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Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 13

Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 13
Ein Grab in Oregon

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 11.12.2018

Kurzinhalt:
Die Ankunft in Oregon hält für den Treck sowohl Gutes als auch Schlechtes bereit, neues Leben… und Tod.
Die neue Heimat der Siedler ist endlich erreicht; man steckt das Land ab, Häuser werden errichtet. Für Irene dagegen beginnt die Suche erst: die Suche nach Carl Dilger, ihrem Verlobten. Jacob bricht es fast das Herz, doch er hat versprochen, sie dabei zu unterstützen, auch wenn seine Gefühle Irene gegenüber mehr als nur freundschaftlich sind.
Der Tod ist auch hier in Oregon allgegenwärtig. Er trifft einen Mann, der für Jacob Adler zu einem guten Freund wurde. Und er scheint auch Irenes Suche zu beenden – als sie das Grab finden …

Leseprobe

Kapitel 1

Im Auftrag des Herrn

Ein kalter Wind, der von den Bergen kam und nach dem Schnee des nahen Winters roch, strich über den kleinen Friedhof, der auf einem Hügel am Ostrand des Städtchens Hoodsville lag. Er rupfte das letzte Laub von den Bäumen und wirbelte es so voller Lust herum, dass es angesichts des Schauplatzes fast obszön wirkte. Der einzige Besucher zu dieser frühen Morgenstunde ließ sich davon nicht ablenken. Er stand vor einem einsamen Grab, weit abseits der anderen Begräbnisstätten, und war so in Gedanken versunken, dass er die eisige Schärfe, die in sein Gesicht biss, nicht bemerkte. Es war ein trostloses Grab, das nur aus einer Erdaufschüttung und einem schlichten, aus Brettern zusammengenagelten Holzkreuz bestand. Man merkte gleich, dass es den Leuten in Hoodsville nur darum gegangen war, den Toten und die Erinnerung an ihn möglichst rasch zu begraben. Der hagere, ganz in Schwarz gekleidete Mann schwor sich, dass ihnen das noch leidtun sollte. Sie würden noch bereuen, den Mann, der hier begraben lag, umgebracht zu haben.

 

*

 

»Vorwärts jetzt, schiebt!«, rief Jacob Adler und zog gleichzeitig an den beiden Seilen, die um den schweren Baumstamm gebunden waren.

Unter ihm schoben Noah Koontz, Sam Kelley und dessen Schwager Jackson Harris den letzten der behauenen und zurechtgeschnittenen Stämme auf die beiden Balken.

Über ihnen standen Jacob, sein Freund Martin Bauer und der junge Halbindianer Billy Calhoun auf den Querbalken des neuen Blockhauses, das mit Ausnahme des Daches so gut wie fertig war. Nur dieser letzte Baumstamm musste noch in die Wand eingefügt werden. Die beiden Deutschen und das Halbblut zogen mit gleichmäßigen Bewegungen an den Seilen und holten den Baumstamm über die vom Boden schräg nach oben führenden Gleitbalken hoch.

Als der Baumstamm oben war, bereitete es Jacob, Martin und Billy nur wenig Mühe, ihn in die Wand einzufügen. Jacob hatte das Zimmermannshandwerk bei seinem Vater und später, auf seiner dreijährigen Wanderschaft durch Preußen, bei vielen anderen Meistern gelernt und beherrschte es gut. Er hatte auf einen genauen Zuschnitt der Kerben in den Stämmen geachtet, damit sie sich fest ineinanderfügten und auch ohne Nägel zusammenhielten. Nägel waren Mangelware in diesem Teil Oregons und wurden nur eingesetzt, wo es unbedingt nötig war.

Jubel brandete unten auf, als auch dieser letzte Stamm eingefügt war. Die Siedler, die zum Bau der Hütte aus dem ganzen Tal zusammengekommen waren, warfen ihre Hüte und Mützen in die Luft und klopften Noah Koontz auf die Schultern.

Stolz blickte der dunkelhäutige Farmer, dessen Heim dieses Haus werden sollte, auf die festen Wände, die Wind und Regen, Hagel und Schnee von seiner Familie abhalten sollten. Noch wohnten er, seine Frau und die fünf Kinder in dem durch ein angebautes Zelt erweiterten Planwagen, in dem sie die 2000 Meilen weite Reise auf dem Oregon Trail bewältigt hatten. In den vielen Monaten war der Prärieschoner für sie so etwas wie ein Heim geworden. Aber nun, wo der Winter nicht mehr fern war, freuten sie sich doch auf ihr Haus.

