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Der Welt-Detektiv Band 6

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Eine Räuberfamilie – Drittes Kapitel

Emilie Heinrichs
Eine Räuberfamilie
Erzählung der Neuzeit nach wahren Tatsachen
Verlag von A. Sacco Nachfolger, Berlin, 1867
Drittes Kapitel
Das Bekenntnis

»Nun, gnädiger Herr, soll ich den Brief auf die Post tragen?«, fragte Georg, als Leonhardt erst gegen Mittag von einem tiefen, unerquicklichen Schlaf, der ihn wie ein böser Alp gefesselt gehalten hatte, erwachte, und den ehrlichen Burschen erschreckt anstarrte.

»Sie sind doch nicht krank, lieber Herr?«, fuhr dieser besorgt fort, »Sie haben, glaube ich, recht schwer geträumt.«

»Ja wohl, recht schwer, mein Freund!«, versetzte Leonhardt, »ich fühle mich ganz angegriffen davon. Wie spät ist es?«

»Gegen Mittag, gnädiger Herr! Nicht wahr, Sie haben den Brief an den Herrn Baron doch fertig geschrieben?«

Leonhardt fühlte, wie ihm, dem ehrlichen Burschen gegenüber, das Blut in die Wangen stieg. Er schämte sich seiner Nachlässigkeit und schüttelte nach einer Pause schweigend den Kopf.

»So waren Sie krank?«

»Ja, mein Freund, ich hatte Fieber und fühle mich noch krank. Doch will ich nun aufstehen und rasch Toilette machen, dann wird mir besser werden.«

Georg war seinem jungen Herrn dabei behilflich und erzählte während dieser raschen Beschäftigung, dass der Herr Marchese schon drei Mal nach dem gnädigen Herrn gefragt habe.

»Geht es der Signorina schon wieder besser?«, fragte dieser hastig.

»Es hat sie von uns noch keiner gesehen.«

»Und der fremde Herr?«

»Der Patron treibt sich schon im ganzen Palast umher, als suche er eine Gelegenheit zum Rauben«, versetzte Georg, »ist mir dieses Gesicht aber zuwider. Ich fragte den Marco, ob er den neuen Gast kenne. Er schüttelte still den Kopf. Ich werde ihm aber ein Fläschchen Eufemiawein zutrinken, dann soll er schon beichten.«

Leonhardt erwiderte nichts, sondern beeilte sich, seine Toilette zu vollenden, worauf er hastig sein Zimmer verließ, um sich beim Marchese selbst nach Arabellas Befinden zu erkundigen.

Georg aber schüttelte betrübt den Kopf und murmelte: »Das geht so nicht mehr, nun schreibt er heute wieder nicht. Gut, dann tue ich es und will dem alten Herrn schon alles sagen, wie es hier steht, und wie die Welschen seinen Liebling, der schon anfängt, ein bisschen undankbar zu werden, an Leib und Seele noch ganz verderben. Denn das steht fest, diese Signorina mit ihren schwarzen Augen hat es ihm angetan, mit denen sie, wie man so zu sagen pflegt, bis ins Herz hineinschauen kann. Wenn die von ihm verlangte, seinen Glauben abzuschwören und katholisch zu werden, er täte es, und das wäre denn doch wahrhaftig der Nagel zu des alten gnädigen Herrn Sarg.«

Er suchte sich Tinte, Feder und Papier vom Schreibtisch zusammen und ging damit in seine Kammer. Der arme Georg fühlte sich hier unter den Welschen so einsam und unglücklich. Als er seinen Brief an den Herrn Baron von Waldau begann, da rann Träne um Träne über sein Gesicht und die Feder war schier in lauter Heimweh getaucht.

Lassen wir ihn hier ruhig sein Schreiben vollenden und begeben uns in das prächtige Gemach des Herrn Marchese, wo wir Letzteren mit Leonhardt, im leisen, eifrigen Gespräch auf und nieder wandelnd, antreffen.

