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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 15

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Der Reinstein oder Regenstein

Nördlich von Blankenburg erheben sich aus sandiger Fläche mächtige, schroffe Sandsteinfelsen, welche den Namen Reinstein oder Regenstein führen. Einige Forscher meinen, dass diese Benennung von Reihe – im Niederdeutschen Rege – abzuleiten sei, da die Felsen in der Tat eine lange Reihe bilden. Andere wieder wollen den Namen von ragin, d. i. raten, herkommen lassen. Der Felsenberg soll nämlich den Germanen einst als Versammlungsort gedient haben.

Von großem Interesse sind die auf diesen Felsenbildungen noch erhaltenen Überreste der Burg Reinstein, deren Erbauung in ganz alte Zeiten zurück reicht und höchst mühevoll und schwierig gewesen sein muss. Die Gründer der Burg sind der Nachwelt nicht übermittelt, doch erzählt die Sage, dass der Bau schon von den Sachsen ausgeführt und dem tapferen Häuptling Hatebold aus Dankbarkeit zum Geschenk gemacht sei, weil er Melverich, den König der Thüringer, siegreich bekämpft hatte.

Mit unbeschreiblichem Fleiß und großer Ausdauer muss diese Feste hergestellt sein, denn alle Gemächer, die Kirche und die Gewölbe, welche als Gefängnisse dienten, sind unmittelbar in das harte Gestein hineingemeißelt. Dass man die Höhlungen schon vorgefunden und danach zweckentsprechend vervollständigt hat, ist wohl kaum anzunehmen.

Heinrich der Finkler ließ diese natürliche Felsenburg durch einen Anbau bedeutend erweitern. Nachdem dieselbe längere Zeit im Besitz der Gaugrafen gewesen war, kam sie an die Grafen von Blankenburg, ein Geschlecht, dessen eine Zweiglinie die Reinsteiner bilden. In den meisten Fehden des Mittelalters wird der Name Reinstein genannt, wohl ein Zeichen, wie allezeit kampfbereit dieses Geschlecht war. Manche Klagen über die Raublust und Wildheit desselben sind geführt worden.

Nachdem die Familie der Reinstein aber erloschen war, kam die Burg an die Grafen von Heimburg, später an Braunschweig und endlich wurde sie das Eigentum des Kurfürsten von Brandenburg, der den einstigen Rittersitz in eine Festung verwandelte. Unter dem Pulverturm ist noch der preußische Adler sichtbar.

Im Siebenjährigen Krieg eroberten die Franzosen die Festung, blieben indessen nur kurze Zeit im Besitz derselben, da ein Schuss das Brunnenrad getroffen hatte und Wassermangel die Eroberer zum Abzug nötigte. Danach aber wurde die Festung leider durch die Preußen zerstört, soweit das überhaupt möglich war, damit sie den Feinden keinerlei Vorteil mehr darbieten könne.

Auf dem Felsennest, einem mächtigen Zeugen bewegter Vergangenheit, trat nun Totenstille ein. Kein Waffengeklirr, kein Donnern der Geschütze unterbricht mehr die friedliche Stille, und innerhalb der Mauern, die einst von dem Jammern und Klagen der Gefangenen widerhallten, geht es heute weit gemütlicher zu: Dort hat ein Wirt eine Sommerwirtschaft errichtet. Herrliche Aussicht in die Ebene bietet sich, die besonders reizvoll an einem Vorsprung ist, welcher der verlorene Posten genannt wird.

Die Benennung stammt von einem eigentümlichen Vorfall, der sich an diesem Ort vor Jahren zugetragen hat. Damit die Feinde sich nicht heimlich durch den Vogelsang, ein am Fuße des Reinsteins liegendes Tal, der Festung nähern konnten, war an diesem Vorsprung ein Posten aufgestellt. Einst, bei heftigem Unwetter, suchte die Schildwache Schutz in dem nahestehenden Schilderhäuschen. Dieses aber wurde von einem Windstoß losgerissen und mitsamt dem Soldaten in die Tiefe geschleudert. Als man aber am nächsten Morgen erschreckt das Unglück wahrnahm und die Leiche des Zerschmetterten aufsuchen wollte, saß der Soldat zum Staunen aller wohlgemut auf einem Stein und harrte der Hilfe. Nur eine leichte Verletzung des Fußes hinderte ihn am Gehen.

In späteren Jahren hatte ein Jägerbursche sich aus dieser beträchtlichen Höhe von 1250 Fuß hinabgestürzt. Auch er ist mit dem Leben davongekommen.

In der Nähe des verlorenen Postens befindet sich ein Burgverlies, an welches sich folgende Sage knüpft.

Da noch die Reinsteiner im Besitz der Burg waren und arg als Raubritter hausten, hatte sich einer der Grafen die Tochter des Ritters von Heimburg zur Frau auserkoren. Das Edelfräulein aber hasste den grausamen und wilden Mann und weigerte sich, demselben anzugehören. Darüber erzürnt, sann dieser auf Rache oder auf einen Zufall, der ihm das Mädchen in die Hände führen werde. Er bewachte die Umgebung von Heimburg mit Argusaugen. Endlich glückte ihm sein abscheulicher Plan. Als das ahnungslose Edelfräulein sich einst allein eine Strecke von ihrem Schloss entfernt hatte, überfiel der Ritter die Erschreckte und entführte sie auf seine Burg.

Hier stellte er es Leonore frei, ob sie gutwillig seine Frau werden oder drunten im schauerlichen Burgverließ schmachten wolle. Auf die Hilfe ihrer Verwandten dürfe sie nicht hoffen, da keiner von ihrem Verbleib eine Ahnung habe.