Auch Jacob spürte das Herannahen des Winters, als er oben auf den Baumstämmen kniete und sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn wischte. Der Tag war für ihn mit harter Arbeit angefüllt gewesen, und er schwitzte. Doch er fror zugleich, als er den immer wieder auffrischenden Eiswind spürte, der von den Bergen kam. Jacob roch förmlich den Schnee, der bald auf Abners Hope, wie die Siedler ihre Siedlung genannt hatten, fallen würde.

Der junge Deutsche war sich sicher, dass er sich nicht täuschte. Er hatte eine Nase dafür. Wie damals, als er den überraschenden Wintereinbruch in den Rocky Mountains schon vorher gespürt hatte.

Zum Glück war der Schnee, der im Felsengebirge fiel, nach ein paar Tagen wieder geschmolzen, sodass der Treck, der sich in das von einem geheimnisvollen Indianervolk bewohnte Tal der heißen Wasser geflüchtet hatte, seine Reise fortsetzen konnte. Den Winter im Nacken und den Hungertod vor Augen, den ein Einschneien in den Bergen zur Folge haben würde, holten die Siedler das Letzte aus sich und ihren Zugtieren heraus. Und sie schafften es, die Rockies hinter sich zu bringen, ehe der Winter sich endgültig zwischen den schroffen Gebirgen niederließ.

Inzwischen musste überall dort oben Schnee liegen. Und bald würde er auch in dem fruchtbaren Tal fallen, in dem die Siedler ihre neue Heimat, ihr Gelobtes Land, wie es Abner Zachary genannt hatte, gefunden hatten.

Zu Ehren des alten Predigers und Treck-Captains, der am Rand des Oregon Trails in den Bergen begraben lag, hatten die Siedler ihre Niederlassung Abners Hope getauft – Abners Hoffnung. Seine Hoffnung war es gewesen, in Oregon eine Stadt zu gründen, in der Weiße und Schwarze, Menschen jeder Hautfarbe und jeder Religion, im friedlichen Einvernehmen und in Freiheit zusammenlebten. Der alte Zachary und die Menschen, die ihn auf der langen, gefahrvollen Reise begleiteten, hatten genug von der in vielen Staaten Nordamerikas erlaubten Sklaverei.

Zwar tobte derzeit ein blutiger Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten, in dem auch um die Aufhebung der Sklaverei gefochten wurde. Aber dieses Ziel lag noch in weiter Ferne. Noch war selbst in einigen Staaten des Nordens die Sklaverei erlaubt. Und Präsident Abraham Lincolns Proklamation zur Sklavenbefreiung betraf nur die feindlichen Südstaaten. Lincoln hatte so handeln müssen, um die Verbündeten nicht zu verprellen.

Jacob hoffte, dass sich der Traum des Predigers – der Traum dieser Menschen hier – erfüllte. Er hatte alles in seiner Macht stehende getan, um dazu beizutragen. Nach Zacharys Tod hatte Jacob als neuer Captain den Treck geführt.

Hart hatte ihn der Verlust der sieben Wagen getroffen, die im Geistercanyon unter einer Steinlawine begraben lagen. Und mit ihnen sieben Siedlerfamilien. Sie hatten nicht länger unter Jacobs Führung auf dem Oregon Trail fahren wollen, sondern hatten sich vom übrigen Treck getrennt, um den California Trail zu nehmen. Die Berichte von großen Goldfunden in Kalifornien hatten ihnen den Kopf verdreht – und sie ins Verderben geführt.

Aber die anderen Siedler, die ihr Leben Jacob anvertrauten, hatte er durchgebracht, ohne auch nur einen Wagen und – was weit wichtiger war – ein Menschenleben zu verlieren. Dreißig Wagen waren vor knapp einem halben Jahr von Kansas City nach Oregon aufgebrochen. Zweiundzwanzig hatten das Ziel erreicht.

Jacob hatte auch das andere Versprechen gehalten, das er Abner Zachary gegeben hatte. Der Zimmermann hatte den Siedlern beim Bau ihrer Häuser tatkräftig zur Seite gestanden. Und es hatte ihm Spaß gemacht, nach vielen Monaten endlich wieder seinen Beruf auszuüben.