»Dass Sie meine Nichte lieben, Signor Leonardi, war mir längst kein Geheimnis«, sprach der Marchese stehen bleibend und ihn nachdenkend anblickend. »Ich will sogar nicht leugnen, dass mir diese Wahrnehmung große Freude gemacht hat.«

»Wie glücklich machen Sie mich durch dieses Wort, teurer Freund!«, rief der junge Mann freudig erregt, »so stände mir also von Ihrer Seite kein Hindernis entgegen, falls es mir, wie ich zuversichtlich hoffe, gelingen sollte, Arabellas Herz zu gewinnen?«

»In der Hauptsache, nein, mein guter Signor!«, versetzte der Marchese mit einer gewissen Unruhe. »Sie sind mir außerordentlich lieb und wert; wie ich Sie kennen gelernt habe, ein durch und durch edler Charakter. Indessen, Sie werden meine kleinen Skrupel sehr natürlich finden. Ich kenne Sie, nun ja, doch weiß ich weiter im Grunde nichts von Ihnen, von Ihrer Vergangenheit. Setzen wir uns und heben Sie diese meine kleinen Skrupel auf.«

Leonhardt blickte vor sich hin. Sein Gesicht war sehr bleich geworden. Endlich sagte er leise: »Darf ich diese Eröffnung bis nach meiner Unterredung mit Arabella aufschieben?«

Der Marchese trat erstaunt einen Schritt zurück und antwortete etwas erregt: »Und warum nach jener Unterredung? Wäre es nicht besser, erst vollständige Sicherheit bei mir zu erlangen, als möglicherweise nur die Ruhe meiner Nichte zu stören?«

»Ja, freilich, Sie haben recht, Herr Marchese!«, rief Leonhardt nicht ohne Bitterkeit. »Ich hoffte, durch meine Persönlichkeit Ihre Freundschaft mir erworben und mich derselben auch würdig bezeigt zu haben. Oder, warum drangen Sie so ungestüm in mich, Ihnen nach Neapel zu folgen? Mussten Sie doch damals schon sehen, welchen Eindruck Arabella auf mich gemacht hat.«

Des Italieners gelblich bleiches Gesicht wurde noch um einen Grad blasser. Er setzte sich auf einen Divan und bedeutete dem jungen Mann, sich neben ihn zu setzen.

Dann schwieg er eine Weile, als suche er nach passenden Worten und sagte endlich: »Sie haben vollkommen recht, mein lieber junger Freund, mir Inkonsequenz vorzuwerfen. Ich bin Ihnen noch immer eine Erklärung schuldig, weshalb ich bei unserer ersten Begegnung im alten Königsschloss zu Paris vor Ihrem Anblick wie ein ertappter Verbrecher erschrak und Sie dann unermüdlich verfolgte, bis ich mich mit Anstand in ein Gespräch mit Ihnen einlassen durfte. Selbst Arabella ahnte nichts von meiner inneren Bewegung. Eine unerklärliche Ähnlichkeit mit einem längst verstorbenen Freund: Diese Erklärung genügte, Sie beide zufrieden zu stellen.«

»Und es war nicht die Wahrheit?«, fragte Leonhardt verwundert.

»Allerdings, wenigstens ein Teil der Wahrheit. Sind Sie ruhig genug, junger Freund, eine Art Beichte von mir entgegen zu nehmen? Ich habe keinem Priester gebeichtet, um Absolution zu empfangen, weil ich eine solche Vergebung für Todsünde am menschlichen Gewissen, ja an der Gottheit selber halte. Büßen will ich durch ewige Reue und die Schuld erst dann als gesühnt ansehen, wenn es mir mit Gottes Hilfe noch hienieden gelingen sollte, einen Teil derselben wirklich abzutragen.«

»Wenn es Ihnen Beruhigung gibt, in meine Brust einen Kummer niederzulegen, dann soll es mein Stolz sein, Ihnen denselben auch tragen zu helfen, Herr Marchese!«, sprach Leonhardt, tief erschüttert von den Worten des alten Mannes.

