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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 1 – Kapitel 1

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Erster Teil

Vorwort

Bei einem Stoff, der, wie bei vorliegender Erzählung, aus der Gegenwart genommen ist, wird es leicht möglich, dass er gewissen Deutungen unterliegt, dass man Beziehungen auf wirklich existierende Personen und Verhältnisse sucht, und es ist daher die Pflicht des Verfassers, öffentlich zu erklären, dass in seinem Buch hiervon nicht die Rede sein kann. Die Verhältnisse, die er schildert, die Personen, die er auftreten lässt, sind durchaus fingiert, und niemals ist eine Porträtähnlichkeit gesucht oder angebracht. Eine große Hauptstadt, ein mächtiges, intellektuelles Reich müssen in ihren vielfachen äußeren und inneren Bezügen dem Bildner großartigen Stoff zuführen, ohne dass man ihn deshalb des kleinlichen und hierbei verpönten Genres der Porträtmalerei bezichtigen darf. London und Paris geben ihren Schriftstellern diese Freiheit in vollem Maß, und es scheint, dass die Erzählung, deren Stoff aus der Gegenwart geschöpft ist, und deren Hauptreiz in der Schärfe der Konturen ihrer Gestalten beruht, diese Freiheit unmöglich entbehren kann, und dass der moderne Roman sie recht eigentlich als ihm gebührend in Anspruch nimmt.

Diese wenigen Worte mögen genügen, um einem etwaigen Missverstehen entgegenzuarbeiten.

Erster Abschnitt

Motto: Die Menschen werden mehr durch ihre Meinungen von Dingen gequält, als von den Dingen selbst.

Epicur

Erstes Kapitel

Der Schauplatz der Handlung ist das Innere einer preußischen Postkutsche

Die Dämmerung des frühen Morgens, am 19. März des Jahres 183., wurde eben sichtbar und erfüllte mit besonders unbehaglichem Gefühl den armen Reisenden, der die Nacht hatte durchfahren müssen, als auf einer Station zwischen Küstrin und Berlin der Wagen hielt, und folgendes Ereignis stattfand. Der Kondukteur wurde von einer rau tönenden Männerstimme angesprochen und gefragt, wie viele Passagiere sich im Wagen befanden. Auf die Antwort, dass nur einer drinnen sei, unterhandelte die Stimme weiter und drang endlich darauf, den Reisenden zu sprechen. Nach einiger Weigerung und nach dem Bemerken, dass dies eine unstatthafte Verzögerung herbeiführe, wurde der Wagen geöffnet, ein ältlicher Mann mit breitschultrigem Wuchs legte sich tief hinein und wandte an den Reisenden folgende, in dem Ton der Bitte vorgebrachte Worte: »Mein Herr, ich ersuche Sie, einem armen, kranken Kind einen Platz zu vergönnen, das auf diese Weise kostenfrei und schnell nach Berlin gelangt. Ich weiß, dass dies Verfahren ungesetzlich ist, und dem Herrn Kondukteur eine Verantwortung zuziehen kann, allein ich weiß auch, dass die Gesetze der Menschlichkeit beachtet werden müssen. Das Kind ist eine Waise. Sein längerer Aufenthalt hier ist unmöglich, und in Berlin findet es Unterstützung, wenn es zur rechten Zeit dahin gelangt. Also darf ich?«

Der einsame Passagier, an den diese Aufforderung der Menschenfreundlichkeit erging, erhob sich schlaftrunken aus der düsteren Ecke des Wagens und murmelte etwas, das wie eine Einwilligung klang. Sogleich verschwand der dunkle, breite Körper des Sprechenden vom Wagenschlag, und statt seiner erschien eine in ein dunkles Tuch gehüllte Gestalt, die eilig die zwei Stufen hinaufgeschoben wurde, worauf die Wagentür mit Lärm zugeschlagen wurde.

Gleich darauf wurde sie wieder geöffnet, und die Stimme des dicken Mannes fragte in besonders scharfen Lauten: »Kind, hast du auch deinen Brief? Verliere ihn ja nicht, und besorge ihn richtig an seine Adresse. Hörst du?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand der Mahner, die Tür wurde wieder zugeschlossen, und der Wagen rollte weiter.

