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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 19

Jérôme Fandor

Schnellen Schrittes, pfeifend und unbeschwerten Herzens öffnete Juve die Tür des kleinen Zimmers, in dem er Charles Rambert verlassen hatte, und blickte auf den schlafenden Jungen.

»Es ist schön, jung zu sein«, bemerkte er gegenüber dem Mann, den er als Wächter zurückgelassen hatte. »Dieser Junge stürzt sich in die wildesten Abenteuer, streift das Schafott um einen Zentimeter, und doch schläft er nach einer späten Nacht so friedlich wie jeder Kanzler der Ehrenlegion!« Er rüttelte den Jungen behutsam mit einer Hand. »Steh auf, Faulpelz! Es ist zehn Uhr: Höchste Zeit für mich, dich mitzunehmen.«

»Wohin?«, fragte der unglückliche Junge und rieb sich die Augen.

»Es besteht kein Zweifel daran, dass Neugierde deine beste Sünde ist«, antwortete Juve geheimnisvoll. »Nun, wir haben eine Viertelstunde Fahrt vor uns. Aber du wirst nicht ins Gefängnis gehen. Ich werde dich mit nach Hause nehmen!«

 

*

 

Juve hatte Kragen und Krawatte abgenommen und eine alte Jacke angezogen, eine große Schüssel Brot und Milch vor Charles Rambert gestellt und genoss sein eigenes Frühstück.

»Ich wollte vorhin keine Fragen beantworten«, sagte er, »weil ich es hasse, in Taxis zu reden, in denen ich an der Seite eines Mannes sitzen muss und ihn nicht sehen oder hören kann, was er sagt. Aber jetzt, wo wir uns hier behaglich und bequem fühlen, habe ich kein Recht, dich länger warten zu lassen, und ich gebe dir ein paar gute Neuigkeiten.«

»Behaglich« und »bequem« waren die richtigen Worte, um Juves Privatwohnung zu beschreiben. Der Detektiv hatte eine ehrenhafte und lukrative Position in seinem Beruf erlangt und hatte sich, wie er im Laufe seiner Arbeit allen möglichen Gefahren und Entbehrungen ausgesetzt war, dadurch entschädigt, dass er ein völlig befriedigendes, wenn nicht sogar luxuriöses Nest baute, in welchem er sich nach seiner Arbeit erholen konnte.

Als er sein Frühstück beendet hatte, zündete er sich eine große Zigarre an und sank in einen Sessel, wobei er seine Hände hinter seinem Kopf kreuzte. Er blickte immer wieder auf Charles Rambert, der noch völlig verwirrt und von dieser plötzlichen Freundlichkeit halb verängstigt war und nicht wusste, ob er ein Gefangener war oder nicht.

»Ich werde dir eine gute Nachricht geben, nämlich, dass du unschuldig in der Langrune-Affäre als Charles Rambert sowie unschuldig in der Danidoff-Affäre als Mademoiselle Jeanne bist. Ich brauche nichts über die Rauferei gestern Abend zu sagen, bei dem du eine noch vornehmere Rolle gespielt hast«

«Warum teilen Sie mir das mit?«, fragte Charles Rambert nervös. «Natürlich weiß ich, dass ich Prinzessin Sonia Danidoff nicht ausgeraubt habe; aber wie haben Sie mich gestern Abend erkannt, und wie haben Sie herausgefunden, dass ich Mademoiselle Jeanne bin?«

Juve lächelte und schüttelte eine Haarsträhne zurück, die über seine Augen fiel.

»Hör zu, mein Junge: Glaubst du, dass dieser gewaltige Schlag, den du dem exzellenten Henri Verbier zugefügt hast, als er mit Mademoiselle Jeanne geknutscht hat, mich nicht dazu bringen könnte, entschlossen herauszufinden, wer diese junge Dame war, welche die Stärke eines Mannes hatte?«

Die Anspielung machte Charles Rambert sehr unruhig.

»Aber das erklärt nicht, wie Sie mich heute Abend als Paulus erkannt haben. Ich habe Sie als Henri Verbier im Hotel erkannt, aber ich hatte keine Ahnung, dass Sie es gestern Abend waren.«

»Das ist gar nichts«, sagte Juve mit einem Kopfschütteln. »Du wirst ein für allemal verstehen, dass, wenn ich jemandem einmal ins Gesicht geschaut habe, er ein ungewöhnlich kluger Kerl sein muss, um mir danach durch eine Verkleidung zu entkommen. Du weißt nicht, wie man sich zurechtmacht, aber ich schon. Deshalb habe ich dich mitgenommen und nicht du mich.«

»Was lässt Sie glauben, dass ich Prinzessin Sonia Danidoff nicht ausgeraubt habe?«, fragte Charles Rambert nach einer Pause. »Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass alles darauf hindeutet, dass ich der Dieb bin.«

»Nicht ganz so«, antwortete Juve freundlich. »Es gibt ein oder zwei Dinge, die du nicht weißt, und ich werde dir eines davon sagen. Die Prinzessin wurde von dem Mann ausgeraubt, der auch Madame Van den Rosen ausgeraubt hat, nicht wahr? Nun, Madame Van den Rosen wurde Opfer eines Einbruchs. Einige der Möbel in ihrem Zimmer wurden aufgebrochen. Die Tests, die ich heute Morgen mit dem Kraftmesser durchgeführt habe, haben mir gezeigt, dass du nicht stark genug bist, um diese Brüche verursacht zu haben.«

»Nicht stark genug?«, gab Charles Rambert von sich.

