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Der Detektiv – Zwei Taschentücher – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zwei Taschentücher

3. Kapitel
Das zweite Verbrechen

Frau Auguste Harst konnte an diesem Abend sich gar nicht genug über die plötzliche Veränderung wundern, die mit ihrem geliebten großen Jungen vor sich gegangen war. Dann erfuhr sie nach dem Abendessen den Grund. Harald erzählte ihr alles, was der heutige Nachmittag ihm gebracht hatte und was er nun weiter plante.

Sie drückte seine Hände. »Recht so, mein Junge, recht so! Nun wirst du wieder aufleben – Gott sei Dank!«

Ja – Harst lebte sehr schnell wieder auf. Am folgenden Vormittag erschien er bei Mildens. Sein Benehmen freilich ließ nicht erkennen, dass er mit fieberhaftem Eifer eine schwache Fährte weiterzuverfolgen sich bemühte. Er schien abermals nur in Margas Zimmer eine Weile seinen schmerzlichen Gedanken nachhängen zu wollen. Er schloss sich ein und begann dann sofort nochmals den zweifenstrigen Raum zu durchsuchen. Damals hatte Kommissar Stolten ja auch jenes bunt geränderte Tüchlein in der Hand gehabt und es als wertlos wieder unter das Sitzkissen an dieselbe Stelle geschoben. Hatte er das Taschentuch auf diese Weise unbeachtet gelassen, konnte ein gleiches leicht auch mit anderen Dingen geschehen sein.

Harst suchte geduldig und mit jener kühlen, klaren Überlegung, die ihm vor Margas Verlust stets zu eigen gewesen war. Den kleinen, modernen Damenschreibtisch nahm er zuletzt vor. In der Schublade unter der Platte lagen seine Briefe, die er an Marga geschrieben, obwohl sie sich fast täglich gesehen hatten. Daneben stand eine elegante Stahlkassette, in der der Schlüssel noch von der ersten Durchsuchung steckte. Darin befand sich unter anderem Margas Sparkassenbuch. Harst besichtigte es. Auch Stolten hatte dies getan und es wieder weggelegt. Harst prüfte die Abhebungen jetzt wie alles hier mit kritischem Geist. Dann steckte er das Buch zu sich. Sonst aber fand auch er nichts weiter, das ihm beachtenswert erschienen wäre. Er ging nun zu seiner Schwiegermutter hinüber, brachte das Gespräch unauffällig auf Margas bescheidene Geldbedürfnisse und fragte, ob sie in letzter Zeit wohl größere Ausgaben gehabt hätte. Die Präsidentin verneinte.

»Im Gegenteil – eigentlich war sie seit ihrer Verlobung noch sparsamer. Sie wollte, wie sie sagte, doch wenigstens ein paar Pfennige Mitgift dir mit einbringen, lieber Harald, da wir ja nur die Aussteuer geben konnten.«

Harst verabschiedete sich bald und ging zur Nebenstelle der Städtischen Sparkasse, nahm den betreffenden Beamten beiseite und fragte, ob diesem Fräulein Marga Milden vielleicht von Ansehen bekannt sei. Der Beamte nickte eifrig.

»Sehr gut sogar. Die junge Dame brachte häufig kleinere Beträge. Wir alle hier von der Nebenstelle haben ihren Tod aufrichtig bedauert. Noch am Tag vor ihrer Ermordung hat sie fünfhundert Mark abgehoben.«

»Ja – und zehn Tage vorher vierhundert Mark. Ich bin ihr Verlobter, Assessor Harst. Ich danke Ihnen für die Auskunft.«

Harst fuhr weiter zum Polizeipräsidium. Stolten war nicht anwesend, aber Wachtmeister Salewski konnte ihm den Bescheid geben, dass bisher von den Marga geraubten Schmuckstücken nichts bei Händlern oder Hehlern aufgetaucht wäre. Als sie noch miteinander sprachen, trat Stolten ein. Er kam von einem neuen Fall. An der Jannowitzbrücke hatte man eine weibliche Leiche aufgefischt, die schon längere Zeit im Wasser gelegen haben musste und deren Schädeldecke durch Hammerschläge zertrümmert worden war, während das Gesicht – fraglos von dem Mörder – durch Messerschnitte vollständig unkenntlich gemacht worden war. »Abermals eine ziemlich aussichtslose Sache«, meinte Stolten missgestimmt. »Nichts ist an der Leiche vorhanden, das eine Rekognoszierung erleichtert. Aus der Wäsche sind sogar die Monogramme herausgeschnitten worden.« Er fasste in die Brusttasche und holte ein in Zeitungspapier gehülltes flaches Päckchen heraus und warf es auf den Tisch. »Nur ein Taschentuch fand ich bei der Toten, die noch jung gewesen sein muss und deren Kleidung billigster Tand ist.«

Harst griff nach dem Päckchen mit einem Sie gestatten doch, wickelte das noch feuchte Tüchlein aus und sagte dann, nachdem er es berochen hatte: »Wie lange gerade Patschuli selbst im Wasser seine Duftkraft bewahrt!«

»Stimmt!«, meinte Stolten. »Auch die Seidenbluse der Ermordeten hat den Geruch noch festgehalten.«

Harst hatte alle Mühe, seine Erregung zu verbergen.