»Ja, ja, ich glaube, diese Last wird mich noch ganz zu Boden drücken«, sagte der Marchese schwermütig, »und nur Sie sind der Mann, dem ich Vertrauen schenken, von dem ich hoffen darf, Rat und vielleicht auch Hilfe erhalten zu können. Hören Sie meine Erzählung, doch wollen wir wenigstens ungestört dabei bleiben.«

Er erhob sich und ergriff eine Schelle, worauf er dem eintretenden Diener befahl, niemanden, wer es auch sei, vorzulassen.

»Wie alt sind Sie, mein Freund?«, fragte er dann plötzlich, sich wieder neben Leonhardt niederlassend.

»Vierundzwanzig Jahre«, versetzte dieser, ihn verwundert anschauend. Es kam ihm der vorübergehende Gedanke, der alte Herr könne an momentaner Geistesstörung leiden.

»Vierundzwanzig Jahre!«, nickte der Marchese, »so lange ist es her, noch etwas darüber. Ich war damals ein Dreißigjähriger und soll ganz passabel gewesen sein, obwohl ich niemals zu den Libertinern gehört habe. Es war im Jahr 1839, als ich in Kissingen war, mehr aus Langeweile und Zerstreuungssucht, als meiner ziemlich kernigen Gesundheit halber. Dort lernte ich ein schönes, junges Mädchen kennen, die Gesellschafterin einer alten Baronin von Waldau. Sie hieß Leontine. Lassen Sie mich kurz sein, mein Freund! Ich liebte sie und gewann ihre Gegenliebe. Unter dem Versprechen der Ehe verführte ich sie und verließ sie, um sie im Leben nicht wiederzusehen.«

Er hielt erschöpft inne und bedeckte sich das Antlitz mit der Rechten, während Leonhardt ihn voll Unruhe anblickte. Was sollte der Name Waldau in dieser Geschichte?

»Die Reue packte mich nach Jahresfrist«, fuhr der Marchese mit mühsamer Fassung fort. »Ich liebte sie wirklich noch mit voller Seele und nur der unselige Standeshochmut, der so viel Elend schon gestiftet, hatte mich zum Wortbruch verleitet. Nun hatte ich indessen diesen Hochmut bekämpft und eilte, von Liebe und Hoffnung getragen, nach Kissingen, in dessen Nähe die Baronin Waldau mit ihrem Neffen wohnte. Was musste ich dort hören? Großer Gott, warum verschlang mich nicht die Erde, um mir ein langes Leben voll Gram, Reue und Verzweiflung zu ersparen? Leontine war, als ihre Herrin ihren Zustand erfuhr, von dieser mit Schmach und Schande in die kalte Winternacht hinausgestoßen worden. Von aller menschlichen Hilfe fern, in Sturm und Unwetter, gebar die Unglückliche zwei kleine Wesen, von denen sie eins, in der Nacht der Verzweiflung, vom Wahnsinn umtobt, mit ihrem langen blonden Haar erdrosselte. Das zweite Kind ließ die klagende Stimme ertönen, und diese Stimme drang durch den Wahnsinn in das verzweifelnde Mutterherz. Sie schleppte sich, beide Kinder, das tote, wie das lebende ans Herz gedrückt, zu einer menschlichen Wohnung und brach dort ohnmächtig zusammen. Als sie aus dieser Ohnmacht zum neuen Jammerdasein erwachte, befand sie sich im Gefängnis als Kindesmörderin; auch das lebende Kind war ihr genommen worden.«

Die Stimme des alten Mannes war bei den letzten Worten undeutlich geworden. Er sah leichenhaft aus, als sei er in diesen wenigen Minuten um zwanzig Jahre gealtert.