Je mehr sich das Licht des Morgens in dem düsteren Raum der Kutsche verbreitete, um so deutlicher entwickelten die beiden Nebelgestalten, die darin Platz genommen hatten, ihre rätselhaften Formen. Zuerst wurde in der Ecke links ein roter Fleck und darüber eine ringartige Einfassung sichtbar, diese bezeichneten den roten Mantelkragen und die rote Mützenkante eines Militärs. Ein weiter blauer Mantel hüllte die Gestalt ein und ließ nichts weiter sehen als ein paar Füße, die mit sehr zierlichen Stiefeln nach modischer Form bekleidet waren. Hätten sich diese Extremitäten an dem ihnen zustehenden Platz im Wagen befunden, so würde man von ihrer Vortrefflichkeit nichts haben sagen können. Allein sie befanden sich ungehörigerweise auf dem Sitzpolster, und der junge Offizier lag im Eilwagen, wie er daheim auf seinem Sofa zu liegen pflegte. Nach und nach beliebte es ihm, die Ansprüche des Morgens anzuerkennen, und er strich mit einer weißen, mit Ringen bedeckten Hand die dunklen Locken, die üppig und in schöner Fülle unter der Mütze hervorquollen, aus der Stirn, öffnete die Augen und sah mit seinem träumerischen Blick vor sich hin. Es schien ihm auffallend, dass ihm gegenüber ein Wesen sich befand, von dessen Existenz er keine Ahnung hatte. Er fasste es näher ins Auge und entdeckte, dass seine Reisegefährtin ein bleiches Mädchen von ungefähr sechs Jahren war, das in einem zerlumpten grauen Umschlagtuch eingewickelt, stumm und mit geschlossenen Augen in der Wagenecke ihm gegenüber lag. Wie sie hereingekommen war, wusste er durchaus nicht, und er fühlte auch nicht den geringsten Antrieb, das blasse Kind selbst darum zu befragen. So rollte der Wagen weiter und näherte sich nun bis auf wenige Meilen der Hauptstadt.

Ein Stoß der Kutsche lockte der Kleinen einen Schmerzensschrei aus und lenkte dadurch die Aufmerksamkeit des Offiziers sogleich wieder auf sie. Auch das kranke Mädchen betrachtete ihn jetzt mit großer Aufmerksamkeit. Es schien aus einer Erstarrung oder Ohnmacht erwacht zu sein, und jetzt die ersten Lebenszeichen wieder von sich zu geben. »Guten Morgen, mein Herr«, flüsterte die Kleine mit einer schwachen Stimme, indem sich zugleich auf ihren bleichen Wangen ein schnell vorübergehendes Lächeln zeigte. »Sind wir bald in der Stadt?«

»In Berlin?«, fragte der Offizier. »Ja, ich denke, bald.«

»O, mich friert so sehr«, sagte die Kleine, »und mein Arm schmerzt mich.« Dabei richtete das Mädchen seine großen blauen Augen furchtlos und mit einem bittenden Blick auf seinen Gefährten.

»Ich kann nichts dabei tun, mein Kind«, erwiderte der Offizier.

Die Unterhaltung stockte, und das kranke Mädchen sah zum Wagenfenster hinaus. Endlich wandte sie sich wieder zu ihrem Mitreisenden und fragte: »Wenn ich in die Stadt komme, werde ich dort auch mein gutes Bett haben, denn seit drei Tagen habe ich fast nicht geschlafen?«

»Gewiss wirst du dort Betten und Verpflegung finden«, sagte der Offizier. »Du hast doch wohl Verwandte in Berlin?«

»Verwandte?«, fragte die Kleine und sah den Fragenden groß an. »Ich glaube, ja. Der alte Mann sagte mir, dass ich Leute in der Stadt finden werde, die sich um mich kümmern würden.«

Der junge Offizier besann sich jetzt dunkel auf die nächtliche Szene, die der Eintritt seiner Reisegenossin veranlasst hatte. »Wer war der dicke Mann«, fragte er, »der dich in den Wagen hob?«

»Ich kenne ihn nicht«, erwiderte das Mädchen. »Als ich vor Hunger und Ermüdung auf der Landstraße liegen blieb, hat er mich gefunden und in sein Haus gebracht. Von ihm habe ich auch dieses Tuch und diesen Beutel.« Sie wies auf das zerlumpte Tuch, in das sie sich gehüllt hatte, und auf einen alten Damenarbeitsbeutel aus eben so abgenutztem und unscheinbarem Stoff. Der Offizier warf einen gleichgültigen Blick auf beides und öffnete dann ein Fenster, um die frische Morgenluft in den dumpfen Wagen einzulassen. Als er die Hand wieder zurückziehen wollte, fühlte er an derselben das Händchen der Kleinen.

