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Der Detektiv – Zwei Taschentücher – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zwei Taschentücher

2. Kapitel
Das Taschentuch

Harst jagte in einem Auto an den Tatort. Eine Reihe von Lauben mit sorgfältig gepflegten Gärtchen zog sich hier an der Bahn entlang. Nur die letzte Laube dicht am Rand des Grunewalds unweit des Bahnhofs Heerstraße war vom Besitzer aufgegeben worden, sah verwahrlost aus und hatte nicht einmal mehr eine Tür. Es war nichts als eine Bretterbude mit dem nach hinten abfallendem Pappdach und einem großen Fenster.

Die Mordkommission war vor kaum zehn Minuten eingetroffen und hatte auch einen Polizeihund mitgebracht, der aber völlig versagte.

Die Herren machten dem ihnen wohlbekannten Assessor bereitwillig Platz. Höfliche, teilnehmende und herzliche Händedrücke nahm Harst mit völlig versteinertem Gesicht schweigend hin. Der Fotograf hatte seinen Apparat gerade über der mitten in der Hütte liegenden Leiche aufgestellt. Als Harst die tote Marga erblickte, hörte er das leise Knacken des Objektivverschlusses. Das Geräusch empfand er wie einen körperlichen Schmerz. Es machte ihm klar, dass seine Braut jetzt nicht mehr sein eigen war. Sie gehörte der Kriminalpolizei. Sie war – ein neuer Kriminalfall geworden.

Er schaute der geliebten Toten in das von einem Ausdruck furchtbaren Entsetzens entstellte Gesicht. Er schloss schnell die Augen. Er merkte, wie alles um ihn herum sich zu drehen begann. Doch seine Willenskraft siegte. Dann sprach er mit dem Vorsitzenden der Mordkommission ganz sachlich über dieses in jeder Einzelheit rätselhafte Verbrechen.

Nichts war in der Laube gefunden worden, das irgendwie auf den Täter hingedeutet hätte, nicht einmal die Waffe, die wahrscheinlich ein langes Dolchmesser gewesen war. Der Polizeihund hatte nur dreißig Schritt zum nahen Vorort Halensee zu eine Fährte aufgenommen. Was hatte Marga Milden hierhergeführt? Das war eine der Hauptfragen. Man konnte sie nur an diesen vormittags ganz einsamen Platz gelockt haben. Aber wodurch? Und dann das Motiv zu diesem Mord an einer jungen Frau, die durch ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Lebensgewohnheiten nie Gelegenheit gehabt hatte, sich die Rachsucht irgendeines Menschen zuzuziehen und deren ganzer Charakter ebenso sehr dagegen sprach, dass sie etwa sich auf irgendwelche verhängnisvollen Abenteuer eingelassen haben könnte.

Gewiss – die Leiche war vollständig ausgeplündert worden. Ringe, Brosche, das goldene Handtäschchen mit Inhalt, – alles fehlte. Dennoch erklärte der Kriminalkommissar Stolten, der Spezialist für Kapitalverbrechen war, dass er an einen Raubmord nicht recht glaube.

»Der Schmuck ist nur zur Verdunkelung der Tat mitgenommen worden, Herr Assessor«, sagte er kurz. Er war für seine rücksichtslose Art bekannt. »Da ein Mord aus Rache wohl ausscheiden muss, bleibt nur verschmähte Liebe als Motiv übrig. An diesen Punkt müssen wir uns halten. Helfen Sie mir. Kennen Sie jemand, den Fräulein Milden als Freier abgewiesen hat?«

Harst verneinte. »Meine Braut hat vor mir keinen Bewerber gehabt. Sie war eine so zurückhaltende Natur, dass sie in Herrenkreisen wenig Anklang fand.«

Danach fuhr Harst zu seinen Schwiegereltern. Diese waren durch den Verlust des einzigen Kindes gänzlich gebrochen. Die Präsidentin hatte man zu Bett bringen müssen. Gleich nach Harst traf Kommissar Stolten ein.

»Ich bitte mir zu gestatten, das Zimmer der jungen Dame zu durchsuchen«, sagte er zu dem tief gebeugten Vater.