Die Unglückliche wusste sehr wohl, welche Qualen im dumpfen Kerker ihrer warteten, aber trotzdem blieb sie beharrlich bei ihrer Weigerung; lieber tot, als diesem Verhassten angehören!

Schreckliche Tage folgten. Kein Lichtstrahl, kein Laut drang in das schauerliche Gewölbe. Leonore war es, als sei sie lebendig begraben. Durch eine kleine Öffnung erhielt sie Speise und Trank; genug, um ihr Leben zu fristen, zu wenig, um den nagenden Hunger zu stillen. Durch den Mangel an Nahrung hoffte der Graf, die Gefangene leichter zu beugen und zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Aber Leonore war fest entschlossen, das Äußerste zu ertragen. Sie hoffte noch immer auf irgendeinen rettenden Zufall – umsonst. Es war trotz aller Nachforschungen den Eltern unmöglich, ihren Aufenthalt zu erkunden. Die Tochter wurde längst als tot betrauert.

Aber der Wunsch, zu leben und wieder frei zu sein, ließ Leonore nicht verzagen. Tag und Nacht sann sie auf eine Möglichkeit, sich selbst zu befreien. Da, als die Herbststürme die Burg umbrausten, hörte die Gefangene an dem Rauschen, welches an ihr Ohr schlug, dass die Wand, die sie von draußen trennte, nicht allzu stark sein könne. Hätte sie nur ein Werkzeug gehabt, das Gestein zu durchbrechen. Plötzlich gedachte sie ihres Ringes, den ein selten großer Diamant schmückte. Sie wusste, welche Härte dieser Edelstein besitzt und verbuchte, mit demselben eine Vertiefung in die Mauer zu kratzen. Welch ein Hoffnungsstrahl! Das harte Gestein zerbröckelte unter dem eifrigen Schaben. Nun gönnte sie sich kaum die nötigste Ruhe und arbeitete mit dem Eifer der Verzweiflung an ihrem mühsamen Werk. Monatelang hatte sie sich schon geplagt. Endlich drang ein winzig kleiner Lichtschimmer in das finstere Gewölbe. Wonnetrunken über den lang entbehrten Anblick warf sich Leonore auf die Knie, dankte Gott inbrünstig für das bisherige Gelingen ihres Werkes und bat um weitere Hilfe. Sorgfältig wusste sie die Spuren ihrer Befreiungsarbeit vor jedermanns Auge zu verbergen. Als mehr denn ein Jahr vergangen war, konnte sie an die Flucht denken.

Eine mondhelle Nacht hatte die mutige Leonore zur Ausführung ihres Planes ausgesucht, damit sie nicht auf falsche Fährte gelange und abermals ihrem Verfolger in die Hände falle.

Mühsam zwängte sie sich durch die enge Öffnung und wollte eiligst weiterfliehen, als sie zu ihrem Entsetzen einen furchtbaren Abgrund vor sich erblickte. Kein anderer Ausweg war erreichbar. Was sollte die Geängstigte beginnen? Zurück in den Kerker? Abermals sich in die Gewalt ihres Peinigers begeben? Nein, lieber zerschmettert dort unten in der Tiefe liegen. Ein kurzes Gebet um Hilfe, und Leonore begann ihre gefährliche Wanderung. Sie klomm von Klippe zu Klippe. Die furchtbare Angst gab ihr die Kraft, das Unmögliche zu vollbringen. Wohl waren Hände und Knie verwundet vom scharfen Geklipp, aber die Fliehende achtete nicht der Schmerzen – vorwärts, nur vorwärts!

Endlich war das Tal erreicht. Mit Aufbietung der letzten Kräfte jagte Leonore fort, bis sie, zu Tode ermattet, vor den Toren ihrer väterlichen Burg zusammenbrach.

In die Freude der Eltern über die Rückkehr des längst totgeglaubten Kindes mischte sich der Zorn über die Untat des Ritters von Reinstein. Im Verein mit zahlreichen Verwandten und Freunden belagerten die Heimburger dessen Burg; allein trotz Aufbietung aller Kräfte war es ihnen unmöglich, das Felsennest einzunehmen. Ungerächt aber durfte die Grausamkeit des Ritters nicht bleiben. So griffen seine Feinde zur List. Die Belagerung wurde aufgehoben. Als der Reinsteiner das Abziehen der Truppe gewahrte, dem Frieden aber doch nicht recht traute, ließ er schleunigst die Bauern der Umgegend entbieten, ihm Lebensmittel zu bringen, damit, falls seine Feinde zurückkehren sollten, die Burg auf längere Zeit versorgt wäre.

Auf diesen Befehl hatten die anderen nur gewartet. Als Bauern verkleidet, führten sie selbst die Wagen in den Hof. Hier angelangt, warfen sie die Kittel ab, stachen die Wachen nieder und drangen in die Burg, den gehassten Reinsteiner zu ergreifen oder zu töten. Anfangs verbarg sich dieser in einem sicheren Gewölbe. Als er jedoch sah, dass alles verloren und seine Burg nicht mehr den Händen der Feinde zu entreißen sei, da dachte er an die Erhaltung des Lebens. In Betten verschnürt, ließ er sich von der steilsten Höhe des Berges hinabwinden. Da man nicht daran gedacht hatte, an diesem unwegsamen Ort Wachen auszustellen, gelang ihm die Flucht.

So entkam der Graf von Reinstein zwar den rächenden Händen seiner Feinde; aber arm und heimatlos war er noch lange Jahre umhergeirrt. Keiner weiß, wo der einst gefürchtete Ritter gestorben war. Seine Burg kam in den Besitz des Geschlechts der Heimburger. Als Leonore später einen braven und tapferen Ritter heiratete, wurde ihr die Burg zum Hochzeitsgeschenk gemacht. Wo sie einst so schweres Leid erduldete, lebte sie noch viele Jahre froh und glücklich.