»Was Sie für einen hübschen Ring da haben«, rief sie, »wollen Sie ihn wohl mir zeigen?«

Der junge Offizier nahm mit einiger Beschwerde seinen Siegelring vom Zeigefinger der rechten Hand und gab ihn dem Mädchen.

»Das ist eine Grafenkrone oben über dem Wappen«, sagte die Kleine.

»Ja, und ich denke, dass sie mir auch mit Recht zukommt«, entgegnete der Offizier lächelnd. »Aber, wie kommst du dazu, armes Kind, dergleichen Dinge zu kennen und zu unterscheiden?«

»O, ich weiß das alles, und noch viel mehr«, entgegnete sie mit einem altklugen, großsprecherischen Blick, der den Offizier zum Lachen zwang.

»Aber mein Arm, o weh, er schmerzt so sehr! Sind wir noch immer weit von der Stadt?«

»Dort sind schon die ersten Häuser.«

»Nun Gott sei Dank. Wie werde ich froh sein, wenn ich in meinem weichen, warmen Bett liege!«

»Indessen werden wir noch eine Meile zu fahren haben, ehe wir vor das Posthaus gelangen«, bemerkte der Offizier.

Die Kleine hatte, ihren Platz verändernd, sich neben ihren Begleiter gesetzt. Die Stöße des Wagens, der jetzt auf dem Pflaster fuhr, schienen ihre Schmerzen zu vermehren. Sie lehnte ihr Köpfchen auf den Arm des Offiziers, und über ihre bleichen Wangen liefen Tränen, ohne dass eine Klage ihren Lippen entfuhr. Allmählich schlummerte sie in Betäubung ein und lag nun so starr und regungslos da, wie sie früher gelegen hatte.

Der junge Mann, der anfangs sich gedrungen gefühlt hatte, den Kopf des Mädchens von seiner Schulter zu entfernen, tat dies dennoch nicht, als er aufmerksamer ihre regelmäßigen Züge und das schöne, seidenweiche Haar, das in natürlichen, wiewohl spärlichen Locken auf Hals und Nacken der Kleinen fiel, betrachtete. Das Mitgefühl presste ihm unwillkürlich die Worte aus: »So jung, und schon dem Elend, der Verlassenheit dahingegeben!«

Der Wagen machte eine scharfe Wendung und lenkte in die Quergasse, in der das Postgebäude lag. Es war noch früher Morgen, trotz dessen wimmelte der Platz von einer neugierigen und beschäftigten Menge. Eine Anzahl Postwagen, von den verschiedensten Richtungen kommend, langten zugleich mit unserem Wagen an, andere fuhren ab, und das Hin- und Herschaffen des Gepäcks, die lärmenden Fragen der Reisenden, und die ebenso lärmend erstatteten Antworten der Kondukteure, die gebieterischen Aufforderungen der Packträger, Platz zu machen, und das Hilferufen einiger sich ratlos in der Masse umhertreibenden Kinder und Frauen, die ihren Wagen und ihre Plätze suchten, gaben ein Getöse und das Bild einer Verwirrung, wie sie nur eine große Stadt bieten kann. Die Königsberger Postkutsche hielt in der Nähe ihrer anderen Schwestern, und der Offizier sowie das kleine Mädchen stiegen aus.

Der Kondukteur trat zu der Letzteren und rief ihr leise aber in gebieterischem Ton zu: »Mach, dass du zur Seite kommst, Kind, und lass dich nicht blicken!« Er begleitete diese Weisung mit einem Stoß, der gerade den kranken Arm der Kleinen traf und ihr einen leisen Schrei entlockte.