Gleichzeitig hatte es ihn schmerzlich daran erinnert, dass sein eigentliches Ziel noch weit entfernt lag. Er wollte nach Texas, um seinen Vater zu suchen, den Zimmermannsmeister Heinrich Adler. Vater und Jacobs Geschwister lebten vermutlich auf der Plantage von Jacobs Onkel Nathan Berger. Und selbst diese Aufgabe konnte er erst in Angriff nehmen, wenn er Carl Dilger gefunden hatte.

Sein Blick wanderte nach unten, wo die Frauen unter einem großen Zeltdach das Festmahl zubereiteten, das es zur Feier der Hauserrichtung geben sollte. Irene Sommer rührte in einem großen, dampfenden Kessel herum und behielt dabei ihren kleinen Sohn Jamie im Auge, der friedlich in einem mit warmen, weichen Decken ausgeschlagenen Korb schlief.

Jacob empfand für die beiden fast wie für seine eigene Frau und sein eigenes Kind. Aber er beherrschte seine Gefühle. Es durfte nicht sein. Carl Dilger war Jamies Vater und der Mann, den Irene heiraten wollte. Sie war nach Amerika ausgewandert, um zu ihm zu kommen. Und Jacob wollte sicherstellen, dass dies gelang.

Auch wenn es ihn schmerzte. Er tat es für Irene und das Kind.

Allerdings fragte er sich immer wieder, wie sie Dilger finden sollten. Unterwegs hatten sie stets ein klares Ziel vor Augen gehabt: Oregon. Aber jetzt, wo sie das fruchtbare Land am Pazifik erreicht hatten, schien ihm die Aufgabe, Dilger zu finden, auf einmal nicht zu bewältigen zu sein.

Sie wussten aus dem Brief, den Dilger in New York für Irene deponiert hatte, nur, dass er nach Oregon wollte. Aber was nutzte das? Das weite Amerika war ganz anders als das kleine, enge Europa. Jacob und Irene konnten ihr ganzes Leben lang durch Oregon streifen, ohne den Gesuchten zu finden, der sich vielleicht im nächsten Tal aufhielt.

Auch Irene schien das immer stärker zu erkennen, und Jacob begann, sich Sorgen um sie zu machen. Wann immer ein Fremder nach Abners Hope kam, bestürmte ihn Irene sofort mit der Frage nach Dilger. Aber bislang hatte sie niemanden getroffen, der auch nur von ihm gehört hatte. Jedes Mal verwand sie die enttäuschende Auskunft schwerer. Vor wenigen Tagen erst, als ein fahrender Händler mit seinem Wagen durch das Tal gekommen war, hatte die junge Frau fast einen Zusammenbruch erlitten, als auch der weit gereiste Mann nichts von Dilger wusste. Er hatte Irene versprochen, sich wegen Dilger umzuhören, bevor er weiter nach Norden gefahren war.

Auch Jacob hatte Irene ein Versprechen gegeben, um sie ein wenig aufzurichten. Er wollte selbst losziehen und versuchen, etwas über Dilger in Erfahrung zu bringen. Er wusste allerdings noch nicht, wie er das anstellen und wo er damit beginnen sollte.

Bald würde er es wissen müssen. Noah Koontz’ Haus war das letzte, das es nach vielen Wochen harter Arbeit zu errichten galt. Die Siedler hatten bis zum Umfallen geschuftet, Land gerodet, Baumstämme gefällt und zugeschnitten. Als alles so weit war, wurde seit drei Wochen nichts anderes getan, als jeden Tag ein Haus zu bauen. In großer Zahl fanden sich die Menschen zu dieser Aufgabe zusammen.

Heute waren fast alle gekommen, um den Bau des letzten Blockhauses und damit die Fertigstellung ihrer über das ganze Tal verstreuten Siedlung bei einem Festmahl zu feiern. Natürlich war vieles an den eilends erstellten Blockhäusern noch ausbaubedürftig. Aber die Häuser würden ausreichen, um ihre Bewohner über den ersten Winter zu bringen. Oregon hatte ein verhältnismäßig mildes Klima, sodass die Siedler darauf hoffen durften, nicht völlig einzuschneien, wie es ihnen fast in den Rocky Mountains widerfahren wäre, hätte sie der Indianerhäuptling Mondauge nicht ins Tal der heißen Wasser geführt.

