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Der Detektiv – Liu Sings Geheimnis – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Liu Sings Geheimnis
3. Kapitel 

Ich saß im weichen, tiefen Ledersessel hinter ihm und wartete. Ich wusste, dass er nun bald sprechen würde.

Heute spielte er nicht Wagner wie zumeist. Heute war es etwas, das ich noch nie gehört hatte. Es war eine seltsame, eintönige Melodie. Etwas Trostloses, Müdes, Verzweifeltes sprach aus den Klängen.

Dann wandte er halb den Kopf: »Es ist die Komposition eines Gedichts des indischen Nationaldichters ben Tagore. Das Gedicht heißt: Indiens Schicksal. Komponiert hat es ebenfalls ein Hindu. Was halten Sie von der Depesche, Schraut?«

»Ich vermag darüber nichts …«

»Schade!«, unterbrach er mich. »Ich hätte mich gefreut, wenn auch Sie dahintergekommen wären, dass sie gefälscht ist. Es fehlte die blaue Siegelmarke, mit der alle Depeschen zugeklebt werden. Sie war durch ein Stück blaugestreiftes Papier ersetzt. Außerdem war die Abgangs- und Ankunftszeit falsch ausgefüllt. Es hatte dies einer getan, der im Postdienst nicht genügend bewandert war. Wer wohl?«

»Marawatha?«, meinte ich zögernd.

Harst erhob sich schnell, rollte einen zweiten Sessel neben den meinen, fasste in die Westentasche und reichte mir ein Stückchen blaugraues gestreiftes Papier.

»Dies sollte die Siegelmarke ersetzen, Schraut«, sagte er und kniff die Augen bis auf einen schmalen Spalt zusammen.

»Sie glauben, Marawatha ist der Fälscher? Ausgeschlossen! Dazu ist er denn doch zu fremd in Deutschland, zu wenig vertraut mit Depeschen und so weiter. Ich habe ihn vorhin nicht nur deshalb hier festgehalten, um ihn die Depesche vergessen zu lassen. Nein, ich wollte ihn auch aushorchen. Er steht seit einem halben Jahr in Malzahns Dienst, ist vorher aber schon in Indien Aufseher der Dienerschaft eines Deutschen gewesen, wie wir von ihm hörten. Nein, er war es nicht …« Eine lange Pause. Dann sehr leise und mit einer gewissen Erregung: »Es kann nur Malzahn selbst gewesen sein, der gar nicht verreist sein dürfte, sondern sich hier in Berlin heimlich aufhält und … und … Ha, Schraut, beenden Sie den Satz …«

Ich dachte angestrengt nach, sogar sehr angestrengt. Ich wollte mich nicht wieder einmal durch vollständiges Versagen meiner an sich schon geringen Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, blamieren. Dann kam mir die Erleuchtung.

»Malzahn sucht hier in aller Stille die Leichenräuber«, platzte ich heraus und schaute Harst an, wie der Schüler den Lehrer anschauen wird, wenn es sich um eine wichtige Prüfung handelt.

Harst nickte ganz wenig, langte in die Tasche und holte sein goldenes Zigarettenetui hervor. Das Anzünden einer seiner Mirakulum, dieser köstlichen Zigaretten, die er nur für sich selbst nach eigenen Angaben herstellen ließ, geschah bei ihm stets mit einer gewissen Feierlichkeit. Er blies wie immer tadellose Rauchringe in die Luft, sagte dann leise, und seine Augen waren wieder ganz weit geöffnet: »Ich will Sie nicht länger auf die Examensfolter spannen. Ich weiß ja sehr gut, wie einem dabei zumute ist. Als früherer Assessor weiß ich es. Stellen Sie sich vor: Malzahn setzt für die Wiederherbeischaffung des Toten erst 3.000, dann l0.000, jetzt sogar 50.000 Mark Belohnung aus. Und der Tote ist nur ein chinesischer Koch, der erst kurze Zeit bei ihm dient. Ist das nicht sehr, sehr merkwürdig? Merkwürdig selbst für einen hundertfachen Millionär?«

»Allerdings. Das ist mir auch schon ein wenig eigenartig erschienen«, erklärte ich der Wahrheit gemäß.

