Timetraveller – Episode 27
Vincent lief vor den wütenden Stimmen davon, die ihn verfolgten. Er kannte die Männer nicht, aber er wusste, dass sie ihm Böses wollten. Keuchend rannte er über das öde Land und hoffte, dass er keine Kuhle übersah, die ihn zu Fall bringen konnte. Die Sonne hing hoch am blauen Himmel und schickte ihre mörderische Hitze, die Vincents Schädel zu versengen drohte.
Er blickte über die Schulter zurück, sah aber aus dieser Perspektive seine Verfolger nicht. Vielleicht war das ganz gut so, umso besser konnte er sich auf sein Ziel konzentrieren. Nicht mehr weit von ihm entfernt sah er ein kleines Waldstück. Vielleicht gelang es ihm dort, die Männer zu narren, wenngleich er nicht wusste, wie er das anstellen sollte. Er fühlte schmerzhafte Stiche in seiner Seite und sein Atem klang wie das Schnaufen eines gestrandeten Seelöwen.
Insekten zirpten und summten in seiner Nähe, vollkommen unberührt von den Ängsten, die ihn plagten. Ihre Stimmen klangen wie Spott in seinen Ohren.Ich kann nicht mehr!, dachte er, aber ganz zu seiner Überraschung lief er dennoch weiter.
Wieder hörte er Stimmen, aber er verstand nicht, was sie sagten. Ohne es zu bemerken, zeichnete sich auf seinem Gesicht ein breites Grinsen ab, das ihn wie einen Schwachsinnigen aussehen ließ. Genau das glaubte man von ihm; dass er ein Idiot war. Er verspürte keinen Anreiz, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Dass er noch am Leben war, grenzte für ihn manchmal an ein Wunder, denn es war so, als ziehe er den Ärger magisch an. Seine Andersartigkeit schien die Jagd auf ihn zu legitimieren. Es gab in dieser Welt keinen Richter und keinen Beschützer, der den Verfolgern Einhalt gebieten würde. Er wusste noch von anderen Menschen wie ihm, die nicht besser dran waren als er. Doch sich mit ihnen zu verbünden, hieße, das Potenzial der Gefahr zu vervielfachen. In einer Welt voller Menschen war er vollkommen allein.
Alles in seinem Körper brannte, sein Kopf genauso wie seine Füße und seine Lunge, und er stieß einen erleichterten Laut aus, als er endlich die ersten Sträucher und kleinen Bäume des Waldgebietes erreichte und von ihnen geschluckt wurde; nur noch das Hin- und Herschwingen der Äste und das aufgebrachte Schreien einiger Tiere verrieten ihn.
Für einen Moment verhielt er sich still und lauschte, aber sein eigenes Keuchen übertönte die Schritte seiner Verfolger. Er konnte die Männer nun jedoch sehen. Drei waren es; sie näherten sich ihm, sodass er für einen Moment befürchtete, dass sie ihn ebenfalls sahen. Aber die Sträucher verdeckten ihn. Eilig lief Vincent weiter, durch Geäst und dornige Sträucher, die sich an ihm festkrallten und blutige Botschaften in seinen Armen und seinem Gesicht schrieben. Er machte ungelenke, hüpfende Schritte, um nicht ins Straucheln zu geraten. Er wusste nicht, wie groß dieses Waldstück war, aber er konnte sein Ende nicht sehen, und das machte ihm Mut. Er änderte unmerklich die Richtung und sprang von einer Lücke zur nächsten, die sich ihm bot.
Er warf einen flirrenden Blick zurück, übersah vor sich den Abgrund, der sich plötzlich auftat, und fiel mit einem Schrei auf den Lippen ins Leere. Sein Herzschlag schien auszusetzen. Der Aufprall, der einen Moment später folgte, erschütterte ihn und ließ ihn aufstöhnen. Für einen endlosen Moment verharrte er in der Umklammerung aus purem Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er biss seine schlechten Zähne aufeinander, krümmte sich zusammen und kam sich wie ein Wurm vor, den ein perverses Kind in zwei Teile geschnitten hatte.
Er hörte ein heiseres Gekläff und spürte, dass es Zeit wurde, wieder auf die Beine zu kommen. Vorsichtig richtete er sich auf und war erleichtert, als er feststellte, dass er offenbar unverletzt war. Er war in eine Senke gefallen. Er blickte zu dem Abhang hinauf, den er hinuntergestürzt war, und sah die Schneise der Verwüstung, die er hinterlassen hatte.
Vincent bemerkte an der natürlichen Wand der Senke eine kleine höhlenartige Öffnung, die durch einen Busch vor allzu neugierigen Blicken geschützt war. Vielleicht nicht ganz das ideale Versteck, aber er vertraute darauf, dass ihm seine Verfolger soviel Raffinesse nicht zutrauten. Eilig verwischte er die Spuren seines Aufpralls, die sich im Laub abzeichneten, und quetschte sich in die Öffnung. Bequem war es dort nicht, aber es war auch nicht seine Absicht, lange dort zu verweilen. Schon jetzt vermutete er, dass die Männer seine Spur verloren hatten. Ihre leisen Stimmen wehten gespenstisch leise zu ihm hinüber und er lächelte zufrieden.