Auch Leonhardt saß unbeweglich, sein schönes Antlitz wie aus Stein gehauen. Was war es, das ihn so erstarrt gemacht hatte, mit so eisiger Faust an sein Herz gegriffen, dass er wähnte, noch niemals etwas Ungeheuerlicheres gehört zu haben? Und doch war jene Geschichte so gewöhnlich, so millionenfach schon vorgekommen.

»Den Schluss, den Schluss!«, brachte er endlich mühsam hervor.

»Ja, der Schluss ist furchtbar«, fuhr der Marchese leise und wie vom Fieberfrost geschüttelt fort, »das Gesetz musste für den Mord ein Opfer haben. Es zog nicht den Schuldigen, den Mann, der das Weib in diesen Abgrund der Schande und Verzweiflung unbarmherzig gestoßen hatte, also den eigentlichen Urheber des Mordes, ja, die eigentlichen Mörder, vor sein Forum, um ihn zu strafen mit Kerker und Schafott. O nein, der Mann geht unter diesen Verhältnissen stets frei aus, aber das Weib muss die Blutschuld mit ihrem Leben büßen.«

»Leontine?«, fragte der junge Mann atemlos.

»Sie starb auf dem Blutgerüst!«

»O, wie entsetzlich«, stöhnte Leonhardt, beide Hände ans totenbleiche Antlitz pressend.

Der alte Marchese blickte starr, wie unter dem Eindruck einer furchtbaren Vision, vor sich hin, Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären. Alles Gold der Erde kann den Toten nicht wieder erwecken, das Grab gibt seine Opfer nicht heraus.

Nach langer, langer Pause ließ der junge Mann die Hände vom Antlitz sinken und fragte leise: »Haben Sie niemals eine Spur von dem zweiten Kind der Unglücklichen gefunden?«

Der Marchese schüttelte mit einer fast wilden Verzweiflung das so frühzeitig zu Schnee erbleichte Haupt. »Niemals«, sprach er dumpf, »und doch suche ich nun seit dreiundzwanzig Jahren danach. Die Behörde von Kissingen sagte mir, das lebende Kind der Unglücklichen sei in ein Waisenhaus gebracht worden, später jedoch von einem reichen, unbekannten Herrn mit einer Summe ausgelöst und dann verschollen. Ich ging zu der Baronin von Waldau, um dort vielleicht Aufschluss zu erhalten. Als ich meinen Namen nannte, sprang ein Mann von vielleicht vierzig Jahren wie ein Rasender auf mich zu, schüttelte mich wütend und beschimpfte mich. Die notwendige Folge war eine Forderung. Ich schoss den Mann durch den linken Arm und wanderte dann ruhelos wie Ahasverus weiter meinen einsamen Weg, den von dort an die Schlangen der Reue und Verzweiflung bevölkerten.«

Leonhardt griff sich krampfhaft an die Brust, seine Lippen zuckten, als er fast unhörbar fragte: »Wie hieß jener Mann, mit dem Sie sich schossen?«

»Es war der Neffe der alten Baronin von Waldau, welcher, wie ich später erfahren habe, für Leontine eine innige Neigung gefasst, nach jener Katastrophe indessen die Gegend verlassen hatte. Doch was ist Ihnen, mein junger Freund? Ah, war das Anhören dieser Geschichte schon so fürchterlich für Sie? Ermessen Sie nun meine Last?«

Leonhardt hatte sich erhoben und schwankte wie ein Trunkener der Tür zu. Erschrocken eilte der Marchese ihm nach und schaute ihm ins verzerrte, totenbleiche Antlitz.

Der junge Mann blickte zur Seite in den prächtigen, venezianischen Spiegel. Es war ihm, als sähe er im eigenen, bleichen Antlitz die verzerrten Züge der unglücklichen Kindesmörderin auf dem Blutgerüst.