»Die Tote bleibt doch noch einige Zeit im Schauhaus?«, fragte er nun. »Ich möchte sie mir ansehen. Seit dem Mord an meiner Braut interessieren mich alle Kapitalverbrechen.« Dann verließ er das Präsidium.

Stolten sagte kopfschüttelnd zu Salewski: »Merkwürdig! Bisher habe ich nichts davon bemerkt, dass Harst für Morde größeres Interesse hat. Nun – mag er! Für den armen Menschen wäre es ganz gut, wenn er sich bemühte, sein Unglück zu vergessen.«

Harald Harst begab sich zu Doktor Heiker.

Dieser begrüßte ihn sofort mit den Worten: »Ihre Vermutung trifft zu. Das Taschentuch muss von Tränen ganz durchweicht gewesen sein. Außerdem befindet sich darauf am Rand ein Fleck von roter Fettschminke.«

Harst dankte, zahlte vierzig Mark und kehrte, das von ihm leicht angefeuchtete Tüchlein in der äußeren Jackentasche, zum Präsidium zurück. Stolten war noch mit dem Bericht über den neuesten Fall beschäftigt. Das bei der Wasserleiche gefundene Tuch lag neben ihm auf dem Schreibtisch. Harst fragte, ob Stolten es für zweckdienlich hielt, nochmals eine große Anzeige unter Hervorhebung der Belohnung von 20.000 Mark in die Zeitungen einzurücken. Der Kommissar meinte, schaden könnte es nichts, obwohl er die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hätte, dass der Mord an Marga Milden jemals aufgeklärt werden würde.

Harst nahm das Tüchlein vom Tisch und besichtigte es, hielt es auch gegen das Licht und sagte so nebenbei: »Die Ermordete scheint Schminke benutzt zu haben. Ich sehe hier einen rötlichen Schimmer in der einen Ecke.«

»Ganz recht, Herr Assessor. Es wird Schminke sein. Die Tote war ja auch wie eine Theaterprinzessin fünften Ranges gekleidet – alles Schein und Schund!«

Harst entschuldigte sich, abermals gestört zu haben, und fuhr mit der Ringbahn bis Schmargendorf. Er hätte sein Tüchlein, das dem anderen ja völlig glich, leicht gegen dieses bei Stolten vertauschen können. Er hatte es auch beabsichtigt, um das andere bei Doktor Heiker gleichfalls auf Spuren von Fettschminke untersuchen zu lassen, aber es war dann nicht mehr nötig gewesen. Er hatte ja selbst die rötliche Stelle in der einen Ecke bemerkt.

Seit Wochen spielte jetzt wieder einmal ein leises Lächeln um Harald Harsts Lippen. Es war ein Lächeln voller Zufriedenheit mit dem, was er bisher erreicht hatte.

Im alten Haus in der Blücherstraße empfing ihn die Mutter mit der Mitteilung, der Schauspieler hätte bereits zweimal vor Kurzem Harald am Telefon verlangt. »Du sollst diese Nummer hier anrufen. Ich habe sie mir aufgeschrieben, mein Junge«, fügte sie hinzu.

Harst hatte den Komiker-Maxe, den er seiner Mutter als harmlose Zufallsbekanntschaft vorgestellt hatte, denn vor einem Taschendieb und Ausbrecher hätte selbst das mitleidige Herz Frau Augustes wohl gestreikt, sehr bald am Apparat.

»Sie ist mit Koffer, Karton, Hutschachtel und zwei Schirmen um elf Uhr von M’s direkt zum Stettiner Bahnhof mit der Straßenbahn gefahren«, meldete Schraut. »Dann hat sie eine Fahrkarte nach Pasewalk gelöst und sitzt nun im Wartesaal, da ihr Zug erst zwei Uhr dreißig abgeht.«

Harst hätte diese Nachricht nie vermutet. Also Helene Burg machte sich aus dem Staub! Er hatte sie durch Schraut und den Jungen abwechselnd bewachen lassen, um dahinterzukommen, mit wem sie verkehrte. Und nun reiste sie ganz plötzlich ab, nachdem er gerade kurz vorher Margas Zimmer durchsucht hatte! Ob er dabei etwa von ihr durch das Schlüsselloch beobachtet worden war? Möglich war es schon! Er hätte das Schlüsselloch verhängen sollen. Nun – diese plötzliche Fahrt zu ihrer Heimatstadt, wo ja auch ihr Verlobter wohnte, war vielsagend genug.