Harst half ihm und dem Kriminalwachtmeister Salewski, einem der besten Beamten der Berliner Polizei, bei dieser Arbeit. In Margas behaglichem Zimmer packte ihn abermals für Sekunden ein namenloser Jammer, dem er zu erliegen drohte. Stolten sah den halb irren Blick seiner umflorten Augen, sagte leise: »Denken Sie an die Vergeltung, Herr Assessor! Das lenkt die Gedanken wohltätig ab!«

Das war das rechte Wort zur rechten Zeit. Vergeltung! Marga sollte gerächt werden! So war er denn jetzt der Eifrigste bei dieser peinlich genauen Durchsuchung, der nichts entging, bei der jede Kleinigkeit sorgfältig geprüft wurde, besonders alles, was an Briefen und Schriftstücken vorhanden war. Doch – auch diese zweistündige Arbeit war umsonst. Dann fragte Stolten den Präsidenten und die beiden Hausangestellten, die bejahrte Köchin Marie und das Stubenmädchen Helene, beide seit Jahren bei Mildens im Dienst und goldtreu, danach aus, ob Marga vielleicht in letzter Zeit oder gar heute früh von einer ihr fernstehenden Person oder in sonstwie auffälliger Art an den Fernsprecher gerufen worden wäre. Er betonte bei dieser zwanglosen Besprechung, der er alle Förmlichkeit nahm, um die beiden Mädchen nicht einzuschüchtern, dass hier jede, auch die unscheinbarste Beobachtung von großem Wert sein könnte.

Abermals nichts! Das Dunkel, in das dieser Mord gehüllt war, wurde nur noch undurchdringlicher. Der Präsident Stolten und Harst vereinbarten nun, dass eine Belohnung von 20.000 Mark für die Ermittlung des Täters oder für sachdienliche Angaben ausgesetzt werden sollte.

Erst gegen sieben Uhr abends war Harst wieder daheim. Seine Mutter nahm die Hände ihres großen Jungen in die ihren und ließ sich erzählen, was er inzwischen getan hatte. Sie war eine einfache Frau geblieben, trotz des Millionenvermögens, war auch eine kluge Frau, soweit es auf Lebenserfahrungen und praktischen Blick ankam. Sie hätte es gern erreicht, dass ihres Sohnes ungeheurer Schmerz sich in Tränen Luft gemacht hätte. Diese Starrheit an ihm, diese unnatürliche Ruhe, mit der er von den Bemühungen der Polizei sprach, erschreckten sie.

Harst fand keine Tränen. Jetzt nicht mehr, denn erst allmählich war er sich über die ganze Größe seines Verlustes klar geworden. Marga war die restlose Ergänzung seines eigenen Ichs gewesen. Mit ihr war jedes Interesse am Leben, an der Zukunft in ihm gestorben.

Die Tage gingen hin. Marga Milden war längst beerdigt; der Mörder aber noch immer unentdeckt. So ungeheures Aufsehen dieses Verbrechen auch zunächst in der Reichshauptstadt erregt hatte, nur zu bald drängte es der stetig neue Sensationen erzeugende Pulsschlag der Millionenstadt immer mehr in den Hintergrund. Trotzdem blieb der Eifer der Polizei und verschiedener Privatdetektive, die freiwillig der hohen Belohnung wegen sich der Sache angenommen hatten, noch eine Weile der gleiche. Doch jedes Streben muss früher oder später erlahmen, wenn es auch nicht vom geringsten Erfolg gekrönt wird. Und so war es hier. Nirgends der kleinste Hinweis auf den Täter, nirgends die Möglichkeit, ein Motiv für diese Ermordung einer jungen, harmlosen Frau zu finden!

Harald Harsts Gemütszustand änderte sich nicht. Er hatte sich sofort auf längere Zeit von seiner Behörde beurlauben lassen, wollte später seinen Abschied einreichen und auf Reisen gehen. Die abwechselnden Eindrücke fremder Länder und Völker sollten ihm helfen, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau Auguste hatte ihm dies geraten. Sie verzehrte sich in Sorge um den Sohn, der in stumpfem Brüten die Tage verbrachte und sich ganz von der Außenwelt ausschloss. Sie hatte mit Kommissar Stolten hierüber gesprochen. Und dieser hatte ihr erklärt, er hätte gehofft, dass beim Herrn Assessor die Anregung, die er ihm gleich am Tag des Mordes durch den Hinweis auf die Vergeltung gegeben hatte, etwas länger wirken und ihn veranlassen würde, selbst sich mit Ermittlungen zur Aufklärung des Verbrechens zu beschäftigen und auf diese Weise wohltuend seine schmerzlichen Gedanken abzulenken. »Freilich«, hatte er hinzugefügt, »wo soll man in diesem Fall mit Ermittlungen beginnen? Man muss doch wenigstens einen Ausgangspunkt dafür haben. Hier gibt es keinen.«