»Mutter! Mutter! Vergib deinem Mörder!«, stöhnte er, hob die Hände empor und brach bewusstlos zusammen.

Der alte Marchese griff entsetzt nach seinem weißen Haupt, um sich von seinem eigenen Dasein zu überzeugen, dann kniete er bei dem Bewusstlosen nieder, hob das blasse Antlitz empor und murmelte: »Es ist das tote Kind, das sie mit dem blonden Haar erwürgte. Still, still, dass es nicht erwacht, um mich zu morden.« Er blieb dann unbeweglich, das Haupt des Ohnmächtigen an seiner Brust gebettet, auf seinen Knien liegen.

So fand ihn der alte Kammerdiener, als ihn die Stille im Zimmer ängstigte und er ohne Erlaubnis einzutreten wagte.

Sein Hilferuf rief alles im Haus herbei, und unter Jammern und Wehklagen wurden die beiden Männer, der wahnsinnige Greis und der ohnmächtige Leonhardt, der sorglichen Obhut des Arztes, als welcher sich sogleich der Student von Bisaccia präsentierte, übergeben. Doch hielt es der alte Antonio für geraten, den bewährten Hausarzt rasch holen zu lassen. Als dieser erschien, war Leonhardt bereits wieder zum Bewusstsein gelangt.

Auch Arabella war durch das Schreien und Wehklagen der Dienerschaft aus ihrem Schlummer erwacht. Sie ließ sich rasch ankleiden und erschien mit angstbleichem Angesicht im Zimmer des Oheims, der unaufhörlich die Worte sprach: »Es ist das tote Kind, das sie mit dem blonden Haar erwürgte. Still, still, dass es nicht erwacht, um mich zu morden!«

»Heilige Mutter Gottes! Was ist denn hier geschehen?«, rief sie entsetzt. »Signor Leonardi, lösen Sie mir das Rätsel, und Sie, mein alter Freund!«, wandte sie sich zu ihrem Hausarzt, »sollte diese Geistesstörung eine Folge des nächtlichen Ereignisses sein?«

»Ruhe, Signorina! Vor allen Dingen Ruhe«, bat der alte Arzt, »überlassen wir den Herrn Marchese vorerst getrost den Händen seines treuen Antonio, der ihn zu Bett bringen mag, auf dass er die nötige Ruhe finde. Ich bin vollständig unwissend von allem, was vorgefallen ist, und bitte, jedoch in einem anderen Zimmer, um die notwendigste Aufklärung.«

Nachdem er noch einige Anordnungen in Behandlung des Kranken getroffen hatte, verfügte sich Arabella mit den drei Herren in den Salon, um, vor Entsetzen und Aufregung zitternd, näheres über die furchtbare Katastrophe zu hören.

Sie blickte auf Leonhardt, der sich bleich wie ein Sterbender in den Sessel niederließ, jedoch nicht gewillt schien, den Reigen der Erklärungen zu eröffnen.

»Sie erlauben, meine gnädige Signorina Marchesa!«, begann Pasquale Rapo, sich tief und ehrerbietig vor ihr verneigend, »dass ich mich zuvörderst als den Gast Ihres Herrn Oheims vorstelle. Ich hatte das große Glück, Sie in der verflossenen Nacht aus den Händen einiger Verwegenen zu befreien. Mein Name ist Pasquale Rapo, Student aus Bisaccia.«

»Ah, so habe ich Ihnen als meinem Retter zu danken, Signor Rapo!«, rief Arabella, sich lebhaft erhebend und ihm die Hand reichend, wobei ihr Blick den bleichen Leonhardt streifte. »Sie sind mir völlig fremd, von dieser Stunde an nenne ich Sie meinen Freund und Bruder, habe ich Ihnen doch mehr als mein Leben zu danken.«

