diesem Tage an verfolgte das Unglück den Grafen, bis er endlich die ersehnte Ruhe im Tode fand.

Der unglückliche Tidian hatte nur noch kurze Zeit gelebt. Er war nach heftigen Schmerzen in den Armen seiner treuen Braut gestorben. Die schöne blaue Blume aber, welche Tidian sorgfältig verwahrt gehalten hatte, zerfiel bei seinem Tod in Staub.