Frau Harst nickte traurig. »Das hat mir mein Sohn auch gesagt, Herr Kommissar. Mutter, hat er zu mir gesagt, wenn ich irgendwo auch nur den Schimmer einer Spur sehen würde, die zum Mörder hinführen könnte, dann sollte die Welt es erleben, dass der Wunsch nach Vergeltung den Täter in meine Gewalt bringt! Doch selbst dieser Schimmer einer Spur fehlt! Ich kann doch nicht zwecklos durch die Straßen laufen und auf einen blinden Zufall hoffen, der mich den Anfang einer Fährte entdecken läßt! Solche Zufälle sind doch zu selten.«

Frau Auguste drängte den Sohn immer wieder, abzureisen und zunächst nach Italien zu gehen. Inzwischen waren ja seit Margas Tod zwei Wochen verstrichen, ohne dass in Harald Harsts Seelenzustand auch nur die geringste Änderung eingetreten wäre. Vor- und nachmittags wanderte er auf den Kirchhof an das Grab der Geliebten. Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das Geringste geändert worden war. Dort saß er dann im Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. So auch jetzt.

Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammen sein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf.

Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es musste ja eines von Margas Tüchern sein. Er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der all ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.

Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch. Mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.

Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck strich die feinen Falten hinweg, die die letzte Zeit um seinen Mund eingegraben hatte. Er verließ das Zimmer, schloss die Tür wie stets hinter sich ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging in die Küche, wo das Stubenmädchen am Fenster silberne Löffel putzte. Er fragte Helene, ob Marga dieses Taschentuch gehöre oder ob es vielleicht Eigentum seiner Schwiegermutter sei. Das Mädchen verneinte.

»So billiges Zeug besitze ich nicht mal, Herr Assessor«, erklärte sie. »Es ist so ein Ding, nur fürs Ansehen berechnet. Und noch der hässliche rosa und hellblau gestreifte Rand!« Sie nahm es und faltete es auseinander.

»Oh – das ist ja auch Patschuli-Parfüm! Wie zuwider war dieser Geruch dem gnädigen Fräulein! Ich weiß das nur …« Sie stockte plötzlich, wurde rot und verlegen.

Harst wurde jetzt mit einem Schlag ein anderer, wurde wieder der, dessen scharfer Geist den Aufbau einer Anklageschrift zu einem übersichtlichen, mit den feinsten logischen Schlussfolgerungen ausgestatteten Kunstwerk gestaltet hatte. Das Taschentuch hatte ihn wachgerüttelt. Des Mädchens verlegenes Rotwerden sagte ihm weiter, dass er hier vielleicht auf etwas gestoßen war, das mit Margas unerklärlicher Ermordung irgendwie im Zusammenhang stand, wenn auch in einem ganz lockeren.

Er blieb äußerlich jedoch ganz ruhig. Er durfte Helene nicht merken lassen, dass er diesem Tüchlein eine besondere Bedeutung beimaß. Sie war ein scheues, ängstliches Ding, und schon bei jenem zwanglosen Verhör durch Stolten hatte sie deutlich gezeigt, dass jeder Polizeibeamte für sie wie für viele Leute trotz des besten Gewissens ein Schrecknis war. Er glaubte bereits ziemlich bestimmt, dass sie über die Herkunft dieses Tüchleins irgendetwas wüsste, war aber auch ebenso überzeugt, dass sie aus irgendwelchen Gründen ihn belügen würde, wenn er sie gerade heraus danach fragte.