»Nein. Ich habe dir damals gesagt, dass deine Unschuld bewiesen werden würde, wenn du stark genug wärst, aber ich habe das gesagt, um dich daran zu hindern, Streiche zu spielen und nicht all deine Kraft zu entfalten. Tatsächlich war es deine relative Schwäche, die dich gerettet hat. Die Kraftmessertests und die Zahlen, die ich soeben erhalten habe, beweisen absolut, dass du unschuldig am Überfall auf Van den Rosen und damit am Überfall auf Sonia Danidoff.«

Wieder dachte der Junge für ein oder zwei Minuten nach.

»Aber Sie wussten nicht, wer ich bin, als Sie ins Hotel kamen, oder? Und deshalb hatten Sie keinen Verdacht, dass ich Charles Rambert bin? Das ist wahr, nicht wahr? Wie haben Sie es erfahren? Ich sollte eigentlich tot sein.«

»Das war ein kinderleichter Job«, antwortete Juve. »Ich habe die anthropometrischen Aufzeichnungen der Leiche, die an deiner statt begraben worden war, erhalten. Ich plante, symmetrische Fotos von dir in deinem Charakter als Mademoiselle Jeanne zu machen, wie ich es heute im Hauptquartier tat. Meine erste Aufgabe war es, Mademoiselle Jeanne die Hand zu reichen. Ich fand sie sehr bald wieder, wie ich erwartet hatte, in einen Mann verwandelt und in der verrufensten Gesellschaft lebend. Ich habe jede Menge recherchiert. Als ich gestern Abend zu Saint-Anthony’s Pig ging, wusste ich, dass es eine unbekannte Person war, die an deiner Stelle begraben worden war; dass Paul Mademoiselle Jeanne war und Mademoiselle Jeanne Charles Rambert. Es war meine Absicht, dich zu verhaften, um mithilfe des Kraftmessers eindeutig festzustellen, dass du an den Verbrechen an der Marquise de Langrune und Prinzessin Danidoff unschuldig bist.«

»Was Sie mir über den Kraftmesser sagen, erklärt, woher Sie wissen, dass ich nicht der Mann bin, der den Raub im Hotel begangen hat, sondern was mich in Ihren Augen vom Mord an Madame Langrune freispricht?«

»Du meine Güte!«, erwiderte Juve, »du redest, als ob du beweisen wolltest, dass du schuldig bist. Nun, mein Junge, es ist die gleiche Geschichte wie die andere. Der Mann, der die Marquise de Langrune ermordet hat, hat alles zerstört, und der Kraftmesser hat bewiesen, dass du nicht stark genug bist, um dieser Mann zu sein.«

»Wenn ich damals wütend gewesen wäre …«, sagte Charles Rambert. Sein Zögern und sein Ton verrieten seine Angst vor der Antwort. »… hätte ich damals stark genug sein können? Könnte ich diese Verbrechen begangen haben, ohne etwas davon zu wissen?«

Doch Juve schüttelte den Kopf.

»Ich weiß: Du beziehst dich auf deine Mutter und wirst von der Vorstellung verfolgt, dass du durch einige erbliche Schwächen ein Schlafwandler sein könntest und diese Dinge im Schlaf getan hast. Komm, Charles Rambert, iss dein Frühstück auf und schlag dir das alles aus dem Kopf. Zuerst wärst du auch damals nicht stark genug gewesen; und im nächsten Moment gibt es nichts, was zeigen könnte, dass du verrückt bist, und auch nicht deine arme Mutter. Aber ich will nicht weitermachen: Ich habe einige sehr merkwürdige Vorstellungen zu diesem Thema.«

»Dann, Monsieur Juve …«

»Lass den Monsieur weg, nenn mich Juve.«

»Wenn Sie dann wissen, dass ich unschuldig bin, können Sie es meinem Vater sagen? Ich habe nichts zu befürchten? Ich kann in meinem eigenen Namen wieder auftauchen?«

Juve sah den Jungen mit einem ironischen Lächeln an.

»Wie geht es weiter?«, rief er aus. »Bitte verstehe, dass ich, obwohl ich glaube, dass du unschuldig bist, mit ziemlicher Sicherheit die einzige Person bin, die das tut. Und leider habe ich noch keine Beweise, die ausreichend überzeugend und sicher wären, um die Überzeugung von deiner Schuld aus dem Kopf deines Vaters oder anderer Leute zu entfernen. Das ist nicht der Zeitpunkt, an dem du wieder auftauchen solltest. Es würde einfach bedeuten, dass du von einem Detektiv verhaftet wirst, der weniger weiß als ich, und ins Gefängnis geworfen wirst, wie du es selbstbewusst erwartet hast.«

»Was soll dann aus mir werden?«

»Was hältst du davon, selbst etwas zu unternehmen?«

»Ich gehe zu meinem Vater.«

»Nein, nein, nein«, protestierte Juve noch einmal. »Ich bitte dich, nicht zu gehen. Es wäre dumm und völlig nutzlos. Warte ein paar Tage, bei Bedarf auch ein paar Wochen. Wenn ich meine Hand auf Fantômas Schulter gelegt habe, werde ich der Erste sein, der dich zu deinem Vater bringt und deine Unschuld bekundet.«

»Warum warten, bis Fantômas verhaftet wird?«, fragte Charles Rambert. Der bloße Klang des Namens schien all seine frühere Begeisterung für das Thema dieses berühmten Verbrechers zu wecken.