»Nun weiter«, meinte Harst bedächtig. »Malzahn ist jetzt selbst für seinen intimsten Freund, für Doktor Bruchfeld, in dem Karst gereist. Wir benutzen die gute Gelegenheit in der vergangenen Nacht zu einer Besichtigung des Fensters, durch das die Diebe ihren Weg genommen haben. Ich stelle fest – geben Sie wohl acht, Schraut! Dass das Gitter des Fensters nicht von außen, sondern von innen durchgesägt worden ist, das heißt, die sogenannten Leichenräuber waren bereits im Totenzimmer, als sie ihre Stahlsäge benutzen.«

»Ah, das gibt ja dem bisherigen Bild ein ganz anderes Aussehen«, rief ich, geradezu begeistert über meines Brotherrn nie zu betrügende Augen.

»Freilich, ein ganz anderes!«, fuhr Harst fort. »Wenn die Offiziellen und die Leute von Phönix nicht von vornherein den Fehler begangen hätten, an diesen Leichenraub wie an ein Evangelium zu glauben, würden sie dem Gitter wohl mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben. An zwei Schnittflächen konnte man noch deutlich sehen, dass die Säge von innen zunächst zwei Millimeter tiefer angesetzt worden war und dann höher gefasst hatte. Ein Blinder musste das fühlen. Man braucht gar keine Augen dazu. Hätten Sie sich das Gitter näher betrachtet, hätten Sie es sicherlich auch bemerkt.«

Ich nickte leicht, nur ganz schwach, denn dieses Blicken war eine Lüge. Ich hätte sicherlich nichts bemerkt.

»Dann der Turm«, hatte Harst ohne Pause hinzugefügt. »Eine braune Frauenhand wirft uns durch eine Luftklappe einen antiken Armreif, indische Arbeit, zu. Mein Herr Sekretär lässt sich dieser Armspange wegen einsperren. Und die Polizei meldet dann den Fund Marawatha als dem Vertreter Malzahns. Ich gebe zu: Erst ärgerte ich mich über Ihr kleines Intermezzo mit der Polizei. Jetzt bin ich sehr zufrieden damit, sehr sogar, denn das Armband hat Malzahn zu einer Dummheit verführt. Zunächst der indische Armreif selbst und die braune Hand. Es ist so ziemlich öffentliches Geheimnis, dass Malzahn mehrere blendend schöne Orientalinnen mit nach Europa gebracht hat und bei sich beherbergt, auch zwei Neger, Eunuchen, richtige Haremswächter. Sie haben doch die eingeritzten Worte gefunden, Schraut, nicht wahr?«