»Signor Rapo, ich grüße Sie herzlich«, sprach der alte Arzt, sich ebenfalls mit italienischer Lebhaftigkeit erhebend, »ich war oft in Avellino, wo der Name Rapo aus Bisaccia einen guten Klang hat. Man wusste mir dort viel von den schönen Töchtern der Familie Rapo zu erzählen.«

»Der Himmel beglückte mich mit fünf ebenso schönen und liebenswürdigen, wie tugendhaften Schwestern«, versetzte der Student mit einer graziösen Verbeugung. »Ah, teure Signorina, Sie erinnern mich lebhaft an meine geliebte Schwester Seraphine, und mit dieser Erinnerung zieht es mich mächtig nach der Heimat zurück. Sie erlauben, dass ich mich in der nächsten Stunde empfehle? Signor Leonardi wird mit Freuden Ihnen jeden Beistand leihen.«

»Sie wollen schon wieder fort, mich jetzt verlassen?«, rief Arabella in leidenschaftlicher Angst. »Nicht doch, Signor Rapo, wenn meine Bitte etwas gilt bei Ihnen, dann bleiben Sie noch einige Zeit, bis mein armer Oheim wieder hergestellt ist. Ihre liebenswürdige Schwester Seraphine wird ebenfalls hierher kommen, um auch meine Freundin, meine Schwester zu werden. Kein Wort weiter, Signor Rapo! Sie müssen in diesem Fall gehorchen!«

»O, Verblendung!«, murmelte Leonhardt zwischen den Zähnen, während sein düsterer Blick unverwandt am Boden haftete. Er konnte den Anblick des verhassten Nebenbuhlers, der sein Terrain mit Windeseile, ohne große Anstrengung zu erobern schien, nicht ertragen, Und Schmerz, Trauer, Abscheu, wie rasende Leidenschaft kämpften abwechselnd in seiner Brust miteinander.

»Ich werde gehorchen, Signorina!«, sagte Rapo lächelnd und versuchte es nun, dem aufmerksam zuhörenden Arzt eine kurze Schilderung des nächtlichen Überfalls, soweit er dabei beteiligt, zu geben.

Unwillkürlich schauten Arabella und der Arzt dabei auf Leonhardt, der sich mit seiner ganzen Dienerbegleitung, worunter ein Riese, wie Rapo spöttisch bemerkte, nicht der wenigen Räuber hatte erwehren und den Raub der Signorina nicht hätte verhindern können.

»Die Briganten sind schlau, doch nur im Hinterhalt gefährlich«, setzte der Student mit berechnender Bosheit hinzu. »Rücksichtsloser, offener Mut jagt sie in die Flucht, so bin ich allein mit allen vier fertig geworden. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit den Briganten handgemein geworden bin und ihnen irgendeine Beute entrissen habe.«

»Freilich, ein Deutscher muss in Italien, wo das Banditenwesen besonders seit König Franz’ Entthronung zum fashionablen Handwerk geworden ist, notwendig ein Stümper bleiben«, bemerkte Leonhardt, zum ersten Mal seit der Unterredung das Auge erhebend, »zumal er unmöglich, wie das Gegenteil ja nicht zu den Seltenheiten gehören soll, seine Freunde unter den löblichen Kämpfern jenes Königs zählen kann. Sollten Sie, mein Herr Student, übrigens trotz des Missgeschicks der gestrigen Nacht an meinem Mut zweifeln, dann bin ich bereit, Ihnen jederzeit Gelegenheit zur Überzeugung des Gegenteils zu geben.«

»Sie würden mich dadurch sehr verbinden, werter Signor«, versetzte Rapo mit verbindlichem Lächeln, während sein dunkler Blick einen Dolchstoß zu begleiten schien.