Der Offizier wandte sich und sagte, indem er einen verweisenden Blick auf den Wagenführer warf: »Sehen Sie sich vor, Sie haben dem Kind wehgetan.« Und zu ihr sich niederbückend, setzte er hinzu: »Wo hast du deinen Brief, gib ihn mir, ich will sehen, wohin er lautet, und Sorge tragen, dass man dich sicher dorthin bringt.«

Die Kleine suchte in dem Beutel, sie nahm alle darin befindlichen Sachen heraus, kehrte den Beutel um, aber der Brief fand sich nicht. »Ich habe ihn verloren!«, rief sie und brach in Tränen aus.

»Fort, aus dem Weg!«, schrie ein Packträger, dem eine dicke Dame, beladen mit einer Menge von Bündeln und Päckchen nachfolgte, die scheltend rief: »Das Betteln ist hier nicht erlaubt!« Zugleich schnellte sie den Beutel der Kleinen, der nebst der wenigen Wäsche, die er enthalten hatte, noch auf dem Straßenpflaster lag, mit dem Fuß fort.

»Komm«, sagte der Offizier, »folge mir in die Passagierstube. Es war recht unvorsichtig von dir, dass du deinen Brief verloren hast. Ich werde im Wagen danach suchen lassen.«

»Ach bitte, lieber Herr, Verlassen Sie mich nicht!«, schluchzte die Kleine und klammerte sich an den Mantel ihres Begleiters fest. Die Nachsuchung im Wagen wurde angestellt, allein nichts gefunden. Das Gedränge um die Wagen wurde immer stärker, und die Passagierstube war so angefüllt, dass nur mit Mühe ein Plätzchen auf einem der Wanddiwans für die Kleine aufgefunden werden konnte.

»Hier bleibe sitzen und verhalte dich ruhig«, sagte der Offizier. »Ich werde kommen und dich abholen, wenn ich erst wissen werde, wo ich mit dir hin soll.« Er entfernte sich.

Die Masse der Zuströmenden verlor sich ebenso plötzlich, wie sie gekommen war; die Stunde der Abfahrten machte die Poststube bald leer. Es waren nur noch einige Gäste geblieben, die einen späteren Wagen abwarteten. Die Tür des Zimmers wurde aufgerissen und mehrere junge Herren stürmten lärmend herein. Sie umschlossen den jungen Offizier, den sie begrüßten, und dessen Ankunft sie erwartet zu haben schienen.

»Vortrefflich, Bruderherz, dass du wieder da bist!«, rief der eine. »Hast du meinen alten Onkel in Küstrin gesehen? Ich hoffe, dass er endlich einmal ernst mit dem Sterben machen wird. Ich will verdammt sein, wenn ich noch länger auf die Erbschaft warte!«, bemerkte der andere.

»Wie geht es der kleinen Betty im grünen Esel?«, schrie ein Dritter.

»Ich habe für dich ein Billett für die Oper«, bemerkte der Vierte.

»Sollen wir nicht ein Gläschen Punsch trinken?«, fragte der Fünfte.

»Punsch! Am frühen Morgen!«, rief ein blasser junger Mann, der gegen die Morgenfrische in einer Menge von Überröcken steckte.

»Und weshalb nicht?«, bemerkte der Gefragte. »Man muss nur denken, dass wir eben vom Ball kommen, und dass es eigentlich noch gestern und nicht heute ist. Ein exzellenter Ball, Derburg! Eis und schöne Mädchen, Champagner und Austern, alles so gut, wie man sich’s wünschen kann.«

Der bestellte Punsch wurde gebracht, und die Gesellschaft nahm um den runden Tisch in der Passagierstube Platz, zum nicht geringen Verdruss der einzeln wartenden Reisenden, die noch einen kleinen Morgenschlummer zu halten gedachten.

Der Offizier der Postkutsche, den wir bei seinem Namen Graf Sejan Derburg, jüngster Leutnant bei einem Regiment Kürassiere, nennen wollen, zog den blassen jungen Herrn beiseite und flüsterte ihm zu: »Auf ein Wort, Sellheim.«

Der blasse Herr hatte trotz seiner Protestion ein Glas Punsch getrunken und fand demzufolge, dass ein Teil seiner Überröcke zu viel sei. Er knöpfte sich auf und zog einen Rock nach dem anderen ab, bis er endlich, da er mit den Röcken schon sehr dünnleibig gewesen war, jetzt ohne sie fast bis zu einer geometrischen Linie zusammengeschmälert erschien. Die letzte Hülle bestand in einem dünnen, kaum die Hüften bedeckenden, modischen Röckchen.