»Worte? Nur ein Ritbilf

»Oh, aber das sind doch natürlich zwei! Die arme Gefangene kann nur ganz wenig Deutsch, und noch weniger ist sie in der lateinischen Schrift als der gebräuchlicheren firm. Sie wollte schreiben: Bitt’ Hilfe oder Bitte Hilfe, und daraus wurde infolge Gebrauchs falscher Buchstaben Ritbilf! Jedenfalls war der Armreif also ein Notschrei! So, nun hätten wir das ganze Tatsachenmaterial bis auf meinen heutigen Morgenbesuch bei dem praktischen Arzt Doktor Rielinger in Halensee beisammen. In den Zeitungsberichten ist er erwähnt. Daher war es nicht schwer, mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit über meine Fragen von ihm Folgendes zu erfahren: Er ist nicht etwa Hausarzt bei Malzahn. Nein, dieser holt jedes Mal einen anderen Arzt, falls er für seine zahlreiche Dienerschaft einen Doktor braucht. Er selbst ist wohl nie krank gewesen, dieser Mann aus Muskeln, Sehnen und Gehirnmasse, ohne Nerven. Liu Sings Verletzung bestand in zwei Stichen am linken Zeigefinger. Die Stiche waren etwa ein Zentimeter voneinander entfernt. Als Rielinger nachmittags geholt wurde, war bereits der Arm schwarz und zu einem Klumpen angeschwollen. Der Chinese, der nur sehr wenig Englisch und kein Wort Deutsch kann, lag, halb bewusstlos da. Malzahn erklärte dem Arzt, seine Diener hätten ihm diese Vergiftung erst vor einer Stunde gemeldet. Rielinger erkannte sofort, dass Liu Sing nicht mehr zu retten war. Er meint, an der Spicknadelspitze hätte fraglos verweste Fleischreste gesessen, denen dieser rapide Verlauf der Vergiftung zuzuschreiben wäre. Nun, Rielinger ist jung und kennt keine Giftschlangenbisse. Ich wette, Liu Sings Spicknadel waren die Giftzähne einer ausgewachsenen Kobra, einer indischen Brillenschlange.« Er stand auf, setzte sich an den Flügel und begann ben Tagores Lied Das Schicksal Indiens zu spielen. Und zu diesen trostlosen Klängen passten recht gut die nun folgenden Sätze: »Malzahn hat durch seine Reisen die Gewohnheiten eines orientalischen Despoten angenommen. Sein Koch wird ihm aus irgendeinem Grund unbequem. Da in der Villa in Dahlem außer Jagdleoparden auch noch eine kleine Menagerie gehalten wird, dürfte Malzahn eine Kobra zur Verfügung gestanden haben. Er weiß es so einzurichten, dass sie den Chinesen beißt. Seine Diener, sämtlich Inder, sind ihm treu ergeben, besonders Marawatha. Er wird sie gut bezahlen, und er ist ihres Schweigens gewiss. Nur eine seiner Orientalinnen, die irgendwie die Wahrheit erfahren haben mag, fürchtet er, sperrt sie ganz oben in den Turm ein und lässt sie scharf bewachsen. Da wird die Leiche angeblich gestohlen. Bis hierher können wir ganz zwanglos uns ein Bild der Vorgänge konstruieren. Mit dem Leichenraub beginnen die Schwierigkeiten für uns. Wir wissen, dass die Fenstergitter von innen beseitigt sind, um diesen Raub vorzutäuschen. Wie kann man nun das, was wir von Malzahn und der Sache selbst wissen, weiter Glied an Glied zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen? Ich habe eine Theorie gefunden, die allem gerecht wird, was uns bekannt ist, lieber Schraut. Hören Sie also. Wozu der Leichenraub gleich in der Nacht nach Liu Sings Tod? Sehr einfach: Malzahn fürchtet eine Entdeckung des Mordes, ein ans Tageslicht kommen der Wahrheit durch ein böses Spiel des Zufalls. Er schafft den Toten daher schleunigst beiseite.

Nun ist er sicher, wähnt er, nun wird niemand mehr an eine Kobra denken können. Um ja jeden Verdacht von sich abzuwenden, er selbst könnte den Leichenraub inszeniert haben, geht er seines Erachtens sehr schlau vor: Ein toter Hammel und eine riesige Belohnung sind die Haupttricks dabei. Er tut, als läge ihm an seinem Koch weiß Gott nicht viel. Schmunzelnd wird er zugesehen haben, wie die Offiziellen und der Phönix sich abmühten. Dann verreist er, nachdem zwei Wochen verstrichen sind. In Wahrheit bleibt er aber in Berlin, da er sich noch immer nicht sicher genug fühlt und aus der Verborgenheit heraus beobachten will, ob nicht doch etwa jemand gegen ihn Argwohn geschöpft hat. Abermals vergehen zwei Wochen. Da wird Marawatha heute gemeldet, dass das Armband von mir gefunden worden sei – von mir, dem Liebhaberdetektiv, dessen Erfolge die ganze Presse beschäftigt haben und noch beschäftigen. Sofort setzt Marawatha sich mit seinem Herrn in Verbindung. Sie glauben nicht an diesen harmlosen Fund, sie ahnen, dass ich hinter ihnen her bin. Malzahn ersinnt die Depesche und Marawatha kommt zu uns. 50.000 Mark bietet Malzahn mir. Die Depesche lautete ja:

Hausmeister Marawatha, Villa Malzahn, Dahlem-Berlin. Sofort Detektiv Harst bitten, für 50.000 Mark unsere Sache zu übernehmen. Wohnt Blücherstraße, Schmargendorf. Malzahn. 