»O, Signor Leonardi, ist das Ihre Freundschaft für mich?«, rief Arabella mit unwillig blitzenden Augen, »bitte, unser würdiger Freund Dottore und auch ich sterben fast vor fieberhaftem Verlangen, die näheren Umstände zu hören, welche Ihre Ohnmacht und die Geistesstörung meines armen Oheims herbeigeführt haben.«

Leonhardt strich sich mit der feinen, schmalen Hand langsam über die Stirn, und sagte dann, sich besinnend: »Der Herr Marchese Cantonelli gab mir nicht die Erlaubnis, ein Gespräch, welches er als Geheimnis mir anvertraute, anderen mitzuteilen, Signorina! Verzeihen Sie deshalb, dass meine Aufklärungen nur sehr dürftiger Natur sein können. Was dem Arzt zu wissen nötig ist, darf ich sagen. Meine Ohnmacht und Herrn Marchese momentane Geistesstörung sind beides eine Folge jenes Gesprächs, das freilich, wie Sie nach den Wirkungen ermessen werden, sehr aufregender Natur gewesen ist. Im Übrigen gebieten mir Pflicht und Ehre, darüber zu schweigen.«

»Auch mir allein gegenüber, Signor Leonardi?«, fragte Arabella. Ein hässlicher Zug legte sich um den feinen Mund.

»Ich bin untröstlich, Signorina, auch Ihnen allein gegenüber schweigen zu müssen«, versetzte Leonhardt fest.

»Ich danke Ihnen für diesen Beweis von Zartgefühl, Signor!«, rief Arabella mit zuckenden Lippen und wutfunkelnden Augen, während ihre kleinen Hände sich ballten. »Ah, mein lieber Dottore!«, wandte sie sich an den alten Arzt, der ziemlich ratlos dreinschaute, »nun heilen Sie meinen armen Oheim mit dem deutschen Pflicht- und Ehrgefühl, tatsächlich, ein seltsames Gebräu, das unsere Apotheken sicherlich nicht kennen.«

»Da haben Sie recht, Signorina!«, rief Leonhardt bleich und düster, »jenes Gebräu, wie Sie es zu nennen belieben, kommt selten in Italien vor. Die Apotheken besitzen dafür einen Überfluss an Gift und Aderlasswerkzeugen. Ich sehe, dass meine Anwesenheit unter den gegenwärtigen Verhältnissen überflüssig ist. Sie erlauben deshalb, mich von Ihnen, wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen, da ich in mein Vaterland zurückkehren werde, zu verabschieden.«

Er verbeugte sich tief vor ihr und verließ rasch das Zimmer.

»Sie gestatten mir ebenfalls die Huld, teuerste Signorina, dem Deutschen auf einige Minuten zu folgen«, sprach Pasquale Rapo leise, »ich hätte zwei Worte in Ihrem Interesse mit ihm zu reden.«

»Sie werden sich keiner Gefahr aussetzen, Signor!«, rief Arabella mit zitternder Stimme besorgt aus, »geben Sie mir die Hand darauf, Ihr brausender Jugendmut könnte auch leicht Ihr Verderben werden.«

Sie reichte ihm die Hand, welche er leidenschaftlich küsste, und dann den Kopf stolz schüttelnd und mit einem siegreichen Blick auf den lächelnden Arzt hinauseilte.

Leonhardt stand vor dem Fenster und blickte hinaus auf das Getreibe der Toledostraße, wo alles in buntem Gewoge sich drängte und stieß, lachte und fluchte, wo gekocht und gebraten, gegessen und getrunken wurde, alles auf offener Straße im bunten, malerischen Durcheinander für den Nordländer eine wunderbare fremde Welt.

Der junge Deutsche sah von dem Treiben nichts, er hörte, in tiefen Gedanken versunken, auch nicht, dass Rapo ins Zimmer trat, der ihn einen Augenblick mit höhnischem Lächeln betrachtete.

»Auf ein Wort, Signor Leonardi!«, sprach er endlich. Erschreckt wandte dieser sich zu ihm um.