Harst erteilte Schraut nun den Bescheid, er würde ihm seinen eigenen kleinen Koffer und eine größere Geldsumme durch Karl zum Stettiner Bahnhof schicken.

»Bleiben Sie ihr also auf den Fersen, Schraut! Und sobald Sie etwas Wichtiges festgestellt haben, sofortige Nachricht durch Ferngespräch. Auf Wiedersehen – guten Erfolg!«

Dann rief er die Präsidentin an. »Liebe Mama, eure Helene wollte mir die Adresse einer guten Handschuhwäscherin geben …«

»Schade, lieber Harald. Sie ist vor anderthalb Stunden auf eine Depesche hin, dass es ihrem Verlobten schlechter ginge, nach Pasewalk Hals über Kopf abgereist. Ich habe den Eindruck, dass sie nicht mehr zu uns zurück will, und werde mich daher leider nach Ersatz umsehen müssen.«

»Hat sie dir die Depesche gezeigt?«

»Nein. Und – merkwürdig! Vorhin vertraute mir Marie an, dass sie dieses Telegramm für lediglich erfunden hielte. Du scheinst ja auch diesen Verdacht zu hegen.«

»Vielleicht, Mama. Wiedersehen.«

Frau Auguste Harst hatte all dies mit angehört und meinte nun ganz verwirrt:

»Junge, hältst du etwa das Stubenmädchen für … für die Mörderin?«

»Aber Mutter! Ausgeschlossen! Ich sage dir schon zur rechten Zeit, wer mir mein Lebensglück vernichtet hat und wen ich vernichten werde!«

Frau Harst eilte nach oben in die Küche an den geliebten Kochherd. Harald ging langsam in seine Bibliothek hinüber. Hier hing an der Wand ein Haustelefon, das zum Gärtnerhäuschen führte. Er bestellte den Jungen zu sich. Karl Malke sah heute wie ein junger Geck aus. Harst schenkte ihm stets seine meist noch tadellosen Sachen, die ein gefälliger Onkel Schneidermeister dem langen, dünnen Burschen dann umarbeitete.

Der Junge war natürlich Feuer und Flamme für sein neuestes Metier, wie er sich vornehm ausdrückte. Er durfte Detektiv spielen, kein Wunder, dass ihm dies zusagte! Zehn Minuten später verließ er eiligst das Haus, fuhr stolz im Auto zum Stettiner Bahnhof und traf hier mit Komiker-Maxe zusammen, der noch seine Verkleidung als älterer, einfacher Mann trug.

»Ich beneide Sie, Herr Schaut«, meinte der Junge ehrlich. »Ich möchte für mein Leben gern an Ihrer Stelle nach Pasewalk fahren. Es wird dort mächtig interessant werden. Wissen Sie, ich denke mir, der Herr Assessor hat den Bräutigam im Verdacht …«

»Abwarten, Karl. Unser Auftraggeber wird im Übrigen wohl auch hier noch für dich lohnende Arbeit finden.«

Karl verabschiedete sich. »Unsere Pflegerin bäckt heute zu Mittag Kartoffelpuffer. Da muss ich zur Zeit zurück sein. Kalt sind die Dinger wie Leder. Na – alles Gute, Herr Schraut!«

Er schritt dem Ausgang der Vorhalle zu. Dann kam ihm der Gedanke, sich doch noch schnell mal von fern die im Wartesaal sitzende Helene Burg anzusehen. Er machte kehrt. Oben in der Halle vor den Bahnsteigen blieb er jedoch plötzlich stehen und trat dann hinter den Zeitungskiosk. Er hatte Schraut bemerkt, der im Gespräch mit einem sehr großen, hageren, elegant gekleideten Herrn vor der Tür des Waschraumes stand. Harst hatte ihm nun im Vertrauen mitgeteilt, dass der ehemalige Schauspieler von der Polizei gesucht würde und dass daher niemand etwas von dessen Anwesenheit im Haus erfahren dürfte. Karl hegte aus demselben Grund ein gelindes Misstrauen gegen Komiker-Maxe, der doch wohl verschiedenes auf dem Kerbholz haben musste. Als er ihn nun in so eifriger Unterhaltung mit dem langen Hageren sah, regte sich in ihm sofort der Wunsch, hier mal auch ohne Auftrag handelnd aufzutreten. Er wartete also, bis die beiden sich mit einem Händedruck trennten, und schlich dem Hageren dann nach. Dieser schlenderte der Friedrichstraße zu und stellte sich hier vor ein von Passanten dicht belagertes Schaufenster, in dem als Reklame für ein Spielwarengeschäft mechanische Puppen allerhand Künste zeigten. Der aufgeweckte Junge ließ kein Auge vom Zylinder-Onkel, wie er ihn bereits getauft hatte, da der Lange eine glänzende Angströhre, dazu auch noch Monokel trug. Karl betrachtete ihn nun sehr genau aus nächster Nähe. Der Hagere hatte ein gelbliches, schmales Gesicht, aufgedrehten schwarzen Schnurrbart und sehr starke schwarze Augenbrauen. Er sah ganz wie ein Italiener aus – nach des Jungen Ansicht.