So gut es ging, machte er es sich in seinem kleinen Versteck bequem und schloss seine Augen.
***
Dan schaute gen Himmel, der sich mit einem solch tiefen Blau über sie spannte, dass dies selbst für ein Postkartenmotiv zu übertrieben gewirkt hätte. Der schwache Wind kühlte die heiß-trockene Luft kaum ab.
Er drehte sich zu seinen Freunden um, die ähnlich wie er die Umgebung ausloteten. Nichts deutete auf eine Gefahr hin, aber sie alle wussten, dass Bedrohungen manchmal schier aus dem Nichts kamen. Dies war so oft der Fall gewesen, dass sie hier nichts anderes erwarteten. So glaubte Dan beinah, den Anflug von Enttäuschung in den Augen der anderen zu erkennen, als nichts geschah. Er zuckte mit den Achseln und grinste. »Schönes Wetter hier.«
Claire stimmte ihm zu und fuchtelte einige Fliegen fort, die in ihrer Nähe summten.
»Da hinten ist ein Haus«, meinte Ken, der seine Augen mit der Hand abschirmte. »Nein, zwei Häuser«, korrigierte er sich. »Sieht aus wie ‘ne Farm. Größtenteils Einöde und ein paar Höfe: Das Ganze erinnert mich an Texas.« Er drehte sich wie eine ungelenke Ballerina um seine eigene Achse. »Immerhin, der Wald dort drüben ist schon eine große Abwechslung.«
»Warst du jemals in Texas?«, wollte Claire wissen. Sie entfernte sich ein wenig von dem Felsbrocken in ihrer Nähe, der beinah so groß war wie sie und die Hitze des Tages verströmte. Sie hatten sich entschlossen, ihren Glider inmitten dieser Felsengruppe zu verstecken, die so charakteristisch war, dass die vier Freunde sie leicht wiederfinden würden.
Ken starrte sie mit gespieltem Entsetzen an. »Selbstverständlich nicht.«
»Seltsam«, murmelte Francine. Sie stocherte mit einem Fuß nachlässig im trockenen Erdreich herum. »Das sieht mir hier nach gesundem Ackerboden aus, aber alles liegt brach. Auch keine weidenden Tiere. Wovon leben die Leute hier?«
»Ja, das ist eine gute Frage«, murmelte Dan. Von den Höfen, die gut zwei Kilometer von ihnen entfernt lagen, erinnerte nichts an menschliche Nähe. Er spürte, wie ein leichter Schauer über seinen Rücken rann. Es kam ihm so vor, als handele es sich um eine erstarrte, versteinerte Welt, in der Leben nur mehr eine vage Erinnerung war. Er selbst fühlte sich seltsam benommen, was an der Hitze liegen mochte. Er massierte seine Schläfen, um diesem Schwebezustand zu entrinnen. »Ich schlage vor, wir fragen die Bewohner, wenn wir sie finden. Das war schließlich ohnehin unsere Absicht, oder?« Er schaute seine Freunde fragend an.
Ken zuckte mit den Schultern. »Sicher. Also gehen wir.«
Sie setzten sich in Bewegung und merkten schnell, dass die Entfernung zu den Gebäuden täuschte. Obwohl sie recht zügig gingen, schien die Distanz kaum zu schrumpfen. Die Hitze tat ihr Übriges, und bald zeigten die Gesichter der vier Zeitreisenden Erschöpfung und Verdrossenheit. Die Helligkeit schmerzte in ihren Augen, der aufwallende Staub reizte ihren trockenen Hals, und so manch einer von ihnen verfluchte insgeheim diese Mission bereits, bevor sie begonnen hatte. Zwar trug jeder von ihnen einen Wasservorrat bei sich, doch obwohl die Versuchung groß war, einen Schluck zu trinken und sich den Staub aus dem Gesicht zu waschen, ermahnten sie sich gelegentlich, davon Gebrauch zu machen. Niemand konnte sagen, wie lange sie in dieser Welt unterwegs sein würden. Sie mussten sparsam mit dem Wasser umgehen.
Nachdem sie das kleine Waldstück hinter sich gelassen hatten, wurde eine weitere Farm sichtbar, die im Westen lag. Schweigsam stapften sie über das brachliegende Land und unterhielten sich gelegentlich halbherzig über Francines Äußerung, wovon die Menschen hier lebten. Eine Ortschaft schien es hier nicht zu geben.
Die Sonne hatte bereits längst ihren Zenit überschritten, als sie den nächstgelegenen Hof erreichten.