»Nun, was begehrst du?«, fragte dieser elegante dünnleibige Kavalier.

»Deine Tante«, sagte Graf Sejan leise, »ist ja Vorsteherin von einem – wie nennt man das Dings …«

»Frauenverein«, fiel der Dünnleibige ein.

»Ganz recht! Frauenverein. Ich habe dort ein armes Kind, das durch einen sonderbaren Zufall sich völlig verlassen findet, zu mir genommen; wenigstens für den Augenblick. Berede deine Tante, dass sie sich mit diesem Findling befasst.«

Der Referendarius warf einen Blick auf das Mädchen, das in der Ecke des Sofas eingeschlummert war, und sagte dann: »Hör, lieber Junge, das wird nicht gehen. Meine Tante hat eine wahre Aversion gegen alle Bettelkinder. Ich versichere dir, dass sie keinen Bettelbrief entgegennimmt, ohne vorher ihre Handschuhe angelegt zu haben.«

»Mir zu Liebe wirst du ihr jedoch den Vorschlag machen«, bat der Leutnant.

»Unmöglich das!«, entgegnete der Dünnleibige. »Ich kann mich unmöglich damit befassen.«

»Aber was soll ich denn mit dem Kind anfangen?«, rief der Leutnant und stampfte im Verdruss auf den Boden.

»Es tut mir herzlich leid, lieber Sejan«, entgegnete der Referendar. »Wenn es ein Bursche wäre, so würde ich ihn dir auf der Stelle abnehmen, denn ich kann bei meinen Pferden immer noch Stalljungen brauchen. Aber ein Mädchen – ich begreife auch gar nicht, wie du zu diesem Fund gelangt bist?«

»Das ist wahrlich zu weitläufig zu erzählen!«, rief der Leutnant unmutig und versank in Nachdenken. »Mein Himmel!« seufzte er endlich, »gibt es denn gar keine Anstalten in dieser großen Residenz?«

»Gewiss gibt es solche, doch da ich nie in Verlegenheit gekommen bin, Kinder unterbringen zu müssen, so kann ich dir keine passenden Institute der Art nennen«, sagte der Referendar mit einem boshaften Lächeln. »Überdies merke ich doch, dass es etwas kühl ist, ich muss einen meiner Röcke wieder anziehen!« Er rief den Kellner und fuhr mit dessen Hilfe in eine der abgelegten Hüllen.

»Noch eins!«, rief der Leutnant, »Du sagst natürlich niemandem etwas von dem Mädchen!«

»Kein Wort, verlass dich drauf! Bei all dem kommst du mir etwas sonderbar vor: Ein königlich preußischer Leutnant, der Bettelkinder feilbietet, ist eine noch nicht dagewesene romantische Figur. Kellner, ich werde auch noch den zweiten Rock anlegen. Es ist eigentlich verdammt kühl, und ich beklage dich, dass du die Nacht im Postwagen hast zubringen müssen. Adieu! Sehe ich dich nicht Morgen zu Mittag bei dem Prinzen von Elbenfeld?«

»Möglich!«, entgegnete Sejan zerstreut, seine Blicke auf die schlummernde Kleine gerichtet.

Die Gesellschaft zerstreute sich, um alle samt zu Bett zu gehen. Der Beschützer und die Beschützte blieben allein im Zimmer.

»Komm«, rief der Erstere endlich, nachdem er eine Weile im Zimmer auf- und abgegangen war, und ergriff die Hand des Mädchens. »Ich will dich zu Frau Sempel bringen. Sie muss Rat schaffen!«

»Werde ich dort endlich ins Bett kommen?«, fragte die Kleine.

»Ich hoffe es«, entgegnete der Offizier.

Ein Mietwagen fuhr vor und erhielt die Weisung, zu einem Haus vor dem Halleschen Tor zu fahren.