Dann beobachtete er etwas, das er noch nie in seinem Leben mit angesehen hatte. Nur gelesen hatte er darüber in Zeitungen und Büchern. Doch nun konnte er sich selbst davon überzeugen, dass es wirklich solche Leute mit so unheimlicher Fingerfertigkeit gab.

Sein Ehrgeiz aber wurde noch reger. Er musste unbedingt herausbekommen, wo dieser lange Zylinder-Onkel wohnte, denn er wollte Harst keine halben Neuigkeiten überbringen. Mochten die Kartoffelpuffer auch kalt werden!

Harst wunderte sich, dass Karl noch immer nicht zurück war. Die Uhr ging nun bereits auf vier. Er saß jetzt an dem im Bibliothekszimmer stehenden Stutzflügel und spielte Wagner – den Fliegenden Holländer wenn auch nur mit leisem Anschlag. Er liebte die Musik und besaß ein Gehör, das ihm gestattete, alles auswendig zu spielen. Seit Margas Ermordung berührte er heute die Tasten wieder zum ersten Mal. Vordem hatte er stets am Flügel fantasiert, wenn er eine besonders schwere berufliche Arbeit vorhatte. Niemals flogen ihm bessere, klarere Gedanken zu, als wenn seine Ohren von einer Flut von Tönen umrauscht wurden. Es war, als ob die Töne Brücken bauten von einer Schlussfolgerung zur anderen.

Er spielte – und sein Denken umspielte die bisherigen Erfolge seiner Nachforschungen.

Plötzlich stand er auf. Er musste herausbringen, wer die unkenntlich gemachte Tote war, diese herausgeputzte Frau, die ein Taschentuch bei sich getragen hatte, das dem auf dem Korbsessel in allem glich: Stoff, bunter Rand, Patschuligeruch und rote Fettschminkeflecken! Er musste es herausbringen, koste es, was es wolle. Geld – davon besaß er ja mehr als genug.

Es klopfte an der Tür zum Flur. Endlich – es war Karl Malke. Harst sah ihm sofort an, dass er besondere Nachrichten mitbrachte.

»Setz dich! Leg los! Du bist vollgepfropft mit Neuigkeiten«, meinte er freundlich.

»Merken Sie mir das denn an, Herr Assessor? Ne – hab’n Sie ’n Blick! Es stimmt nämlich!« Er erzählte, dass der Hagere vor dem Schaufenster einer Dame aus der Handtasche die Börse herausgefischt und dass jener darauf bei Kempinski zu Mittag gegessen hätte. »Ein Glück, dass ich so ne anständige Kluft habe. Sonst hätten sie mich bei Kempinski nich reingelassen. Ich habe dort auch gegessen. Von den zwanzig Mark zu Auslagen, die Sie mir gaben, ist nun nicht mehr viel übrig, denn nachher ging der Lange noch ins Tauentzien-Café, dann schließlich nach Hause. Er wohnt Kantstraße 5, drei Treppen in einem Pensionat. Ich habe aus dem Sohn vom Hauswart dort auch den Namen rausgelockt? Violinenkünstler Arpad Tzigan. Ein netter Violinenkünstler! Taschendieb ist er – nischt weiter!«

»Du hättest dir diese Mühe sparen können, Junge«, meinte Harst. »Trotzdem, wenn du wieder mal zu solchen Feststellungen Gelegenheit hast, spiele nur abermals den heimlichen Verfolger, zur Übung! Den Rest von den zwanzig Mark behalte. Hier hast du weitere fünfzig für notwendige Auslagen.«

Karl schob etwas enttäuscht ab. Er hatte gehofft, Harst würde den Hageren von ihm beobachten lassen. Er bedauerte, jetzt wieder ohne Arbeit zu sein. Das Abenteuer heute hatte ihm so viel Spaß gemacht, wenn ihn auch die Kellner so merkwürdig lächelnd bei Kempinski und im Tauentzien betrachtet hatten.