»Endlich«, schnaufte Dan. Sein Gesicht war gerötet und Schweiß rann ihm von der Stirn. Niemand war zu sehen, doch sie hörten Stimmen aus dem Innern des Hauptgebäudes. Neben diesem und auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes gab es noch weitere Anbauten unterschiedlicher Größe. Der Wind fing sich in den Ecken und Luken der Gebäude und erzeugte eine düstere Melodie, die nur dem Tod ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hätte. Sand und Erde erhoben sich und setzten den Ankömmlingen mit winzig kleinen Stichen im Gesicht zu. Ihre Augen waren gereizt und tränten.
»Verflixt!«, schimpfte Dan und wedelte mit ungeduldigen Handbewegungen den Sand aus seinem Haar. »Wo sind wir hier nur gelandet?«
Niemand antwortete, aber das schien Dan nicht zu stören. Leise schimpfte er weiter vor sich hin. Sein Monolog vermischte sich mit dem Fauchen und Heulen des Windes und den anderen kam es so vor, als handele es sich um einen trostlosen Songtext. »Könntest du bitte endlich den Mund halten!«, herrschte Francine ihn schließlich an. Verdutzt schwieg Dan. Er verzichtete auf eine Entgegnung, die wohl ebenso unbeherrscht ausgefallen wäre wie Francines Bemerkung.
Sie passierten einen großen im Schatten liegenden Verschlag, in dem sich Dutzende weißer Kaninchen tummelten, die augenscheinlich wohlgenährt waren.
»Süß«, meinte Claire betont fröhlich, um die niedergeschlagene Stimmung aufzuhellen, und ging näher an den Verschlag hin. Als die Tiere ihre Bewunderin bemerkten, drängten sie sich panisch in die hinterste Ecke ihres Heims.
»Sie hingegen scheinen dich gar nicht so süß zu finden«, bemerkte Ken mit einem breiten Grinsen auf seinen Lippen, was Claire mit einem finsteren Blick quittierte.
»Sie sind ein wenig menschenscheu«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Als sie sich umwandten, sahen sie eine Frau, die aus der Tür getreten war. Neben ihr stand ein Junge, der kaum acht Jahre alt war und sie aus großen Augen scheu anschaute. Am Hinterkopf stand ein Büschel seines blonden Haars ab, was wie eine Feder am Kopf eines Indianers wirkte.
Claire lächelte, als sie das sah, und trat näher. »Guten Tag«, sagte sie. »Ich hoffe, wir stören Sie nicht. Wir sind auf der Durchreise und haben Ihren Hof gesehen.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, klang jedoch plausibel genug. Sie stellte sich und ihre Begleiter vor.
»Sie stören nicht«, entgegnete die Frau und nickte allen vieren freundlich zu. Ihre Augen leuchteten, was jedoch auch am Sonnenschein liegen mochte. »Sie sind herzlich willkommen. Treten Sie ein.« Danach warf sie dem schweißüberströmten Dan einen Blick zu. »Es sei denn, Sie möchten sich erst frisch machen. Dort hinten finden Sie einen Brunnen, an dem Sie sich bedienen können.«
»Das würden wir gern tun«, sagte Dan und lächelte dankbar. Sie gingen in die Richtung, welche ihre Gastgeberin angezeigt hatte und stießen bald auf einen Brunnen, auf dessen steinerner Umrandung ein Blecheimer stand.
»Wie im Mittelalter«, staunte Ken. Er ließ den Eimer, an dessen Griff ein Seil geknotet war, hinab, nachdem er einen Blick in die Tiefe des Brunnens geworfen hatte. Kühle Luft drang von unten empor, wie ein Atemzug aus der Hölle. Der Eimer schwang hin und her und stieß immer wieder gegen die Brunnenmauer. Schließlich hörten sie, wie er klatschend die Wasserlinie erreichte. Nachdem der Eimer gefüllt war, hievte Ken ihn wieder hinauf. Das Wasser glitzerte verführerisch klar im Schein der Sonne. Notdürftig wuschen die vier sich den Schweiß und den Staub vom Körper und genossen das kalte Wasser.
»Es schmeckt ausgezeichnet«, sagte Dan, der mit zwei Händen Wasser aus dem Eimer geschöpft hatte. »Besser als jedes Mineralwasser.«
»Ich weiß nicht, ob das so klug war«, versetzte Francine. »Es könnten Bakterien drin sein.«
Dan zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen.«
»Wir werden beobachtet«, unterbrach Ken ihn und deutete unmerklich mit dem Gesicht zu dem Haupthaus hinüber. »Die Gardine hinter dem zweiten Fenster neben der Tür hat sich bewegt.«
»Die Leute haben ein Recht, misstrauisch zu sein«, sagte Claire. »Sie werden nicht allzu oft Besuch bekommen. Ich fand es schon erstaunlich, dass die Frau uns so ohne Weiteres eingeladen hat. In der Großstadt wäre uns das nicht passiert.«
»Dann sollten wir nun ins Haus gehen und die perfekten Gäste mimen«, sagte Ken und ging, mit seinen Freunden im Schlepptau, auf das Haus zu.
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