»Da Sie abzureisen gedenken«, fuhr Rapo rasch fort, »so wäre es wohl ehrenhaft, erst seine Geschäfte zu ordnen. Sie versprachen mir vorhin, Signor, eine Gelegenheit zu geben, die Zweifel an Ihrem persönlichen Mut.«

»Ah, ich hätte dieses Geschäft nicht vergessen«, rief Leonhardt mit blitzenden Augen, »indem ich den Ort bestimme, überlasse ich Ihnen die Wahl der Waffen.«

»Gut also, Ort?«

»Bei den Ruinen von Pompeji, die Waffen?«

»Degen. Wozu die alten Mauern mit unserem Knallen erschüttern? Zeit?«

»Mitternacht; wir nehmen den östlichsten Punkt von Pompeji.«

»Ich bin zufrieden«, entgegnete Rapo gleichgültig, indem er das Zimmer verließ.

»Du kannst unsere Sachen sogleich einpacken, Georg!«, sagte Leonhardt zu seinem eintretenden Diener, »noch in der nächsten Stunde werden wir den Palast Cantonelli verlassen.«

»Herr! Lieber gnädiger Herr! Ist das Ihr wirklicher Ernst?«, fragte Georg freudig überrascht.

»Sehe ich wie ein Scherzender aus, mein Freund? Lass das Gepäck zu unserem früheren Gasthof bringen. Ich habe bis Mitternacht noch einige Geschäfte zu ordnen, mit Tagesanbruch verlassen wir Neapel und kehren in unsere deutsche Heimat zurück. Georg, mein treuer Bursche, auch mich packt jetzt die Sehnsucht, welche du so lange im Herzen unterdrückt hast.«

Er ergriff seinen Hut und verließ den Palast, während der ehrliche Georg mit einer wahren freudigen Wut ans Einpacken ging und dabei alle Mühe hatte, seinen Jubel zu zügeln.

Da steckte Marco sein gelbes Banditengesicht durch die halb geöffnete Tür und flüsterte verwundert: »Wollt Ihr reisen, Tedesco?«

Georg nickte triumphierend und packte weiter.

»Da tut Ihr recht daran«, fuhr Marco fort, indem er vorsichtig ins Zimmer trat und die Tür hinter sich zudrückte. »Sage doch deinem Herrn, Corso, er möge so rasch wie es ihm nur immer möglich, Neapel verlassen. Seinem Leben drohe hier die größte Gefahr. Willst du mich nicht verraten?«

»Ach was, verraten?«, radebrechte Georg, »wer will meinem Herrn denn ans Leben? Pah, ich bin auch noch da.«

»Du kannst nichts machen gegen das heimliche Stilett des Banditen, und dieser ist schon gedungen. Wenn dein Herr freilich ein Zauberer ist.«

»Ja, im Malen und Musikmachen und dergleichen schönen Dingen.«

»Das kann ihn nicht schützen gegen einen Rippenstoß mit dem spitzen Eisen. Corpo di bacco! Ich habe meine Pflicht erfüllt, jetzt liegt es an dir, Corso!«

»Georg ist mein ehrlicher Name, der Teufel hole deinen welschen Corso!«

So fluchte der ehrliche Deutsche, während Marco sich kopfschüttelnd zurückzog und den schönen Tedesco, der ihm erst soeben noch ein Goldstück als Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, bereits in seinem Blut schwimmen sah.

Als Corso mit dem reichen Gepäck seines Herrn in Begleitung einiger Lazzaronis den Palast verlassen hatte, musste auch Marco sich zur Abreise rüsten, um hoch zu Ross zur Stadt Bisaccia in der Provinz Avellino, östlich von Neapel, sich zu begeben, dort, wo die Abruzzen dieser riesige Schlupfwinkel des Brigantentums, sich hinausziehen durch das ganze Königreich Neapel als mächtige Gebirgskette, um die schöne und tugendhafte Seraphine Rapo zur Hauptstadt Neapel in den prächtigen Palast Cantonelli zu geleiten.