Er bietet mir diese Summe, als ob ich einer wäre, der Geld brauchte, der für Geld arbeitet! Das war ein Fehler! Er muss meine Verhältnisse kennen. Aber er wusste nicht, wie er sich an mich heranschlängeln könnte. Daher 50.000 Mark. Marawatha kommt, und seine Augen blinken zufrieden auf, als ich, absichtlich erkläre, ich hielte die Geschichte für aussichtslos. Haben Sie diese Veränderung seiner Pupillen bemerkt, Schraut? Natürlich doch! Er verschwindet! Trotzdem können wir damit rechnen, dass wir von Stund an scharf überwacht werden. Denn Malzahn wird mir nicht trauen! Wer einen Mord auf dem Gewissen hat und weiß, dass ein Harald Harst ein Armband mit der Inschrift Ritbilf (er wird sie fraglos bemerken und richtig bewerten) gefunden hat, der hat keine ruhige Minute mehr, der wird die arme Inderin schleunigst verschwinden lassen, der der Armreif gehört …« Er schlug ein paar traurige Mollakkorde an, stand auf, reckte sich und meinte: »Schraut, ist das Leben nicht wirklich lebenswert, wenn man wie wir in der kommenden Nacht, von Gefahren umlauert, abermals in den Park eindringen werden? Gibt es wohl etwas Aufregenderes als unsere Tätigkeit? Nein, alles andere dagegen ist Stumpfsinn! Ich spreche im Ernst. Übrigens wäre ich auch ohne Marawathas Besuch nochmals dort über die hohe Mauer geklettert. Ich fürchte nur, wir werden den Turm leer finden. Ich will mir auch nur Gewissheit verschaffen, ob meine Vermutung zutrifft und die Inderin weggebracht ist. Haben wir dies erledigt, suchen wir Liu Sings Leiche. Ich denke, wir werden sie finden …«

Er ging in der Bibliothek auf und ab, nahm plötzlich aus einem Bücherregal ein dickes Werk über Chemie heraus, schlug es dort auf, wo eine Zeitung zwischen die Seiten gelegt war, reichte es mir und meinte: »Lassen Sie sich von unserem tüchtigen Karl die Chemikalien geben und stellen Sie nach dieser Anweisung die sogenannten Nebelbomben her. Ich vermute, die Leoparden werden in dieser Nacht im Park frei umherstreifen. Und mit dem stinkenden, dicken Qualm dürften wir uns die gefleckten Katzen am leichtesten vom Leib halten. Abends verlassen wir dann getrennt das Haus, Schraut, verkleidet, selbstverständlich, und über die Nachbardächer. Dann brauchen wir keine Verfolger zu fürchten. Ich werde jetzt spazieren gehen …«

Seine Stimme war leiser, farbloser geworden, und sein Gesicht entspannte sich gleichsam.

»Ich habe Zeit genug, einmal wieder Margas Grab zu besuchen«, fuhr er mit einem halb unterdrückten Seufzer fort. »Es ist so schwer, so unendlich schwer, sie zu vergessen. Meine Brautzeit die Wochen, wo ich Marga Milden als die Ergänzung meines Ichs mein nennen durfte, war doch der Höhepunkt meines Lebens. Ihr Mörder wird ja demnächst abgeurteilt. Marga wird dadurch nicht wieder mein. Finden Sie nicht auch, Schraut, dass Zenta Brixen ihr etwas ähnlich sieht?«

Ah, also deshalb sein Interesse für dieses Mädchen, deren Vater nun als Flüchtling gehetzt durch die Meute der staatlichen Sicherheitsorgane irgendwo umherirrte.

Ich entgegnete der Wahrheit gemäß: »Gewiss, Herr Harst, eine geringe Ähnlichkeit ist vorhanden. Ich kenne Ihre Braut ja allerdings nur von Bildern her …«

Dann ging er. Ich ging an die Nebelbomben heran, versuchte mich zum ersten Mal als Chemiker. Die hauchdünnen Glasröhren, die Karl mitgebracht hatte, eigneten sich vorzüglich für diesen Zweck. Danach warf ich zur Probe hinten im Garten eines der Röhrchen auf die Erde. Es zerbrach sofort, die Chemikalien vermengten sich zischend, entwickelten graublaue, dichte Dämpfe, die der Wind langsam forttrug und die dann zwei von unseren Legehennen das Leben kosteten. Frau Harst sprach deshalb zwei Tage kein Wort mit mir, obwohl Harald mich warm in Schutz nahm.