»Das Tuch lag im Musikzimmer auf der Tastatur des Flügels unter dem Deckel«, meinte er gleichgültig. »Sie haben ganz recht, Helene. Es ist billigste Schundware. Habt ihr vielleicht in letzter Zeit eine Reinemachefrau im Haus gehabt. Der mag es dann gehören.«

Bei der Erwähnung des Flügels hatte das Mädchen ihn so überrascht angesehen, wie dies nur jemand getan hätte, der genau Bescheid wusste, dass das Taschentuch gerade dort nicht vergessen sein konnte. Harst war jedenfalls mit dem Erfolg dieses ersten Versuchs, Helene in die Enge zu treiben, ganz zufrieden. Als das Mädchen nun erklärte, Mildens nähmen nie Reinemachefrauen an, meinte er: »Wer mag es dann hier in der Wohnung nur zurückgelassen haben? Kennen Sie vielleicht die betreffende Person?«

Sehr hastig verneinte Helene diese Frage, so hastig und so scheu zur Seite blickend, dass Harst ihr jetzt am liebsten zugerufen hätte: »Sie lügen ja!« Er hütete sich, es zu tun, sagte vielmehr: »Schließlich ist das ja auch gleichgültig.« Dann fragte er noch nach dem Ergehen von Helenes Bräutigam, der unlängst in seiner pommerschen Heimat als Zimmerpolier an einem rostigen Nagel sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Dabei steckte er das Tuch ganz unauffällig zu sich.

Danach nahm er ein Auto und fuhr zum Laboratorium des Gerichtschemikers Doktor Heiker. Dieser arbeitete noch an einer Blutuntersuchung. Harst kannte ihn seit Längerem persönlich. Auf Heikers Schweigen konnte er sich verlassen.

Er teilte ihm das Nötige mit, zeigte ihm das Tüchlein und erklärte weiter: »Ich fand es in einer Weise zerknüllt vor, dass ich vermute, es muss feucht – vielleicht von reichlich vergossenen Tränen – unter das Sitzkissen geschoben worden sein. Bitte, untersuchen Sie es, Herr Doktor. Tränen enthalten ja wohl außer salzigen noch andere kennzeichnende Bestandteile.«

Dann begab er sich heim. Vor der Gitterpforte des Vorgartens ging ein ärmlich gekleideter, älterer Mann mit dünnem, leicht ergrautem Vollbart auf und ab. Harsts Gedanken waren noch bei Helene Burg und dem Tüchlein. Sonst hätte er den Mann wohl schärfer gemustert. Er war schon an ihm vorüber, als eine leise Stimme ihn anrief: »Herr Assessor – einen Augenblick.«

Harst drehte sich um. Ein prüfendes Anschauen, dann: »Ah – also doch! Ich glaubte schon, Sie würden sich nicht mehr sehen lassen, Max Schraut. Sind Sie krank gewesen? Ihr Gesicht ist inzwischen ja der reine Totenkopf geworden.«

»Sehr krank, Herr Assessor. Ich bin erst heute früh aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo ich mit falschen Papieren wegen Lungenentzündung Aufnahme gefunden hatte. Ich habe deshalb auch der Beerdigung meiner Mutter nicht beiwohnen können. Aber auch Sie sehen schlecht aus, Herr Assessor, ganz verändert, ganz grau im Gesicht.«

Harst überlegte kurz. Dann forderte er den Taschendieb auf, mit in seine Wohnung zu kommen. Hier sagte er zu ihm: »Ich müsste Sie nun eigentlich der Polizeibehörde übergeben. Für die Gefängnisluft sind Sie jedoch noch zu elend. Sie sollten sich erst bei mir erholen, wo niemand Sie verraten wird. Ich stelle aber eine Bedingung.

Meine Braut ist ermordet worden. Sie scheinen von diesem Verbrechen im Krankenhaus nichts gehört zu haben. Ich beabsichtigte, da der Täter bisher nicht entdeckt ist, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie und noch jemand, ein Knabe, sollen mir dabei helfen. Wollen Sie es tun?«

Komiker-Maxe begann vor Rührung zu weinen. »Ob ich will! Natürlich! Herr Assessor, Sie sollen an mir einen treuen Gehilfen haben. Ich bin noch nicht so tief gesunken, um einem Mann wie Ihnen gegenüber undankbar zu sein.«

Max Schraut bezog eins der unbenutzten Erdgeschosszimmer. Bereits nach einer Stunde fand dort zwischen ihm, Harst und Karl Malke eine längere Besprechung statt. Noch am selben Abend übernahm eine Berufspflegerin, die Harst bezahlte, die Wartung der kränklichen Witwe des früheren Kutschers.