Die vier Wände von Noah Koontz’ Haus standen gegen Mittag. Nun machte sich Jacob nach einer kleinen Rast daran, mit tatkräftiger Hilfe das Dach aus Holzsparren zu errichten, die auf unbehauene Stämme gesetzt wurden. Ein anderer Teil der Männer baute derweil den Kamin und zog den Schornstein hoch. Beides wurde aus Reisig errichtet und innen wie außen mit einer dicken Lehmschicht verschmiert.

Zwei Stunden vor Sonnenuntergang war das Haus fertig. Manch einer aus dem Osten der Vereinigten Staaten hätte vielleicht die Nase gerümpft über die aus groben Holzstämmen errichtete Behausung, die noch nicht einmal richtige Fenster hatte, weil es in Abners Hope keine Glasscheiben gab. Aber einfache, nachts und bei schlechtem Wetter verschließbare Luken taten es auch und sorgten zudem im Sommer für frische Luft. Im nächsten Winter würde Noah Koontz vielleicht schon Scheiben eingesetzt haben, sobald der Farmer mit seiner Ernte genug verdient hatte, um sich diesen Luxus leisten zu können. Von den Männern und Frauen aus Abners Hope rümpfte niemand die Nase, denn niemand besaß eine bessere Unterkunft. Ganz im Gegenteil, jeder war stolz auf sein mit eigener Hände Arbeit geschaffenes Blockhaus.

Als Jacob vom Dach kletterte, wurde er von einem dichten Menschenknäuel empfangen und in die Luft gehoben. Die Männer ließen den Zimmermann, der in den vergangenen drei Wochen so hart gearbeitet hatte wie kein anderer von ihnen, hochleben und trugen ihn dann auf ihren Schultern zu dem großen Zelt, wo er die riesige Obsttorte anschneiden sollte, die Mrs. Koontz und ihre Töchter aus eingemachten Früchten gebacken hatten. Die leckere Süßspeise fand reißenden Absatz. Dutzende von Händen streckten sich Jacob entgegen, sobald er ein neues Stück abgeschnitten hatte.

Als schon drei Viertel der Torte weg waren und Jacob sich mit einem besonders großen Stück umdrehte, sah er zu seiner Überraschung nur die Rücken der Leute. Niemand schien an dem Stück Torte interessiert zu sein. Dann erblickte er auch den Grund: fünf Fremde, die langsam auf Blockhaus und Zelt zugeritten kamen.

Es waren raue, bärtige, abgerissene Gestalten, denen man auf den ersten Blick zusah, dass sie lange Zeit in der Wildnis zugebracht hatten. Wo ihre Gesichter nicht von wild wucherndem Bartgestrüpp verdeckt waren, war die Haut von der Sonne tief gebräunt.

Sie waren Mountain Men. Männer, die in den Rockies auf Pelzjagd gingen. Jacob erkannte das an ihrer Kleidung, bei der Felle und Wildleder überwogen. Und an der Last ihrer Packtiere: frische Felle und Fallen.

Die Neuankömmlinge hielten ihre Pferde und Maultiere vor der Masse der Siedler an und grüßten.

»Ich habe schon gehört, dass hier eine Siedlung entstanden ist«, sagte laut ein wahrer Bär von einem Mann. »Aber ich wusste nicht, dass es so viele Leute sind. Da werden wir unsere Felle vielleicht alle los.«

Er war weit mehr als sechs Fuß groß und fast ebenso breit. Vielleicht wirkte er auch nur wegen seiner dicken Bärenfelljacke und dem voluminösen, schwarzen Vollbart so wuchtig, überlegte Jacob. Jedenfalls hatte der große Braune, den er ritt, ganz schön an ihm zu tragen.

»Mit Ihren Fellen werden Sie bei uns nicht viel Glück haben, Mister«, erwiderte Sam Kelley. »Bis wir die erste Ernte eingefahren haben, sind die Dollars bei uns knapp.«

Der große Jäger sah enttäuscht aus.