»Wenn du unschuldig bist an der gegen dich erhobenen Anklage, ist es sehr wahrscheinlich, dass Fantômas die schuldige Partei ist. Wenn er auf den Fersen liegt, kannst du ohne Angst deine Unschuld beweisen.«

Charles Rambert schwieg einige Minuten lang und dachte über die seltsame Chance des Schicksals nach, die ihn zwang, seine eigene Rückkehr in das normale Leben von der Verhaftung eines mysteriösen Verbrechers abhängig zu machen, der nur verdächtigt wurde und nie gesehen oder entdeckt worden war.

»Was raten Sie mir zu tun?«, fragte er sofort.

Der Detektiv stand auf und begann, durch den Raum auf und ab zu gehen.

»Nun,« begann er, »die erste Tatsache ist, dass ich mich für dich interessiere, und die nächste ist, dass ich, während ich gestern Abend mit diesem Schurken im Abendmahlssaal dieses Getümmel hatte, für ein oder zwei Minuten dachte, dass es mit mir vorbei sei. Dein Einmischen rettete mein Leben. Andererseits kann man sagen, dass ich dir jetzt das Leben gerettet habe, indem ich deine Unschuld herausgearbeitet und deine Verhaftung verhindert habe. Also sind wir in gewisser Weise quitt. Aber du hast die feinen Späße begonnen, und ich habe es dir nur zurückgezahlt, also liegt es an mir, eine neue Staffel zu starten und dich nicht auf die Straße zu schicken, wo du zwangsläufig in neue Schwierigkeiten geraten würdest. Also, das ist es, was ich vorschlage: Ändere deinen Namen, geh und nimm dir irgendwo ein Zimmer. Zieh dir ordentliche Kleidung an und komm dann zu mir zurück. Ich gebe dir einen Brief an einen Freund von mir, der auf einer der großen Abendzeitungen steht. Du bist gut erzogen, und ich weiß, dass du tatkräftig bist. Du bist sehr daran interessiert, alles zu enthüllen, was mit der Polizei zu tun hat. Du wirst dich hervorragend als Reporter zurechtfinden. Auf diese Weise kannst du dir einen ehrlichen und respektablen Namen verdienen. Möchtest du diese Idee ausprobieren?«

»Das ist schrecklich gut von Ihnen«, sagte Charles Rambert dankbar. »Ich würde gerne meinen Lebensunterhalt mit dieser Arbeit verdienen. Sie ist ganz nach meinem Geschmack.«

Juve hielt sich mit seinem Dank zurück und reichte Charles ein paar Banknoten. »Hier ist etwas Geld. Jetzt verschwinde! Es ist höchste Zeit, dass wir beide ein wenig schlafen. Ich erwarte, dass du in einer Nacht Redakteur von La Capitale wirst.«

»Unter welchem Namen wollen Sie mich Ihrem Freund vorstellen?«, fragte Charles Rambert nach einer kleinen nervösen Pause.

»Hm!«, sagte Juve mit einem Lächeln: »Es muss natürlich ein Deckname sein.«

»Ja; und da es der Name sein wird, mit dem ich unterschreiben werde, sollte es ein leicht zu merkender Name sein.«

»Etwas Fesselndes, wie Fantomas«, sagte Juve schüchtern, amüsiert über die neugierige Kindlichkeit dieses Jungen, der sich für eine solche Kleinigkeit interessieren konnte, obwohl er in einer so kritischen Situation war. «Wähle etwas, das für den Vornamen nicht allzu verbreitet ist, und etwas Kurzes für den anderen. Warum behältst du nicht die erste Silbe von Fantomas? Oh, ich habe es – Fandor; was ist mit Jérôme Fandor?«

Charles Rambert murmelte es vor sich hin. »Jérôme Fandor! Ja, Sie haben recht, es klingt gut.«

Juve schob ihn aus der Tür.

»Nun, Jérôme Fandor, überlass mich meinen Schlummern. Geh und rüste dich aus! Mach dich bereit für das neue Leben, das ich dir eröffnen werde!«

Verwirrt von den erstaunlichen Abenteuern, bei denen er gerade die Hauptfigur gewesen war, ging Charles Rambert oder Jérôme Fandor staunend die Treppe von Juves Wohnung hinunter. »Warum sollte er sich so viel Mühe um mich machen? Welches Interesse oder welches Motiv kann er haben? Und wie um alles in der Welt findet er so wunderbare und viele Dinge heraus?«