»Schade. Bei meinen Freunden und mir sind die Dollars nämlich auch knapp. Die Jagd war hart und wenig ergiebig in diesem Jahr.« Er drehte sich um und zeigte auf die Packtiere. »Schließlich hatten wir doch noch einigen Erfolg. Wir hatten gehofft, bei euch etwas von unserer Ware loszuwerden.«

»Vielleicht möchten Sie trotzdem unsere Gäste sein«, bot Noah Koontz an. »Auch wenn wir nicht viel Geld haben, Essen und Trinken sind reichlich vorhanden.«

Das Gesicht des Bärtigen hellte sich auf. »Das ist ein Wort, Mister. Und ein Angebot, das wir nicht ablehnen werden.«

Die fünf Fremden stiegen aus den Sätteln und waren bald von Siedlern umringt. Fremde bedeuteten Neuigkeiten und wurden deshalb mit Fragen bestürmt.

Irene bewegte sich, Jamie auf dem Arm, zielstrebig auf den großen Bärtigen zu, und Jacob folgte ihr. Er wusste, was sie den Jäger fragen würde.

»Darf ich Sie einen Augenblick stören, Mister?«, erkundigte sich Irene und stellte sich vor.

Der Bärtige, der gerade das letzte Stück von Mrs. Koontzs Obsttorte mit großen Bissen verschlang, musterte die Frau mit sichtlichem Wohlgefallen und sagte: »Freut mich, Mrs. Sommer. Ich heiße Joe Haslip, aber sagen Sie ruhig Black Joe zu mir. Das tun alle.« Dabei strich er mit der linken Hand über seinen mächtigen, schwarzen Bart und ließ keinen Zweifel daran, woher sein Spitzname stammte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Miss Sommer«, korrigierte Irene, »nicht Mrs.«

»Oh, Verzeihung, das wusste ich nicht«, meinte Black Joe, doch die Neuigkeit schien ihn nicht zu betrüben, ganz im Gegenteil. Jetzt musterte er Irene noch intensiver.

»Ich suche meinen … meinen Verlobten«, fuhr Irene fort. »Vielleicht haben Sie ihn getroffen oder von ihm gehört? Er heißt Carl, Carl Dilger.«

Mehrmals fuhr Haslip überlegend durch sein Bartgestrüpp und brummte schließlich: »Dilger, der Name sagt mir überhaupt nichts. Was macht er denn? Wo soll er sich aufhalten?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Irene unsicher und sah verschämt zu Boden. »Ich weiß nur, dass er nach Oregon wollte.«

Black Joe stemmte die Hände in die Hüften, was ihn noch massiger wirken ließ, und lachte lauthals los.

»Was denken Sie denn, wie groß Oregon ist, Miss? Wenn Sie nichts Genaueres wissen, werden Sie Ihren Verlobten niemals finden. Er kann in den Wallowa Mountains sein, in den Blue Mountains, in der Cascade Range oder den Coast Ranges. Vielleicht ist er am Columbia River, am Klamath Lake, am Summer Lake, am Lake Albert oder am Malheur Lake. Oder irgendwo in den weiten Landstrichen dazwischen.« Er breitete die langen Arme aus. »Überall in diesem großen Land!«

Damit ließ er Irene stehen und wandte sich wieder der reichlich gedeckten Tafel zu.

Jacob trat vor Irene und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter.

»Mach dir nichts aus seinen Worten. Wir sind so weit gekommen. Jetzt werden wir Carl auch finden!«

Als ihn Irene ansah, bemerkte Jacob das feuchte Glitzern in ihren grünblauen Augen. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen, und zwang ein Lächeln auf ihr ebenmäßiges, schönes Gesicht, das, umrahmt von in der Sonne golden schimmernden Locken, Jacob immer wieder aufs Neue in seinen Bann schlug.

»Sicher, Jacob«, seufzte sie und lächelte tapfer. »Wir werden ihn schon finden.«

Aus ihrer Stimme sprachen Müdigkeit und Enttäuschung, die in einem krassen Gegensatz zu ihren Worten standen. Jacob hatte den Eindruck, das Lächeln würde aus ihrem Gesicht verschwinden und Irene würde in Tränen ausbrechen, sobald sie sich von ihm abwandte.

Er konnte nicht anders, als den Griff um ihre Schulter zu verstärken, sie dichter zu sich zu ziehen und zu sagen: »Wir werden Carl finden, Irene. Das verspreche ich dir!«

Jacob war ein Mann, der stets sein Wort hielt. Er fragte sich jedoch ernsthaft, ob das in diesem Fall auch so sein würde.

Quelle:

  • Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 13. Bastei Verlag. Köln. 11.12.2018